Eine Nacht mit Aphrodite – im Reich wilder Ekstase?

Wer sich mit der Liebesgöttin Aphrodite befasst, der griechischen Venus, betritt ein Territorium voller Widersprüche. Ihre sumerische Vorfahrin Inanna etwa war Göttin der Liebe und des Krieges. Im Herrschaftsgebiet jener aus dem Meerschaum Geborenen, finden sich Seite an Seite Licht und Dunkelheit, Gutes und Böses.

Aphrodite vereinigte in ihrem Wesen Urbilder des Weiblichen: sie war Jungfrau und heilige Hure, grauenvolle Männerfresserin und fürsorgliche Mutter zugleich. Besonders zu jenem Mutterarchetyp, meinen manche Psychologen, dränge den Mann eine verborgene Sehnsucht, die aus den Tiefen seines Unbewussten aufsteigt. Es ist eine latente Hoffnung die sein Handeln in der Welt bestimmt und dem unbewussten Wunsch folgt, in den finsteren, doch warmen und pflegenden Schoß seiner Gebärerin zurückzukehren, in seine ursprüngliche Heimat.

Aphrodite steht also ebenso für die archetypische Liebe mütterlicher Obhut, wie auch für die jungfräuliche Lüsternheit. Ein Mann aber will mit dem ihm wohl heiligsten seiner Körperteile, wenn auch nur spickend, potentiell den Ort der Geborgenheit erkunden, der dem ähneln könnte, was ihm durch seine Geburt in die Welt leider verloren ging.

Mit solchen Annahmen natürlich, bewegen wir uns mitten in die Gefilde Freudscher Tiefenpsychologie. Gewiss aber will das Gesagte etwas unterstellen. Wie es auch Sigmund Freud (1856-1939) zu wissen glaubte, versucht der von seinen Trieben gesteuerte Mensch, nur alles Erdenkliche auszukosten, um sein Leben wieder mit seinem Ursprung in Verkehr zu bringen. Denn dieses urtümlichste Empfinden, täuscht ihn über die Nötigung hinweg, sich nur als Teil einer zerbrochenen Einheit empfinden zu müssen.

Freud aber erntete für seine Triebtheorie heftige Kritik, sprach er doch öffentlich aus, was ganz und gar tabu war: Störungen menschlichen Geschlechtslebens sollten die Ursache für Geisteskrankheiten sein. Womöglich aber ist daran etwas Wahres, wenn wir den Eros des Menschen, im Kontext gegenwärtigen Sexualverhaltens anschauen – gilt das 20. Jahrhundert doch als das Jahrhundert der sexuellen Revolutionen.

In der griechischen Antike war dagegen Erotik ein zentrales Element der Volksfrömmigkeit. Nur zu Ehren der Liebesgöttinnen und ihrer heiligen Gefährten, hielt man imposante Gedenkfeiern ab, die teils aber wahnhafte, dramatische Züge annehmen konnten. In der indischen Tempelanlage von Khajuraho, verewigten Steinmetze diese sakrale Erotik sogar als Felsskulpturen.

Kosten von der verbotenen Frucht

Es wäre also unangebracht, sich nur auf die psychologischen Konzepte der Freudianer versteifen zu wollen. Zwar sind die Themen Sinnlichkeit und Spiritualität auch auf viel höherer Ebene angesiedelt, es ist jedoch nicht zu leugnen, dass sie doch zusammengehören könnten. Wenn wir darum im Folgenden von einem spirituellen Konzept sprechen, dass das Wesen einer alten Göttin der Liebe skizzieren will, scheinen zwei Dinge sehr nah beieinander zu liegen: der Wunsch nach und das Ausüben von körperlicher Liebe, sowie alles nach dem höher Geistigen Ausgerichtete. Nicht zufällig spielten sexualmagische Praktiken eine bedeutende Rolle auch in antiken Geheimkulten. Man denke etwa an das alte Beltane-Fest, die Walpurgisnacht, die in Goethe’s Faust aus der menschlichen Sexualität ein schwergewichtiges Thema macht.

