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Das Schicksal der Seelen im Jenseits

Platons Hauptwerk »Der Staat« schließt mit einem recht ungewöhnlichen Diskurs. Es geht da um das Leben der Seelen im Kosmos nach dem Tod. Über viele Jahrhunderte hinweg, sollte die darin beschriebene, außergewöhnliche Fabel das religiöse und philosophische Denken im Westen beeinflussen.

Es ist ein Dialog des Philosophen Sokrates mit seinem Schüler Glaukon, einem älteren Bruder des Platon. In dieser beeindruckenden Erzählung erfahren wir von einem Mann namens »Er« (griechischer Genitiv von »Heros«, der Held), der anscheinend in einer Schlacht zu Tode kommt. Als man die Leichen der Gefallenen jedoch einsammelt, war die des Er noch nicht verwest und nach zwei Tagen erstand er, wie durch ein Wunder, zu neuem Leben auf. Hierauf erzählte er jenen die ihn trafen, von seiner zwölftägig erlebten Reise durch das Jenseits.

Zwischen Himmel und Erde

Worüber Er da sprach, war seine zwölftägige Vision im Jenseits – ja also die seiner Seele –, wo er in seinem Astralleib durch die himmlischen Sphären reiste, auf dem Weg zu eben dieser, seiner Wiedergeburt. Und das hatte einen Grund. Er nämlich erfuhr so, wofür die Menschen, die ein rechtschaffenes Leben führten, belohnt und jene schlecht oder unmoralisch handelnden, nach dem Tode bestraft wurden:

Nachdem seine Seele aus ihm gefahren, sei er mit vielen anderen gewandelt, und sie seien an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei nahe an einander stoßende Öffnungen gewesen seien, und am Himmel gleichfalls oberhalb zwei andere ihnen gegenüber.

– Aus dem 10. Buch der Politeia, »Der Staat«

Zwischen diesen Öffnungen saßen himmlische Richter, die den Seelen befahlen diesem Weg zu folgen: Die guten Seelen führte man von dort gen Himmel, jene aber an denen Sünde und Frevel haftete, sie kamen unter die Erde, wo über sie erneut gerichtet wurde.

Als sich nun aber Er den Richtern näherte, sagte man ihm, er solle innehalten, um diesem und weiteren sagenhaften Ereignissen beizuwohnen, damit er dereinst seinen Mitmenschen über diese Erfahrungen berichte.

So kam es also, dass sich vor seinem Angesicht ganz sonderbare Dinge abspielten. Die geläuterten Seelen reiner Gemüter kamen da aus der einen Himmelsöffnung herab und erzählten ihm von der paradiesischen Pracht derer sie ansichtig werden durften. Sie alle ließen ihn Anteil haben an wahrhaft ehrfurchtgebietenden Vorahnungen.

Als er aber jene sah, die da ganz besudelt aus irdischem Untergrund hervorkrochen, erschrak er: Sie waren vollkommen erschöpft, verstört und weinten jämmerlich, während sie zitternd verlauten ließen von dem Schrecken, der ihnen dort widerfahren war. Jede von ihnen, so erfuhr Er, hatte einen zehnfachen Preis dafür zu bezahlen, was sie an bösen Taten in ihrem Menschenkörper der Vergessenheit zu Lebzeiten begangen hatten. Andere davon sogar waren dazu verdammt, in jenen höllischen Tiefe des Untergrunds zurückzubleiben. Zu ihnen zählten alle Mörder, doch auch die schrecklichen Tyrannen und auch andere Kriminelle die zu Lebzeiten Menschen schlimmes Leid angetan hatten.

Er und jene anderen dort angekommenen Seelen aber waren an diesem sagenhaften Ort über sieben Tage und mussten, wie man im 10. Buch der platonischen Politeia, »Der Staat«, weiterliest

sich an dem achten (Tag) aufmachen und von hier an weiterwandern, und da wären sie dann am vierten Tage in eine Region gekommen, wo man von oben herab einen durch den ganzen Himmelsraum über die Erde hin ausgebreiteten geraden Lichtstrom gesehen habe, wie eine Säule, ganz dem Regenbogen vergleichbar, aber heller und reiner.

