Was ist Geomantie?

Wie so viele andere islamische Wissenschaften des Mittelalters, kam im 13. Jahrhundert aus dem Orient in den Westen eine Form der Wahrsagerei, die bis ins 17. Jahrhundert hinein in Europa sehr populär war: Die Geomantie. Doch wer unter uns weiß schon noch was Geomantie wirklich ist?

Die Tradition der Geomantischen Weissagung ist sehr alt und ihre Ursprünge lassen sich zurückverfolgen bis ins Alte Ägypten. Vor etwa 6.000 Jahren begann man dort das achtteilige Weissagungs-System der Geomantie zu praktizieren, das eigentlich identisch ist mit der Orakel-Tradition des Ifá, dass die religiösen Wahrsager des westafrikanischen Volkes der Yoruba heute in Nigeria, Benin und Togo praktizieren. Sie verwenden in diesem System die Gehäuse der Kauri, einer tropischen Meeres-Schnecke. Für ihre Orakel mit sechzehn Kauri-Schnecken gebrauchen die Yoruba ein Brett aus Holz, um nach weissagenden Antworten auf ihre Fragen zu suchen.

Wer sich mit dem Orakelsystem der Yoruba schon einmal befasst hat, dem dürfte bald auffallen, dass es da einige sehr verblüffende Parallelen gibt zur westlichen Geomantie oder auch dem chinesischen Wahrsage-System des I-Ging. Logik und mathematische Mengenlehre verbergen sich hinter diesem und den eben genannten Orakelsystemen. Darum scheint es offensichtlich zu sein, dass die Ursprünge der bei uns verwendeten Geomantie in der Urzeit des afrikanischen Kontinents liegen. Denn seit Jahrtausenden werden solche Wahrsage-Praktiken dort sowie in Arabien und anderen Ländern Westasiens als Geomantie praktiziert.

Weissagung aus Erde und Sand

Für unsere weiteren Betrachtungen wäre zunächst einmal interessant zu schauen, was die Etymologie des Wortes „Geomantie“ bedeutet. Es leitet sich vom lateinischen „Geomantia“ ab, einem Wort das seinerseits griechischen Ursprungs ist (von griech. „γεωμαντεία“, Geomanteia) und sich zusammensetzt aus zwei griechischen Wörtern:

  • „Ge“, dem Namen der Erde, dass verwandt ist mit dem Namen der Irdischen Muttergöttin „Gaia“, und
  • „Manteia“, ein Wort zur Bezeichnung der Prophezeiung und Wahrsagung.

Früheste Formen der Weissagung bestanden tatsächlich darin, Risse im Erdboden zu lesen oder eine Handvoll Erde auf den Boden zu werfen und aus den so zufällig gebildeten dreidimensionalen Formen Bedeutungen abzulesen. Besonders aber war es üblich mit einem Stock auf Sand zu schlagen, um darin zufällige Muster zu erzeugen. Diese geomantische Praxis war vor allem bei den Arabern üblich, die da von „‚Ilm Al-Raml“ sprechen, „der Wissenschaft des Sandes“.

In der, durch einen Schlag auf den Sand (arab. „Zarb Al-Raml“) entstandenen Form, versucht man diese dann sechzehn verschiedenen Figuren (Punktmustern) in der Geomantie zuzuordnen – wie wir später noch sehen werden -, um darin festgelegte Bedeutungen daraus abzulesen. Dabei entscheidet der Geomant nach jedem Schlag, ob es sich um einen oder zwei Punkte handelt. Der Wahrsager führt dazu viermal einen Schlag auf den Sand aus, wobei er sich entweder den einen entstandenen oder eben zwei so entstandene Punkte notiert.

In der Geomantie symbolisiert das aus diesen Einer-und-Zweier-Formen zusammengesetzte Tetragramm einen Menschen, wo

  • die oberste Linie aus einem oder aus zwei Punkten dem „Kopf“ und damit dem Element Feuer entspricht,
  • die zweite Linie seinem „Hals“, dem Element Luft,
  • die dritte Linie dem „Körper“, dem Wasser, und
  • die unterste Linie den „Füßen“, entsprechend dem Erdelement.