Faust:
Doch droben möcht ich lieber sein! (auf dem Gipfel des Blocksbergs)
Schon seh ich Glut und Wirbelrauch.
Dort strömt die Menge zu dem Bösen;
Da muss sich manches Rätsel lösen.

Mephistopheles:
Doch manches Rätsel knüpft sich auch.
Lass du die große Welt nur sausen,
Wir wollen hier im stillen hausen.
Es ist doch lange hergebracht,
Dass in der großen Welt man kleine Welten macht.
Da seh ich junge Hexchen, nackt und bloß,
Und alte, die sich klug verhüllen.
Seid freundlich, nur um meinetwillen;
Die Müh ist klein, der Spaß ist groß.
Ich höre was von Instrumenten tönen!
Verflucht Geschnarr! Man muß sich dran gewöhnen.
Komm mit! Komm mit! Es kann nicht anders sein,
Ich tret heran und führe dich herein,
Und ich verbinde dich aufs neue.
[…]

Aus Goethe Faust I, “Walpurgisnacht”

Böses, Versuchung, Sünde und Erkenntnis scheinen konsequent auf etwas hinzudeuten, das sich eigentlich überhaupt nicht von einander trennen lässt. Denn durch was als eben das Böse, wird ein Mensch gezwungen sein Leben zum Guten zu ändern? Genau darum schrieb Goethe als Antwort auf Faust’s Frage, wer der Teufel denn nun sei:

Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Aus Goethe Faust I, “Studierzimmer”

Sicher knüpft sich ein Mysterium an diese Aussage, doch die Gleichung scheint einfach zu sein: Wer nur das Eine will, wird das Andere nicht vermeiden können. Ein erzwungenes Gebot verführt gewiss dazu es auch zu brechen, sofern sich kein Ausweg bietet. Darauf verweisen auch jene vielzitierten Verse aus der Genesis:

[…] Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.[…] Sobald ihr (aber) davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und begehrenswert war, um klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten […]

– Genesis 2:16f, 3:5ff

Erkennen der Einheit im Erleben höchst-sinnlicher Erfahrungen

Im Anfang war die Finsternis und daraus war das Licht geboren. Finster wird auch am Ende wieder alles sein. Wenn die Morgensonne am Horizont hervorbricht, überquert sie den Himmel und erhellt dabei den Tag. Doch dann versinkt sie erneut in der Nacht – der ewig fortdauernden Finsternis – dem Urzustand des Alls. Dem Ungeborenen ist allein das bekannt. Nur wer zur Welt kam, erlebt den Wechsel von täglichem Licht und nächtlicher Finsternis. Doch eben nur für begrenzte Zeit.

Um sich als Mensch seiner selbst gewahr zu werden, kann man zwei Dinge tun: alles in sich aufnehmen oder aber versuchen, sich selbst in der umgebenden Existenz aufzulösen. Das heißt, man versucht mit der Welt eins zu werden, sich mit ihr zu einigen und zu versöhnen: namentlich durch Ver-Einigung mit einem anderen Menschen. Sind’s Mann und Frau und wird ein neuer Mensch gezeugt, erfährt er dieses Mysterium in seiner vorgeburtlichen Einheit mit der Mutter. Das Reich der Gegensätze, die polare Welt mit ihren guten und bösen Eigenschaften, empfindet das Kind in seiner mütterlichen Brutstätte zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Erst durch die Geburt und die Trennung aus dem Mutterleib, wird das Neugeborene schockartig mit den Kontrasten von Licht und Finsternis konfrontiert. Doch erst im Erleben dieser Polarität ist man wirklich Mensch geworden.

Geburt und Sündenfall

Die menschliche Sexualität scheint in der biblischen Genesis direkt zusammenzuhängen mit dem ursprünglichen Sündenfall: man setzte sich hinweg über das himmlische Verbot, kostete und erkannte sich in einer polaren Welt von Gutem und Bösem. Doch in diesem Erkennen erfolgte natürlich auch die Identifikation mit der eigenen und der Geschlechtlichkeit des Anderen. Umso wichtiger war dann die erkannte Fähigkeit, sich genau damit vereinigen zu können und hierbei neues Leben zu erschaffen:

Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger […]

– Genesis 4:1

Die Fülle die ihm aber im paradiesischen Eden gegeben war, verlor der Mensch in diesem Erkennen. Er erkannte damit zwar seine eigentliche Befreiung aus jener paradiesischen, hermetischen Beschränktheit. Alles Ungeborene verharrt jedoch in der Finsternis, bis es die Umstände zwingen ans Licht geboren zu werden.