Diese Säule hieß »Spindel der Notwendigkeit«, in deren Nähe sich mehrere Frauen aufhielten: Annanke – die Personifizierung des blinden Zufalls im Leben, jene oberste Macht, der selbst die Götter gehorchen –, sowie ihre drei Töchter Lachesis, Klotho und Atropos und die sagenhaften Sirenen (deren Name anscheinend sinnverwandt ist mit dem Namen des Fixsterns Sirius, der im Alten Ägypten zwar heilig, den Griechen aber anscheinend als unheilbringend galt).

Die Seelen – mit Ausnahme der des Er – ordnete sie reihenweise und aus dem Schoß der Schicksalsgöttin Lachesis, nahm einer Lose, auf denen viele verschiedene Grundrisse für Lebensweisen verzeichnet standen. Von diesen Losen gab es mehr, als Seelen anwesend waren. Jede von ihnen erhielt davon, ihrer Reihenfolge nach, also ein ganz einmaliges Los. Daraufhin bat man sie den Grad ihrer Tugend für ihre nächste Inkarnation auszuwählen.
Ihre Wahl brachte dabei einen vollkommenen Wechsel der Lebensverhältnisse der folgenden Inkarnation mit sich, im Vergleich zu ihrem früheren Leben.

Als Er da sprach, erinnerte er sich dabei an die ersten Seelen, die sich für ein neues Leben entschieden hatte. Darunter war ein Mann, der weder die Schrecken des Untergrunds kannte, noch irgendwelche Mühsal, doch für seine Tugenden im Himmel reichlich belohnt worden war. Der entschied sich mal eben schnell dafür ein mächtiger Diktator zu werden, ohne zu realisieren, welche Bedeutung das für seine Existenz, im für ihn darauf folgenden Jenseits für Konsequenzen hatte. Leichtsinnig wählte er somit die falsche Lebensform. Denn bei weiterer Betrachtung stellte er plötzlich fest, dass er unter anderem zu Grausamkeiten bestimmt war, wie dass er seine eigenen Kinder fressen werde. So vernommen erkannte diese Seele dann ratlos, dass es schon zu spät war noch umzukehren.

Die Seelen, die dagegen in der Unterwelt bestraft wurden, waren mit der Mühsal vertraut und wählten daher nicht übereilt, eine bessere Inkarnation. Viele bevorzugten da ein Leben, das sich von ihren früheren Erfahrungen vollkommen unterschied. Tiere wählten Menschenleben, während Menschen oft das scheinbar einfachere Leben von Tieren wählten.

Nachdem diese Wahl nun erfolgt war, beobachtete Er, wie jeder Seele ein Schutzgeist zugewiesen wurde, der ihr durchs Leben helfen sollte. Sie passierten unterhalb des Thrones der Annanke und reisten hernach weiter in eine Ebene, wo die Lethe rauschte – der Fluss des Vergessens.

Notwendig müssten nun freilich alle ein gewisses Maß von diesem Wasser (der Lethe) trinken; die aber durch Vernunft sich nicht wahren ließen, tränken über jenes Maß, und wer immerfort davon tränke, der vergesse alles.

– Aus dem 10. Buch der Politeia, »Der Staat«

Während sie tranken, konnte sich ihre Seele also an nichts mehr erinnern, was ihr da im jenseitigen Zwischenreich widerfahren war, noch an das, was sie in früherem Leben war. All das erlebte Er jedoch nicht selbst, sondern schaute wieder nur dabei zu, wie sich all das vor seiner Seele abspielte. Des Nachts im Schlaf wurde dann jede Seele zu ihrer Wiedergeburt in verschiedene Richtungen gehoben, um ihre Reise abzuschließen.

Als aber Er, das heißt also seine Seele, in seinen Körper zurückkehrte, da öffnete er die Augen und fand sich des Morgens, zusammen mit den anderen verstorbenen Leibern, auf einem Scheiterhaufen. Er aber lebte, denn er sollte sich an seine Reise, die ihn durch das Leben nach dem Tod führte, erinnern, um das dort Erfahrene mit den lebenden Menschen zu teilen.

