Der Atem und die Lebenskraft: Prana – Qi – Od

Dieses Kapitel ist der Lebenskraft gewidmet. Dabei möchte ich einige der verschiedenen Begriffe für diese Kraft benennen, auf die besondere Verbindung von Lebenskraft und Atem eingehen und zudem die Wirkung und das Wesen dieser Kraft ansprechen. Des Weiteren soll auch die Frage danach nicht unbeachtet bleiben, ob diese Lebenskraft überhaupt tatsächlich existiert.

Wird der Atem aus einer modernen, naturwissenschaftlichen Perspektive heraus betrachtet, so offenbart er sich als ein Austausch von Gasen. Dies ist sicherlich richtig und auch interessant, aber da die meisten Leserinnen und Leser über diese Prozesse wohl ausreichend informiert sein dürften, verzichte ich darauf, diese Vorgänge genauer zu beleuchten.

Wichtig aber ist nun das Folgende: Die Naturwissenschaften arbeiten mit ganz bestimmten Methoden und kommen dadurch zu bestimmten Ergebnissen. Andere Künste und Wissenschaften können jedoch zu anderen Ergebnissen gelangen, indem sie andere Wege beschreiten. Das Wort ‘Methode’ nämlich kommt aus dem Alt-Griechischen von ἡ ὁδός (= der Weg) und der Präposition μετά (= mit/mittels/gemäß) und bezeichnet einen bestimmten Weg, eine feste Herangehensweise, gemäß welcher verfahren wird. Die Ergebnisse, welche aus den verschiedenen Herangehensweisen resultieren, können einander somit ergänzen und müssen nicht als Widersprüche aufgefasst werden.

Ebenso verhält es sich in Bezug auf den Atem. Verschiedene Mysterientraditionen aus den unterschiedlichen Kulturen der Welt sehen noch etwas anderes im Atem als den bloßen Austausch von Gasen. Etwas Unwägbares, bislang Unmessbares, so behaupten diese Traditionen, liege der Atmung zugrunde: Die Lebenskraft. Im fernen Asien heißt diese üblicherweise Qi, im Sanskrit und somit im Yoga spricht man vom Prana und in den westlichen Mysterienschulen trägt sie zumeist den Namen Od. Diese Lebenskraft – Od, Prana, Qi – so heißt es, liege allen Lebensäußerungen zugrunde.

Ying Yang - ewigeweisheit.de

Ying und Yang als Symbol für das Qi im Daoismus, welches beide Polaritäten in sich vereint (cc).

Das Prana – ich verwende die Ausdrücke im Folgenden synonym – bildet das Zwischenglied zwischen Geist und Materie. Es ermöglicht die gegenseitige Wechselwirkung und somit alles, was der Mensch als Leben bezeichnet. Es lässt sich durch die verschiedensten praktische Übungen kontrollieren, ansammeln und ausströmen und bildet das Medium für die unterschiedlichsten spirituellen und magischen Praktiken: Durch das Prana können Menschen heilen (auch das Reiki beruht in seiner Wirkung auf dem Prana), besondere Bewusstseinszustände erlangen, die ungewöhnlichsten körperlichen Leistungen vollbringen (besonders eindrucksvoll im Qi Gong und Kung Fu), Energien z.B. von der Sonne, dem Mond oder der Natur aufnehmen und magische Phänomene bewirken.

Das Thema Lebenskraft hat gewiss eine eigene, umfassende Untersuchung verdient, doch in diesem Artikel möchte ich es bei dem Gedanken belassen, dass es überhaupt eine Lebenskraft gibt und dass der Atem ein besonderes Medium darstellt, um mit dieser Kraft in Kontakt zu treten und zu interagieren. Eine Frage allerdings soll noch behandelt werden: Gibt es diese Lebenskraft, Qi, Prana, Od, denn tatsächlich oder handelt es sich dabei doch eher um ein Gespinst von spirituellen Romantikern und verqueren Esoterikern?

Nun, beantworten möchte ich diese sich nicht ganz einfache Frage durch eine persönliche Anekdote: Gegen Ende meiner Schulzeit wohnte ich in München. Damals übte ich mich über etwa vier Jahre im Shaolin Kung Fu (Wushu) an der WuYuan Schule bei Meister Sun Jianguo. Stets war ich sehr beeindruckt von den körperlichen Fähigkeiten, der Schnelligkeit, der Gewandtheit und der Aufmerksamkeit meines Meisters. Zur gleichen Zeit absolvierte ich gerade mein Abitur am naturwissenschaftlichen Zweig eines Gymnasiums im Münchner Landkreis.