Der Geomant kann für seine Wahrsagung dann aus einem der insgesamt sechzehn binären Tetragramme seine Deutungen ablesen, die zudem eine hermetische Entsprechung in der Astrologie besitzen, was selbst diffizilste Deutungen vereinfacht.

Arabische Weisheit aus Alter Zeit

Im 12. Jahrhundert gelangten arabische Texte über Geomantie nach Spanien und verbreiteten sich von dort aus überall in Europa. Besonders unter den Humanisten der europäischen Renaissance, erfreute sich die Geomantie großer Popularität, wie damals auch viele weitere okkulte Wissenschaften der Araber, wo man die Geomantie als eine „Prisca Sapientia“ ansah: eine „Weisheit aus Alter Zeit“.

Wichtig aber ist die Geomantische Wahrsagekunst in einem noch größeren Kontext zu betrachten. Denn schließlich spielen bei der Deutung verschiedene feinstoffliche Einflüsse eine Rolle (wie etwa beim Schlagen auf Sand), insbesondere sogenannte „Erdenergien“, wie sie im Rahmen sakraler Geographien bestehen, in Form heiliger Berger, Täler und Seen, Felsen, Monolithen oder heiligen Brunnen. Aber auch astronomische Ausrichtungen (Mondphasen, Planetenstellungen) spielen eine wichtige Rolle, wie ebenso verschiedene Muster heiliger Geometrie.

Die mit diesen Wissensgebieten zusammenhängenden okkulten Methoden praktiziert man eigentlich immer gleichzeitig, um so etwa die Qualität und spirituelle Bedeutung von Erdkräften auf Gipfeln von Hügeln und Bergen, sowie von Höhlen, Brunnen und unterirdischen Flüssen zu bestimmen (man denke etwa an so Orte wie Glastonbury, Avebury oder Stonehenge in Südengland oder die alten Steinreihen im französischen Carnac).

Dabei aber steht der Begriff der Geomantie immer für sich, als Bezeichnung für eine erdbezogene Methode der Weissagung. Man will mittels dieser okkulten Praxis eben auch verstehen, in welcher Umwelt man als Mensch sein Leben verbringt und ob man sie diesem Verständnis entsprechend beeinflussen kann. Aus diesem Grund auch gilt Geomantie ihren Kennern als Wissenschaft und Kunst vom Leben und Sterben.

Geomantie im Europäischen Mittelalter und der Renaissance

Seit dem Mittelalter war die Ausübung geomantischer Methoden in ganz Europa weit verbreitet. Byzantinische Geomanten sprachen von „Rabolion“ oder „Ramplion“, wenn sie die Geomantie meinten, wobei sich diese Begriffe von dem arabischen Wort „Raml“ ableiten, für den Sand, wie wir oben sahen.

Frühneuzeitliche lateinische Geomanten jedoch beschränkten sich zuerst nur auf jene Texte, die recht unfachmännisch aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen worden waren. Aufgrund dessen wurden verschiedene technische Verfahren der arabischen Geomantie leider entstellt, was sie unbrauchbar machte und so den Wissenschaften in der Zeit des lateinischen Christentums unbekannt blieben.

Dazu schrieb der deutsche Universalgelehrte Agrippa von Nettesheim (1486-1535) in seinem, im Jahr 1527 erschienenen Buch „Von der Ungewissheit und Eitelkeit der Wissenschaften“:

Eben diese Arithmetica hat an Tag gebracht die Geomantische Weissagung […], sechsziffrige und vierziffrige Würfel und andre derlei Dinge, welche alle Sterngucker, wegen gleicher Art zu judizieren (Recht zu sprechen) […] Das ist: Die Bewegung des Himmels ist ewig, und ist der Anfang und die rechte Ursache aller irdischen Bewegungen.
– 13. Kapitel: De geomantia oder von der Weissagung aus astronomischen Figuren