Die Bedeutung des Beschriebenen

In seinem Dialog mit Glaukon lehrte ihm Sokrates, dass die Seele unsterblich sein muss und nicht zerstört werden kann. Was Glaukon daraus vor allen Dingen erkannte, war, dass die Entscheidungen, die er im Leben traf, und der Charakter, den er um seine inkarnierte Seele entwickelte, für diese, nach seinem Tod, Konsequenzen haben müsse. Was Sokrates nämlich mit seinem »Mythos des Er« beschreiben wollte, war, wie die wahren Charaktere der Seelenträger, nach dem Tod des Körpers, an die Oberfläche kommen, so als wären sie plötzlich aus einer verborgenen Lebensmitschrift aufgetaucht und verwandelt worden, in tiefgreifende Gerichtsurteile, die man in einem Tribunal der Seele vor göttlichen Richtern fällte (man vergleiche etwa die Rolle des Schreibergottes Thoth des ägyptischen Mythos vom Seelen-Gericht, der Notiz führte, über jede Handlung, jedes Gefühl und jeden Gedanken der Seele während ihrer Inkarnation).

Jene Seelen heuchlerischer Frömmler aber, sowie derjenigen, die ein habgieriges oder materialistisch geprägtes Leben führten, wurden dort zwar gebeten das Los eines anderen Lebens zu wählen, entschieden sich aber dennoch für die Inkarnation in das Leben eines Tyrannen.

Andere, die in ihrem früheren Leben ein glückliches, aber mittelmäßiges Leben geführt hatten, wählten meist dasselbe für ihr zukünftiges Leben. Nicht aber aus Weisheit, sondern schlicht ihrer Gewohnheit nach.

Alle Seelen aber, die man während ihrer letzten Inkarnation mit unendlicher Ungerechtigkeit behandelt hatte, zweifelten an der Möglichkeit eines guten menschlichen Lebens. In ihrer Resignation wählten sie dann als Tiere wiedergeboren zu werden.

Das Leben des Philosophen aber ermöglicht es gute Entscheidungen zu treffen, wenn es, so Sokrates, zu dieser Wahl einer neuen Inkarnation kommt. Solch »philosophisches Leben« nämlich identifiziert ein Lebensgefühl, das geprägt ist durch erfahrene Welterkenntnis. Während hingegen Erfolg, Ruhm und Macht zwar vorübergehende himmlische Belohnungen oder hingegen höllische Strafen bringen, wirken sich philosophische Tugenden immer zum eigenen Vorteil aus.

Die Spindel der Notwendigkeit

Schema von der ptolemäischen Unterteilung des Himmels - ewigeweisheit.de Das Schema der Himmelssphären nach Petrus Apianus (1539):
11. Feuerhimmel, Wohnstatt Gottes und aller Auserwählten
10. Himmel der ersten Ursache
9. Kristallhimmel
8. Das Himmelsfirmament
7. Himmel Saturns
6. Himmel Jupiters
5. Himmel des Mars
4. Himmel der Sonne
3. Himmel der Venus
2. Himmel Merkurs
1. Himmel des Mondes
Im Zentrum die Erde.

Richten wir unseren Blick nun aber noch einmal auf den weiteren Verlauf des Dialoges zwischen Sokrates und Glaukon. Da war ja die Rede von einem Lichtstrom, der sich über die Erde hin ausbreitet. Wahrscheinlich wurde damit angespielt auf ein aus dem Feuerkern des Erdinnern aufsteigendes Strahlen. Mitten in diesem Licht hatte Er beobachtet

wie die äußersten Enden der Himmelsbänder am Himmel angebracht seien; denn nichts anderes als jener Lichtstreif sei das Land des Himmelsgewölbes, wie etwa die verbindenden Querbänke an den Dreiruderern, und halte so den ganzen Himmelskreis zusammen; an jenen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit angebracht, durch welche alle möglichen Sphären bewegt würden; daran seien nun Stange und Haken aus Stahl, der Wirtel aber (d. h. der Quirl, der alles in seiner Drehbewegung hält) habe aus einer Mischung aus Stahl und anderen Metallarten bestanden.