Nun kam es gelegentlich vor, dass der Meister vom Qi sprach, welches man fließen lassen könne und welches für die richtigen Bewegungen wichtig sei. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich mich damals innerlich fragte: “Vom Qi habe ich niemals etwas in der Schule gehört, weder in Biologie noch in Physik oder Chemie. Was soll dieses Qi also sein?” Für mich ließ dieser Umstand nur die zwei folgenden Schlüsse zu: Entweder ist diese Kraft den Naturwissenschaften und meinen Lehrern nicht bekannt, oder der Meister, den ich, wie bereits gesagt, in vielerlei Hinsicht für seine praktischen Fähigkeiten bewunderte, dieser Mann – mit Verlaub – glaubt wohl an Märchen, was dieses Qi betrifft. Und so traurig es auch klingen mag, so nachvollziehbar ist es irgendwie: Damals hielt ich die zweite Variante für die deutlich wahrscheinlichere Antwort und fand mich damit ab, dass das sogenannte Qi wohl eher ein chinesisches Märchen sei und für meine praktische Übung nicht relevant…

Was möchte ich mit dieser Geschichte sagen? Zum einen, dass der westliche, rationale Mensch häufig ein sehr großes Vertrauen in die alleinige Wahrheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis legt. Dies grenzt zuweilen an einen Dogmatismus, der genau genommen alles andere als rational ist: Der unbegründete Glaube an dasjenige Weltbild, in welchem ich aufgewachsen bin. Zum anderen, dass sich die Frage nach der tatsächlichen Existenz der Lebenskraft zumindest bislang nur auf eine subjektive, empirische und praktische Weise ergründen lässt – durch eigene Versuche, Forschungen und Erfahrungen.

Viele Jahre später kam ich mit Yoga und westlicher Magie in Berührung. Ich experimentierte selbst mit Atemübungen, Pranayama und anderen Techniken, um ‘das Qi fließen zu lassen’. Irgendwann gehörte es für mich fast schon zu den Selbstverständlichkeiten, dass ich spürte, wie das Qi fließt. Und heute bin ich persönlich von dessen Existenz genauso überzeugt, wie von der Existenz meines eigenen Herzschlags. Aber die Leserinnen und Leser dieses Artikels werden es auch nicht unbedingt glauben müssen oder können, nur weil ich von meiner persönlichen Erfahrung berichte. Die eigene Erfahrung ist unverzichtbar – und dies gilt wohl auch für alle anderen Bereiche der Magie, der Mystik und der Spiritualität.

Der Quantenphysiker Werner Heisenberg erwähnte einst die interessante und sinnvolle Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit (vgl.: Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München: 1988, S. 23): Realität, von der lateinischen res (die Sache) herkommend, umfasst für ihn die wahrnehmbaren Gegenstände, wie etwa einen Stuhl oder einen Tisch. Zur Wirklichkeit wiederum gehört für ihn alles, was eine Wirkung hat. So z.B. die Elektronen, welche dem Menschen zwar nicht als Sache entgegentreten, deren Wirkung und Wirklichkeit sich allerdings während der Lektüre dieses Textes auf einem elektronischen Bildschirm schwer verleugnen lässt.

Das Od ist eine Wirklichkeit, auch wenn es nicht Teil der Realität ist. Es ist keine sinnlich wahrnehmbare Sache, aber wer sich in der Praxis damit auseinandersetzt, der wird früher oder später kaum verneinen können, dass es spürbar auf ihn wirkt. Wer die Lebenskraft erkennen will, der muss sich praktisch mit ihr beschäftigen. Da hilft leider kein Bücherlesen… Einige sehr schöne und empfehlenswerte Gedanken zum Verhältnis von Bücherwissen und erlerntem/erfahrenen Wissen finden sich übrigens auch im platonischen Mythos von der Erfindung der Schrift (Platon: Phaidros 274e1 – 275b2).

Vielleicht hat die oder der eine oder andere nun bereits Lust bekommen selbst einige Experimente mit Atemübungen zu versuchen. Dies ist natürlich sehr zu begrüßen. An dieser Stelle ist allerdings der folgende Hinweis angebracht und unbedingt zu beachten: Atemübungen sind aus verschiedenen Gründen durchaus nicht ungefährlich. Wer sich also an die Praxis heranwagen möchte, dem sei hiermit wärmstens empfohlen, sich zuvor mindestens einmal gründlich zu informieren und nach Möglichkeit gerade am Anfang unter der Anleitung und Aufsicht eines erfahrenen Lehrers zu praktizieren! Ein empfehlenswertes Buch zur Vertiefung dieser Thematik ist: Licht auf Pranayama von B.K.S. Iyengar.

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