Die Geomantie, davon wir bei der Arithmetica (Rechnen mit Zahlen) auch geredet haben, ist diese, welche nach den Punkten, so ohngefähr oder aus Vorsatz zusammengesetzet werden, und durch gleiche oder ungleiche Zahlen gewisse Figuren, welche den Himmlischen zugeteilet, uns etwas Gewisses weissagen wollen, dahero alle Scriptores (Schriftsteller) diese für eine Tochter der Astrologie erkennen.
Es ist aber noch eine andere Art, die Almadal Arabs eingeführet hat, welche sich selber durch gewisse Mutmassungen, so von Ähnlichkeiten hergenommen, und aus der Erden Hall, Bewegung und Aufspaltung, entweder von sich selber oder aus der Hitze verursachet (oder aus dem Donner), die Weissagungen uns am Tag bringet, welche gleichfalls auch auf die vergebliche Superstition (Mystizismus) der Astrologie gegründet ist, und diese ist es, welche die Stunden, des Mondes Auf- und Niedergang und der Gestirne Figuren und Aufgang in acht nimmet.
– Aus dem 36. Kapitel: Iterum de geomantia oder wieder von der Weissagung, davon wir im 13. Kapitel gehandelt haben

In den hier getroffenen Aussagen, bezog sich Agrippa auf mittelalterliche, europäische Werke zum Thema Geomantie, in denen grundlegende Techniken der geomantischen Weissagung angewendet wurden. Doch, wie aus den beiden Zitaten deutlich hervorgeht, wurden darin eben auch astrologische Elemente mit einbezogen.

Über die Praxis der Geomantie

Ursprünglich bezog sich der Begriff Geomantie auf Vorhersagen, die in erster Linie durch die besagten Methoden des Schlagens in Sand oder des Erdgusses getroffen wurden. Hierbei wurden geomantische Figuren durch das Zeichnen einer zufälligen Anzahl von Punkten im Sand erstellt, dem besagten Zarb Al-Raml der Araber.

Für die Autoren des europäischen Mittelalters war es aber auch akzeptabel, diese Linien- und Punktformen auf ein Stück Pergament von rechts nach links zu zeichnen, also in der Schreibrichtung in der man ja eben auch arabische Texte verfasst. So zeichneten die Geomanten eine Reihe von Figuren, die als Darstellung eines Geomantischen Tafelbildes , angeordnet wurden, einem sogenannten „Tableau“.

Geomantische Figuren

Solch Geomantisches Tableau besteht aus sechzehn Figuren, die sich jeweils aus einzelnen Punkten zusammensetzen (siehe Abbildung). Jede dieser Figuren nun korrespondiert

  • mit einem der vier alchemistischen Elemente,
  • mit einem der sieben klassichen Himmelskörper („Planeten“),
  • mit einem der zwölf Sternzeichen,
  • mit einem Temperament (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker,)
  • mit einem Geschlecht, sowie
  • mit einer Zeitspanne von entweder Stunden, Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren.

Entsprechend lassen sich die geomantischen Figuren positiv oder negativ deuten. Dabei gelten Figuren die nach unten zeigen als stabil. Figuren, die nach oben zeigen, gelten als beweglich. Die vier symmetrischen Figuren der Geomantie sind je nach Art der Figuren, entweder stabil oder beweglich.

 

Die sechzehn geomantischen Figuren.

Die geomantischen Häuser

Es gibt zwölf geomantische Häuser, die ihren Ursprung in der mittelalterlichen Astrologie haben und die man manchmal in der selben quadratischen Form anordnet wie man das auch in der mittelalterlichen Horoskop-Deutung anordnete. Darüber hinaus jedoch verfügt das geomantische Tableau über zwei zusätzliche Häuser, die „Zeugen“ und ein weiteres Haus für den „Richter“. Diese Häuser sind von rechts nach links wie folgt nummeriert und stehen jeweils für einen Lebensbereich:

