Tekke des Helveti Ordens - ewigeweisheit.de

Mein Besuch einer Sufi-Loge, verborgen im Herzen Istanbuls

Es ist nicht all zu lange her, da machte ich eine Reise mit dem Ziel in Verbindung zu treten mit verschiedenen Sufi-Orden in der alten Stadt Istanbul. Ich wohnte dort damals in Üsküdar, auf der anatolischen Seite. Nun wollte ich einmal an der spirituellen Zeremonie der Derwische des Halveti-Dscherrahi-Ordens teilnehmen, im europäischen Teil Istanbuls.

Sufis versammeln sich gewöhnlich in ihrer Tekke – einem Wort das abgeleitet ist vom persischen Namen »Âstâne«: Die Türschwelle. Eine Tekke (auch »Dergah« genannt) bildet das Zentrum wie auch einen Rückzugsort für die Mitglieder eines Derwisch-Ordens – eine Loge also, die sich vor der Öffentlichkeit in ihren Treffen zurückzieht, um an solchen Orten ihre Mitglieder nach bestimmten Vorgaben zu empfangen.

Solch eine Tekke der Sufis zu finden ist aber nicht ganz einfach. Zwar sind manche davon in Istanbuler Stadtplänen verzeichnet, doch nur selten weisen Hinweisschilder den Weg zu den eigentlichen Türen, die zu den Versammlungsräumen der Derwische führen.

Warum Geheim?

Da bereits im 12. Jahrhundert die ersten Sufi-Orden gegründet wurden ist es gut möglich, dass viele der darin entstandenen Regelungen für Öffentlichkeit und Geheimhaltung eine vernünftige Inspirationsquelle auch für die westlichen Bruderschaften bilden sollten, wie etwa die der europäischen Freimaurer. Denn beiden ist gemein, dass in ihren Logen Dinge erfahren werden, über die man nur mit entsprechend Erfahrenen (Eingeweihten) reden darf – ja doch eigentlich auch nur reden kann, da eine Erfahrung hauptsächlich direkt erlebt wird und weniger zu tun hat mit intellektuellem Verstehen.

Mystischer Sufi-Orden der Halveti-Bruderschaft

Vor einigen Jahren besuchte ich einen Berliner Sufi in seiner hauseigenen Bibliothek. Darin fand ich auch ein altes Foto von Muzaffer Ozak (1916-1985), dem Großscheich der Halveti-Dscherrahi-Bruderschaft. Er führte als Buchhändler über Jahre ein Antiquariat in Istanbul.

Einige Zeit später erhielt ich ausgerechnet von einer australischen Freundin Kontakt zu einem in Frankfurt am Main lebenden Mitglied eines anderen Zweiges der genannten Gemeinschaft: des Halveti-Uschaki-Ordens. Von ihm bekam ich die Empfehlung mich in den Istanbuler Fatih-Bezirk zu begeben, um dort mit oben genannter Bruderschaft in Kontakt zu treten. Unweit von Kapalı Çarşı, dem ältesten Bazar der Stadt, befände sich das erwähnte Antiquariat.

Nach einigem Fragen und Suchen fand ich einen kleinen Komplex von Buch- und Kunsthändlern, der sich unweit des Haupteingangs der Istanbuler Universität befindet. Ein echter Kultort, wie mir bereits nach kurzer Zeit klar war: An den Mauern hingen teils sehr alte, gerahmte Schwarzweißfotografien von lächelnden Hippie-ähnlichen, langhaarigen Männern mit langen Bärten und Mänteln, langen Kragen, Bildern von Blumen und mystischen Symbolen. Durch all die vielen kleinen Lädchen fragte ich mich weiter durch, bis ich schließlich das besagte Antiquariat ganz unauffällig gelegen in einer der Ecken des Komplexes fand, wo sich auf hohen Regalen Bücher stapelten.