So wie nun die scheinbar ersten Menschen durch ihre Erkenntnis, Eden über die Tore ihrer Sexualität verließen, so verlässt, wenn auch ebenso unfreiwillig, jedes Neugeborene das Paradies des mütterlichen Schoßes. Adam und Eva blieb damit also ihre in Eden gefundene Erkenntnisfähigkeit, die sie zur Unterscheidung dessen anzuwenden vermochten, was ihre Nachfahren im Geburtsereignis zum ersten mal erleben.

Aphrodite: das ewig Weibliche

Die Bedeutung dieser Licht- und Schattenaspekte in der Welt, meinen manche, habe der viel ältere phönizische Astarte-Kult, jener aphrodisischen Religion vererbt – zumindest strukturell. Eigentlich aber ist auch dieser Kult noch älteren, mesopotamischen Ursprungs. Astartes Vorgängerin war die Ischtar: Göttin des Krieges und der sexuellen Lust.

Im alten Sumer verehrte man die Inanna, deren Wesenzüge in jenen der Ischtar verschmolzen, zur Astarte und von ihr zur griechischen Aphrodite wurden. Die Hellenen verehrten in ihr die natürlichen Vorgänge der Fortpflanzung. Sie galten damals als Atrribute vollkommener Heiligkeit. Wohl nicht ganz zufällig spricht die Anatomie vom “Sacrum”, dem “heiligen Bein”, der lateinischen Bezeichnung jener Körperregion, in der sich die menschlichen Geschlechtsorgane befinden.

Astarte - ewigeweisheit.de

Astarte: die Gemahlin des Gottes Baal.

Astarte auf jeden Fall verkörperte die lunaren Mächte der Dunkelheit. Darauf verweisen ihre wichtigsten Attribute: Schwarze Augen und das von einer Mondsichel gekrönte Haupt. Interessant ist auch eine andere Deutung der Sichelthematik: der Planet Venus nämlich ist von der Erde aus betrachtet, immer nur als Sichel zu sehen. Auch heute noch nennen die Griechen diesen Planeten “Aphrodite”. Wussten die Alten vielleicht bereits von dieser astronomischen Eigenheit des Morgensterns?

Ihr himmlischer Gemahl auf jeden Fall, wie könnte es anders sein, war die kosmische Verkörperung eines universalen Lichtgottes, den die Semiten als Baal verehrten. Im alten Ägypten stand dafür der Lichtbringer Horus, dessen rechtes, solares Auge, wohl eines der bekanntesten Symbole der ägyptischen Mythologie und Hieroglyphenkunst ist.

Das Licht des Gottes Horus befruchtete die dunkle Erde. Einmal im Jahr aber starb er, doch wurde darauf wieder neu geboren. Auch hier ließen sich Assoziationsketten knüpfen zu dem viel jüngeren Christentum, sitzt doch Jesus, als das neue “Licht der Welt”, auf dem Schoß seiner Mutter Maria, die in christlicher Kunst ja auf einer Mondsichel stehend dargestellt wird. Natürlich deutet diese explizite Position der Symbole, hin auf die Überwindung älterer Kutle. Doch das steht auf einem anderen Blatt.

Göttin des Anfangs – Göttin der Finsternis

Finsternis war sicherlich das Ursprüngliche unserer Welt. Diese Vorstellung bestätigen die Heiligen Schriften im Westen und Osten, die biblische Genesis, die älteren Mythen Griechenlands und Mesopotamiens. Doch auch zu Beginn des Manusmriti, dem alt-indischen Gesetzbuch des Manu, ist die Rede von einer stillen Finsternis, aus der eine selbst erschaffende Urkraft hervortrat, was ja ganz ähnlich der biblischen Beschreibung jenes Urgeists ist, der über der finsteren Tiefe schwebte. Gut möglich, dass sich aus diesen alten Vorstellungen später die Urknalltheorie der modernen Kosmologie entwickelte.