– Aus dem 10. Buch der Politeia, »Der Staat«

Jene »Spindel der Notwendigkeit«, von der oben bereits die Rede war, und die sich auch als kosmische Lichtsäule betrachten ließe, wird im Schoße der Göttin Annake, von ihren drei Töchtern und den Sirenen, in kreisförmiger Bewegung gehalten.

eine jede auf einem Throne, nämlich die Töchter der Notwendigkeit, die Parzen (griechisch »Moiren«), in weißen Gewändern und mit Kränzen auf dem Haupte: Lachesis, Klotho und Atropos, und sängen zu der Harmonie der Sirenen; Lachesis besänge die Vergangenheit, Klotho die Gegenwart, Atropos die Zukunft. Und Klotho berühre von Zeit zu Zeit mit ihrer rechten Hand den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos ebenso die inneren Umkreise mit der linken, Lachesis aber berühre abwechselnd die inneren und äußeren mit beiden Händen.

– Aus dem 10. Buch der Politeia, »Der Staat«

Hiermit, und im weiteren Verlauf »Des Staats«, lesen wir wie Sokrates dem Glaukon den Umlauf der Himmelskörper um die Erde erklärt, wo also im Zentrum sich unentwegt die Spindel der Notwendigkeit dreht.

Auf dem Wirbel dieser »Himmelsspindel« aber befinden sich acht »Umlaufbahnen«, von denen jede einen perfekten Kreis bildet. Platon beschreibt Sokates’ Schilderungen dazu, als eine bestimmte Farbe tragend, was sich jedoch als die Himmelsbahnen der Fixsterne und der sieben klassischen Planeten identifizieren lässt:

  1. In der Farbe des Regenbogens erscheinen da die Sterne des Tierkreises,
  2. die Umlaufbahn des Saturn ist gelblich,
  3. ganz weiß die des Jupiter,
  4. rötlich die Umlaufbahn des Mars,
  5. gelblicher die des Merkur,
  6. ein leichteres Weiß trägt jene der Venus,
  7. am glänzendsten aber ist die der Sonne, und
  8. die silbrige Umlaufbahn des Mondes beleuchtet die Sonne.

In dieser Topographie des Weltalls, beschreibt Platon damit also quasi das System, über das die Seelen in eine weitere irdische Inkarnation zurückkehren, da diese ja eben an der Spindel der Notwendigkeit, in ein weiteres Menschenleben eintreten. Die Spindel aber gleicht einem ganzen Strom von Seelen, die die Annake aus ihrem Schoß in ein neues Leben, in den Tierkreis entlässt. Über die »Stufenleiter« der sieben klassischen Himmelskörper, kommen diese Seelen von dort zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Erde, einen neuen Körper annehmend.

Was jenen Seelen aber widerfährt, die, wie Sokrates meinte, aus einem philosophischen Leben dorthin zurückkehrten, könnte einer Errettung gleichen:

wir werden dann glücklich über den Fluss Lethe setzen und uns an unserer Seele nicht besudeln. Wenn wir daher meiner Meinung folgen, so wollen wir daran festhalten, dass die Seele unsterblich ist und alle möglichen Übel überlebt und alles Gute bekommen könne, wollen immer den Weg nach oben im Auge haben, wollen mit vernünftiger Einsicht auf allen unseren Wegen Gerechtigkeit üben. Und so werden wir mit uns selbst und den Göttern lieb sein, sowohl in diesem jetzigen Leben als auch dann, wenn wir den Kampfpreis dafür davontragen, und ihn wie die Sieger ringsum einsammeln, und werden sowohl hienieden als auch in der von uns beschriebenen tausendjährigen Wanderung glücklich sein.

– Schluss des 10. Buch der Politeia, »Der Staat«

Werden sie danach überhaupt je wiederkehren müssen?

 

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