Hier also sollte ich die Adresse erfragen, an der sich die Derwische des genannten Ordens treffen. Als ich die Buchhandlung betrat und mich einer der dort arbeitenden Antiquare bemerkte, verkroch er sich hinter einen riesigen Bücherstapel, um sich mit scheinbar Wichtigerem zu beschäftigen. Ein Glück, dass mich kurz darauf ein anderer, dort angestellter Mitarbeiter freundlich ansprach, ob er mir vielleicht helfen könnte. Kurz beschrieb ich ihm mein Anliegen, er schaute mir kurz tief in die Augen und schrieb mir schließlich die Adresse auf, nach der ich gesucht hatte. Ich sollte mich dafür an einem Montag in die Tekke der Dscherrahis begeben, die sich im Karagümrük-Viertel von Fatih befindet (»Karagümrük«: zu deutsch: »Schwarzer Brauch«).

Nur zu Besuch?

Gleich am darauf folgenden Montag begab ich mich zur besagten Sufi-Loge, wo ein besonderer Ritus kurz nach dem Abendgebet stattfinden sollte.

Als ich mit der Fähre spät nachmittags den Bosporus nach Europa überquerte, fuhr auf dem Boot auch ein Musiker mit, der tatsächlich den Sufis nahezustehen schien. Er nämlich saß dort zwischen den Passagieren und spielte eine traditionelle Rohrflöte: Die »Ney«, die wohl jeder kennt der etwas vertraut ist mit dem Sufi-Mystiker und Gründer der Bruderschaft der drehenden Mevlevi-Derwische: Dschallaedin Rumi. Gut möglich dass ich in Vorfreude auf meine spätere Begegnung eine gewisse selektive Wahrnehmung hatte. Doch der Zufall mit dem Ney-Spieler half mir, mein gutes Gefühl zu stärken. Rein äußerlich ähnelte der Künstler eher einem Rocker, als was da an melancholischen Melodien aus seinem Instrument zu hören war, was der Situation aber eine gewisse Natürlichkeit verlieh.

Auf der anderen Seite angekommen, begab ich mich vom Fährhafen im Bezirk von Eminönü zu dem nahe gelegenen »Goldenen Horn von Istanbul«, einem ungefähr sieben Kilometer langen Meeresarm unweit der Bosporus-Mündung ins Marmarameer. Etwa drei Kilometer von der Galata-Brücke entfernt, die die Istanbuler Bezirke Eminönü und Karaköy über das Goldene Horn hinüber verbindet, kommt man auch zur christlich-orthodoxen Georgs-Kathedrale: Der Hagia Yorgi. Sie bildet eines der spirituellen Zentren der christlich-orthodoxen Kirchen und ist Sitz des Patriarchen Bartholomäus (Oberhaupt der orthodoxen Christenheit) – ein besonderer Ort, an dem ich in den Jahren zuvor einmal einen sonntäglichen Gottesdienst besucht hatte.

Wie dem auch sei, dauerte es etwa eine Viertelstunde von dort aus den Hang von Karagümrük aufsteigend, bis ich schließlich zu der beschriebenen Loge der Derwische kam: Ein ganz beeindruckender Ort, alles aus Marmor wo man an den Wänden viele wunderschöne Kachelungen bewundern kann, in denen einem hohe gläserne Tore den Blick in die dort befindlichen Heiligengräber eröffnen, die golden ausgeschmückte islamische Segenssprüche in arabischer Schrift verzieren.

Wandkachelbilder im Vorhof der Tekke - ewigeweisheit.de

Wandkacheln im Vorhof der Tekke. Die drei Heiligen Städte im Islam: Mekka, Medina und Jerusalem.

Betreten der Loge

Vor mir verschwand da hinter einer ganz unscheinbaren Holztür ein Mann und ich wusste: Das ist auch mein Eingang.