Wir hatten nun gesagt, dass Aphrodite eine jüngere Form der semitischen Astarte war. Darum ist es kaum verwunderlich, wenn auch Aphrodite, wie ihre Vorgängerin, eine eigentliche Finsternisgottheit war. Und in diesem Kontext natürlich bleibt sie selbst ewig. Sie besitzt jedoch die Fähigkeit aufzunehmen und aus sich selbst hervorzubringen. Als jene gebiert sie den Eros, als Isis den Horus; manche wollen diese göttliche Geburt sogar im christlichen Heiland identifiziert sehen.

Aphrodite aber taucht hinab in die Regionen tiefster Finsternis, um den Lichtbringer wieder in die Welt des Lebens zu führen. Sie ist selbst das Leben, jener aber der lebendige Gott, der wie ein grüner Trieb aus der dunklen, schwarzen Erde Aphrodites hervorsprießt. Sie ist das Geheimnis des Lebens an sich, aus dem alles geboren wird und in das alles nach dem Tod zurückkehrt. Da mag an dieser Stelle manchem sofort in den Sinn kommen, die von Freud zuerst formulierte Dialektik vom Todestrieb und Lebenstrieb des Menschen. Das Schmerz und Lust nahe beieinander liegen, zeigt ja bereits der dabei eingenommene Gesichtsausdruck eines Menschen. Eros natürlich ist auch die Kraft, durch die der Mensch den “kleinen Tod” erfährt, durch den überhaupt neues Leben gezeugt wird.

Eros ist Gegenspieler des Todes und die vergöttlichte Form des Lebenstriebes. Er setzt alles daran, das Lebensdrama in Gang zu setzen und zu verlängern. Eros also ist jene Kraft, die diese Tragödie von Geburt, Leben und Sterben in die ewige Wiederkehr zwingt, mit all ihren erfreulichen, doch ebenso qualvollen Aspekten.

Aus der Spannung der so entstandenen Polarität, tritt das notwendige Temperament hervor, mit dem überhaupt erst etwas Neues entstehen kann. Es geht also um die gegenseitige Ergänzung zweier Pole. Bei genauerem Hinsehen aber, scheint Aphrodite bereits in sich selbst so vollkommen und bar jeden Bedürfnisses zu sein, als dass sie sich mit irgend etwas ergänzen müsste. Doch kann so eigentlich überhaupt etwas Neues entstehen? Oder vereint Aphrodite in sich sogar jene beiden Pole, die zur Zeugung des Neuen nötig sind?

Die bärtige Frau

Männer näherten sich den heiligen Stätten der Aphrodite nur in Frauenkleidern, Frauen nur in Männerkleidern. Nicht zufällig geben antike Darstellungen Anlass zur Vermutung, Aphrodite sei faktisch ein Hermaphrodit. In ihrer späteren, römischen Form kannte man sie auch als Venus Barbata – die bärtige Venus. Für unser heutiges Schönheitsideal wohl weniger zutreffend, galt diese Zwittrigkeit in der Antike jedoch als Ausdruck der Vollkommenheit. Zwar besaß Venus Barbata kein eigentliches Geschlecht, doch war gleichzeitig vollkommenes Sinnbild von Geschlechtligkeit und Sexualität.

Ihre Verehrerinnen und Verehrer verhüllten im Tempelbezirk der Aphrodite ihre Erscheinung, um weder als Frau noch als Mann erkannt zu werden. Aus Ehrfurcht und vollkommener Hingabe erwies man damit der Göttin seine Ehrerbietungen. Wer in Gegenwart der universalen Gottheit sein wahres Geschlecht verhüllte, so heißt es, empfing von ihr große Kräfte. Doch welcher Art äußerte sich das?

Im Anfang war das Ei

Wenn ein Mensch das Stadium erreicht, wo er weder männlich, noch weiblich ist, nähert er sich der eigentlichen Wesensnatur dessen, wofür die Liebesgöttin Aphrodite steht: die höchste Einheit der Natur und der schöpferischen Kräfte des Lebens. Denn ursprünglich gab es nur ein Geschlecht, dass dann jedoch in die beiden, uns allen bekannten Pole von Männlichem und Weiblichem zerbrach. Seither sehnen sich diese beiden Teile wieder zu einen. Es ähnelt in etwa dem aus dem Chaos geborenen “Ei des Orpheus”: es zebrach in eine goldene, himmlisch-solare und eine silberne, irdisch-lunare Hälfte. Was beide Hälften zur Einheit verbunden hatte, war nun entschwunden, als lichtvoller Liebesgott Eros. Den treibt seither ein Begehren an, diese beiden Teile wieder zur Einheit zu führen. Damit steht er auch für eben jene Kraft, die man als Mensch aufwenden muss, um auch zerbrochene Freundschaften oder Familienbande wieder zu einen.

Auf kosmischer Ebene aber, lässt sich in der hier vorgestellten Trinität von Uranos, Gaia und Eros ein Hinweis erkennen, auf die Anschauung einer anderen griechischen Mythologie. Da nämlich sind es Gaia, Eros und die finstere Tiefe des Erebos. Als der Mensch in die Welt kam, zwang ihn diese Trinität in ein Spannungsfeld: Seine Begierde (Eros) drängt ihn selbst neue Wesen zu erschaffen, in der ihn umgebenden materiellen Welt (Gaia). Bewusst oder unbewusst, leitet er dabei jene astralen Sternenkräfte aus der eigentlichen himmlischen Finsternis (Erebos) in eine neu erschaffene Existenz auf Erden. Das ist ein Vorgang den man in östlichen Weisheitslehren ja bekanntlich als Inkarnation bezeichnet.

Es geht hier jedoch um eine höhere Wahrheit, heute wie damals, nur ganz wenigen Seelen zugänglich. Der Großteil der aphroditischen Verehrer im alten Griechenland, erkannte diese höheren Wahrheiten nicht. Man wusste sich in seinem Glauben an die Liebesgöttin nur aufgehoben, wenn man ihr in den aphrodisischen Tempeln Opfer darbringen durfte. Bereits also die Anhänger dieses alten Kults waren recht naiv, was ihr Verständnis von wahren Bedeutung der finsteren Liebesgöttin anbelangte. Man wusste eigentlich überhaupt nicht, wofür Aphrodite in Wirklichkeit stand. Erinnert das nicht auch ein wenig an Gottesgläubige der Gegenwart und auf der anderen Seite sogar an jene, die besonderen Wert auf sexuelle Freizügigkeit legen?

Aphrodite-Anhänger alter Zeit, traten im Tempel vor das Bildnis der Göttin, wie hilflose Kinder vor ihre Mutter. Alles was sie in den Tempeln empfanden, war dort die eigene Sexualität vollständig auszukosten. Ihre Herzen sehnten sich zu verlieben, ihre Leiber nach wilder Ekstase. Ja, dieses Verlangen war sogar so stark, dass ihre Begierden, in hemmungslose Orgien umschlugen.

Die Schwarze Göttin

Wir befassten uns bereits mit dem Bild der Finsternis-Gottheit Astarte, jener phönizischen Vorgängerin Aphrodites. Es verwundert darum wohl kaum, wenn man sie im alten Griechenland, später auch als schwarze Melainis verehrte. Im Kontext der zuvor beschriebenen Mutter-Aspekte dieser Göttin, ließe sich durchaus eine Verbindung zur Schwarzen Madonna des Christentums ziehen.

Der griechische Autor Pausanias (115-180 n. Chr.) verwendete den Namen Melainis in Bezug auf die Schwärze der Nacht. Und es ist ja dieser dunkle Teil des Tages, in dem sich Menschen in Leidenschaft vereinen – nicht etwa wie die Tiere, die dafür den Tag haben. In Verbindung mit dem Aspekt einer chtonischen Muttergöttin, deutete man Aphrodite daher vielleicht auch als Herrscherin über die schwarze Erde. Gewiss bestünde damit wiederum ein Bezug zur ägyptischen Isis. Ihr Stern war der geheimnisvolle Sirius, der einmal im Jahr, kurz vor Sonnenaufgang am Ost-Horizont aufleuchtet. Auch damals setzte mit seinem Erscheinen die Nilflut ein, dem Augenblick wenn der fruchtbare, schwarze Flussschlamm die Äcker überschwemmte.