Eingetreten zog ich wie alle anderen meine Schuhe aus und bewegte mich eine kleine Treppe hinunter, wo ich zu einem großem Pult kam. Dahinter empfing mich ein älterer Herr mit Turban, den ein langer, grüner Kaftan kleidete. Seine großen, leuchtenden Augen schauten mich fragend an, und ich erklärte ihm den Grund meines Besuchs. Er gewährte mir Einlass, wo gleich ein anderer der Brüder an meine Seite trat und mich auf dem Weg durch die vielen Räume der Tekke führte. Eine wirklich ganz ausgesprochen schön eingerichtete Begegnungsstätte, in deren Mitte sich ein runder Hauptraum befand, der die Moschee dieses von Außen gänzlich verborgenen Baus bildete. Der Derwisch wies mir dann einen Sitzplatz zu in einem quadratischen Raum, auf dessen Wänden eindrucksvolle große Kalligrafien zu sehen waren. Dort saß ich nun etwa vier bis fünf Schritte entfernt, einem roten, samtbezogenen Sessel gegenüber und wartete dort etwas ruhelos.

Im Kreise der Bruderschaft

Nun war es Zeit für das Abendgebet, um damit ja den neuen Tag zu begrüßen, denn in der religiösen Tradition der Juden und der Muslime beginnt der Tag nach Sonnenuntergang (arabisch: Maghreb, »Westen«). Man bat mich in den Moscheebereich, indem dann auch das Dhikr-Ritual stattfinden sollte.

Im Arabischen bezeichnet »Dhikr Allah« (manchmal auch »Zikr Allah« genannt) das Gedenken Gottes, das in Stille als »Dhikr des Herzens« und laut gesprochen oder gesungen als »Dhikr der Zunge« bezeichnet wird und womit sich die Sufis Allah vergegenwärtigen, um ihm sich damit zu nähern. Dhikr bildet die kontemplative Meditationsübung der Sufis, die bisweilen ekstatische Züge annehmen kann. Darin nämlich singt oder spricht man rhythmisch besondere heilige Verse wie auch verschiedene Namen des Allmächtigen. Für die Derwische ist es neben dem Pflichtgebet »Salaat« und dem formlosen Gebet »Dua« die dritte und ekstatisch-mystische Form der Hinwendung an Gott.

In der Vergangenheit hatte ich bereits viele Male an solchen kontemplativen Meditationen der Sufi-Derwische verschiedener Orden teilgenommen (in Berlin oder London). Diesmal sollte mich die Intensität des Dhikr der Halvetis aber nicht weniger beeindrucken.

Bevor die eigentlichen Ritualhandlungen begannen, erhoben sich die ungefähr 80 anwesenden Derwische, als ihr Pir (alter persischer Ehrentitel zur Bezeichnung eines spirituellen Meisters) am Eingang des hohen Raumes erschien. Er rief in die Gruppe zum Gruß »Asalamu Aleykum« (arabisch für »Und auf Euch der Frieden!«). Die Derwische vor ihm traten geschlossen links und rechts vor ihm zur Seite, so dass sich ein Gang bildete, während sie seinen Gruß erwiderten mit den Worten »Wa Aleykum As-Salam wa Rahmatu Illahi wa Barakatu« (arabisch für »Und auf euch sei Frieden und Gottes Erbarmen und sein Segen«). Auch weibliche Derwische waren anwesend. Das Oberhaupt des Ordens nun ging langsam zwischen den stehenden Brüdern zur Gebetsnische vor, um sich in ihrer Nähe niederzulassen und mit ihm all die Derwische, die sich, mehrere umschließende Kreise bildend, um ihn setzten (einschließlich mir selbst), um kurz darauf ein lang anhaltendes »Hu« zu brummen, was auf meiner Haut einen Gänsehautschauer auslöste. Das heilige Pronomen »Hu«, das meist gemeinsam mit dem Namen Allah gesprochen wird, deutet auf die Einzigartigkeit des Allmächtigen hin, wie etwa mit »Allah Hu«, als »Gott allein« oder »Gott selbst«, so dass es, nur als die Silbe »Hu« geäußert, gleichsam das innerste Wesen des Göttlichen ansprechen soll.