Gewiss ließe sich die schwarze Aphrodite auch als eine Göttin der Gräber interpretieren, wo sie dann als ganz und gar unheilige Göttin auftritt. Als solche nämlich ist sie die mordende Männerfresserin.

Zu den schwarzen Göttinnen zählte man in der Antike, neben der Isis, eben auch die anatolische Kybele, wie auch die Astarte und Ischtar. Sie ähneln gewiss auch den Schwarzen Madonnen, die im Mittelalter Einzug nahmen in die christliche Sakralkunst.

Astarte - ewigeweisheit.de

Peter Paul Rubens: Der Tod des Adonis (1614). Zwischen seinen Beinen ein blutiges Tuch und ihn umgebend: Venus (Aphrodite), die drei Grazien und Cupido (Amor). Hatte er sich aus Liebe zur Göttin (links) etwa selbst entmannt?

Heilige Kastration

Aphrodite kam nicht als Sprössling eines Götterpaares auf die Welt, wie das für die anderen Himmlischen des griechischen Pantheon gilt. Blutiges Götter-Sperma des Allerhöchsten fiel ins Meer, und schäumte es auf. Ein recht schauriges Ereignis führte zu diesem Vorfall. Und was wir oben bereits als krönende Sichel der Astarte andeuteten, sollte ein Werkzeug des Grauens werden.

Die Entmannung des Himmels

Der Titan Kronos wurde von seiner Mutter Gaia dazu angestiftet, Uranos seiner zeugenden Macht zu berauben. Sie gebar aus sich dazu eine stählerne Sichel, mit der der junge Titan seinen Erschaffer, den vergöttlichten Himmel entmannen sollte. So geschah es also, dass jener Gott des Goldenen Zeitalters als Sensemann auftrat und seinen Vater, den personifizierten Himmel Uranos entmannte. Aus dem abgetrennten Glied seines Vaters, drang jedoch die zeugende, göttliche Kraft der Fruchtbarkeit. Als sie das Meer zum Schäumen brachte, erschien darin jene Göttin der Schönheit Aphrodite in kupfernem Strahlen, die dann in Zypern vom Meer an Land stieg.

So also kam Aphrodite zu ihrem Namen: aphros – der Meerschaum. Der zweite Teil ihres Namens lässt sich auf verschiedene Arten interpretieren. So wäre “odite” die Wanderin, doch “dite” die “Helle” beziehungsweise die “aphor” stark “dhei” Scheinende. Doch auch das Wort “Blindwut” – “Aphrathia” – ließe sich erwägen, wird die Göttin in der alt-griechischen Literatur als jene beschrieben, die Götter als auch Menschen ihres Verstandes “Phrenes” beraubt und die sich dann, in ekstatischen Wahn Verletzungen zufügten.

Ein blutiges Fest

Im alten Griechenland gab es besondere Lustgärten außerhalb der Städte. Dort fand man die Tempel der Aphrodite. Doch es waren nicht etwa Orte ehrwürdiger Heiligkeit, wie man sie sich vielleicht vorstellt im Kontext hoher Sakralität und Reinheit. Vielmehr waren es Orte der Ekstase, von bisweilen wahnartiger Ausprägung. Man opferte sein Geschlecht der Göttin, schnitt es ab und warf es gegen ihre bereits blutbeschmierte Statue im Tempel.

Manch Mann fand hierher aus Neugierde. Doch als des Nachts die heiligen Zeremonien begannen, geriet die dort anwesende Gesellschaft in rasenden Wahn. Mit pochenden Adern und brennendem Auge, riss man sich die Kleider vom Leib und beschnitt sich in wildem Geschrei selbst, kastrierte sich als Mann.