Als wir uns in dieser Zeremonie durch die verschiedenen Phasen von Gesang und Rezitations-Formel bewegten, hatte ich an einer besonderen Stelle ein weiteres beindruckendes Erlebnis: Da blickte ich um mich und sah, wie aus den singenden Derwischen, die da mit geschlossenen Augen, saßen und im Rhythmus ganz leicht ihre Oberkörper bewegten, scheinbar so etwas wie Teile ihrer Seelen aufstiegen, die gemeinsam über unseren Häuptern zur einer magischen Sphäre zusammenfanden. Was ich da »sah«, waren jedoch weniger visuelle Erscheinungen als eher das mystische Erleben einer spirituellen Realität, die ich meinem Empfinden nach mit allen Anwesenden teilte. Unsere Ego-Partikel schienen sich wie von einem Moment zum anderen hin von all unseren alltäglichen Wünschen, Sorgen und Ärgernissen zu lösen und sich allein auf einen unsichtbaren, aber dennoch real wirkenden Kraftpol im Zentrum der Gemeinschaft zu konzentrieren – doch eben nicht wirklich im Außen, als eher in einem »Gemeinsamen Innern«.

Wie lange diese Zeremonie lief, kann ich nicht mehr genau sagen, doch es war vielleicht eine halbe Stunde in der ich ganz zufrieden ein Gefühl vollkommener Zeitlosigkeit empfand, was einher ging mit dem Erleben eines als vollendet gesund empfundenen Hier und Jetzt.

Gemeinsame Speise

Als ich mich vor einigen Jahren zum ersten Mal beschäftigte mit dem Werk der deutschen Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922-2003), sprach sie darin unter anderem auch über die wichtige Rolle der Austeilung von Speisen bei den Begegnungen der Sufis, als von zentraler Bedeutung. Genau diese Erfahrung habe ich auch immer wieder gemacht, wie auch an diesem Abend. Bei den Halvetis setzten wir uns da im Kreis um einen Tisch und bedeckten unsere Beine und Füße mit einem darunter liegenden Tuch. Man brachte dann das Essen in einer großen Schale, aus der dann alle, die um den Tisch saßen, gemeinsam aßen.

Als ich nach dem Essen mit einem der Anwesenden ins Gespräch kam, erklärte er mir seine äußeren Gründe, wieso er sich immer wieder in den Kreis seiner Bruderschaft begab. Dort nämlich konnte er sich in diesem Rahmen mit Menschen unterhalten, denen er in seinem alltäglichen Leben niemals begegnen würde. Unter den anwesenden Sufis waren nämlich sowohl Ärzte wie auch Krankenhelfer, Grundschullehrer, Universitätsprofessoren, Schumacher, Kleiderverkäufer, Künstler, Handwerker, Hilfsarbeiter, Ingenieure und viele andere. Der junge Mann mit seinen strahlenden Augen meinte schließlich:

Unsere beruflichen Tätigkeiten sind vielleicht unterschiedlich, doch in unseren Herzen waren wir schon immer gleich. Da funkelt ein heiliges Lebenslicht, das wir alle gleichermaßen von Allah vererbt bekamen, mit allen anderen Menschen teilen und das uns mit ihnen verbindet.

Wir alle

Der Jahreszeit entsprechend war es später bereits dunkel, als ich mich durch die bunt beleuchteten Gassen von Karagümrük zurück auf den Weg zum Fährhafen begab. Die vielen Menschen, die da überall in ihren Werkstätten arbeiteten, vielleicht jemandem Lebensmittel verkauften oder einfach im Kreis guter Freunde ein Glas Tee tranken: Alle hatten, wie eben dargestellt, ganz sicher ihre besondere Expertise, doch gleichzeitig auch all das, was uns im Leben Freude oder aber Probleme bereitet.

Sicherlich dabei ist das Bewusstsein dafür, dass wir unser Leben verbringen in emotionalen und vielleicht auch körperlichen Berg- und Talfahrten, sowohl eine Quelle der Inspiration, doch bildet sicher auch einen wichtigen Ausgangspunkt, von wo aus wir immer wieder zu unserem eigentlichen Lebensweg zurückfinden um in unsere Mitte zu kommen, ganz gleich was uns auf diesem Weg widerfahren ist oder darauf noch auf uns wartet.

 

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