So jemand spürte dabei aber einfach garnichts mehr und rann nackt, Blut tropfend umher. Seine abgeschnittenen Glieder hielt er in den Händen seiner kreisenden Arme. Schließlich kam er an ein Gebäude, worein er seine blutigen Genitalien warf. Die darin Anwesenden waren dazu verpflichtet, jene “einstigen” Männer, daraufhin in Frauengewänder zu kleiden. Darin kehrten sie zurück an jenen Tempel, wo sie unabänderlich als Eunuchen den Rest ihres Lebens der Göttin Aphrodite dienten.

Am folgenden Morgen begrüßte man die aufgehende Sonne mit ehrerbietendem Frohsinn. Nun verließen die Aphrodite-Jünger diesen Ort, der in jener nächtlichen Orgie einen wohl eher schaurig-lüsternen Charakter besaß. Die Priesterinnen und Priester des Tempels wuschen die blutverschmierte Statue der Göttin und zierten sie mit Rosen. Nun war es wieder ein Ort des Friedens und der Liebe, das ekstatische Blutbad war vergessen und alles kehrte zurück in einen Zustand vollkommener Harmonie. Der Mensch war wieder er selbst.

Gibt es sakrale Liebe in unserer heutigen Zeit?

In der Antike bestimmte die Aphrodite-Verehrung das soziale Zusammenleben, war fester Bestandteil kultischen Brauchtums. Heute empfände man die oben geschilderte blutige Orgie wohl als grausame Widerwärtigkeit. Was da vor sich ging überschreitet ja ganz klar die Grenzen unseres gegenwärtigen Gesellschaftssystems. Das bedeutet jedoch nicht, dass Ähnliches nicht dennoch an finsteren Orten in unserer Welt stattfindet. Doch dann wohl nicht zu Ehren einer überweltlichen Liebesgöttin, sondern allein um vollkommen morbide Sehnsüchte zu befriedigen, die bereits ins Feld forensischer Psychiatrie klaffen.

Das Wesen jener antiken Liebesgöttin aber, wird heute immer mehr zu etwas Odinärem degradiert. Was Menschen im alten Griechenland als Sexualität lebten, hatte weniger mit reiner Sehnsucht nach Lustbefriedigung zu tun. Vielmehr war den alten Menschen ihr Geschlechtsleben heilig und etwas ganz anderes, als das, was man es sich heute unter sexuellen Gebräuchen vorstellt. Ob es etwas dieser Art überhaupt noch gibt?

Den Sinn, den Menschen mit dem Wort Erotik verbinden auf jeden Fall, scheint im Westen leider zu einem Konsumprodukt entartet zu sein, als das, worauf sein ursprünglicher Name hindeutete: etwas, dass das Liebesleben betont.

Jene antiken Sex- und Fruchtbarkeitskulte verstehen zu lernen, könnte dem heutigen Menschen vielleicht dabei helfen zu erkennen, wem die eigentlich sozialen Zwecke unserer sexuellen Freizügigkeit in Wirklichkeit dienen. Gleicht es nicht einem großen Schwindel zu glauben, man könne lebendige Freiheit erfahren, indem man ein liberales Sexualleben führt?

Sexualität scheint heute nicht mehr ausschließlich einem inneren Drang zu folgen, sondern äußeren Stimulanzen, die ganz und gar banal und alltäglich, sich einem überall durch die Massenmedien aufdrängen.

Mitte des 20. Jhd. war es noch verpönt, über Sex in der Öffentlichkeit zu sprechen. Sexualität war den meisten Menschen damals einfach zu wichtig, als dass man im Alltag mit jedem über Sex sprach, geschweige denn diese Sache bestimmten Fernsehsendungen als Moderationsgrundlage diente.

Das eigentliche Wesen dieses real heiligen Akts, scheint heute immer mehr zu zerbrechen. Unsere Gesellschaft entfernt sich gerade von jenem Kern der alten aphrodisischen Geheimnisse – was gleichzeitig aber nicht bedeuten muss, das die ungelösten Rätsel menschlichen Liebeslebens nicht trotzdem wieder an Bedeutung gewinnen könnten.

Dann wohl erhöben sich jene romantischen Aspekte des Liebens, bewahrten dabei ihre erhabene Würde und könnten den Sucher ins Licht echter sexueller Erfüllung führen.

 

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