  1. Vita – Leben
  2. Lucrum – Reichtum
  3. Fratres – Brüder
  4. Genitor – Vater
  5. Nati – Söhne
  6. Valetudo – Gesundheit
  7. Uxor – Eheleute
  8. Mors – Tod
  9. Itineris – Reisen
  10. Regnum – Könige
  11. Benefacta – Glück
  12. Carcer – Gefängnis

Um die Bedeutung eines Geomantischen Tableaus zu interpretieren, ist das Verständnis der Häuser wichtig, zumal jede mögliche Frage aus der Bedeutung der Häuser abgeleitet werden kann. Dazu im Folgenden einige Beispiele, wie sie uns aus alter Zeit überliefert sind:

* Fragen zur Ehe werden dem 7. Haus zugeordnet.
* Eine Frage, ob ein Schiff sicher von einer Reise zurückkehren wird, gehört zum 9. Haus.
* Eine Frage, ob eine kranke Person wieder gesund wird, gehört zum 6. Haus.

Wie auch die Inhalte astrologischen Wissens, mit denen sich manch Gelehrter der Renaissance beschäftigte, fand er als Leser geomantischer Traktate darin einen sehr guten Einblick in die alltäglichen Sorgen eines Menschen. Denn viele solcher Abhandlungen über Geomantie enthielten lange Frage-Listen, die den einzelnen geomantischen Häusern entsprachen.

Illustration einer sogenannten Schildkarte in der Geomantie.

Die Geomantische Methode der Interpretation

Die sogenannte „Astrologische Methode“ nun besteht darin, zuerst ein Horoskop zu erstellen. Jedoch werden dabei die Positionen von Planeten und Tierkreiszeichen in den astrologischen Häusern durch das geomantische Tableau bestimmt und nicht auf Grundlage astronomischer Berechnungen (Bewegungen der Sterne aus geozentrischer Sicht). Hieraus dann entwickelt der Geomant seine Interpretationen.

Die hierfür verwendeten Methoden sind quasi rein mechanisch, während komplexere Methoden stark von mittelalterlichen astrologischen Praktiken beeinflusst sind. Immer aber geht es dabei um die Interpretation bestimmter Figuren im geomantischen Tableau, wobei auch die Beziehungen der Figuren zueinander mit berücksichtigt werden.

Eine Königin der Sakralen Geomantie

Eine in der Geomantie berühmte Persönlichkeit war die Königin Ranavalona I. von Madagaskar (1782-1861), die von Missionaren als „Inbegriff des Aberglaubens“ bezeichnet wurde. Sie aber vermochte jede ihrer Bewegungen genau zu definieren, um damit vollkommen nach ihrer uralten, überlieferten kanonischen Lebensweise zu leben. Sie war beeinflusst von der Macht des Volkes der Antemoro, das für seine Magie, Esoterische Sternenkunde und Geomantie bekannt war.

Königin Ranavalona I. von Madagaskar.

 

Ranavalona führte ein streng nach diesen Vorgaben ausgerichtetes Leben. So saß sie zu der für sie bestimmten richtigen Stunde am richtigen Tag am richtigen Ort im Palast. Sie reiste nur an Orte, deren Geomantie ihrer Aufgabe als Königin und die den astrologischen Aspekten der aktuellen Zeit ihres Aufenthalts entsprachen.

Wie oben so unten

Wie wir sehen konnten, scheint die Geomantie, wie als eine irdische Entsprechung der Astrologie, deren prinzipiellen Abbilder dem Bauchgefühl und der Intuition ihrer ausübenden Autorität gemäß, von Bedeutung gewesen zu sein – ja ist sie entsprechend heute noch von Bedeutung. Doch bleibt ihre Rolle im Westen weiterhin untergeordnet. Allerdings ist ihre Ausübung in den südlicheren Regionen unserer Erde viel weiter verbreitet und bekannt als bei uns, wie wir sehen konnten. Denn, wie es scheint, ist unser Bewusstsein für das Irdische viel zu häufig nur auf die Industrielle Nutzung der sogenannten „Erden“ beschränkt.

Fest steht auch, dass Kenntnisse über diese Wissenschaft auch von Bedeutung sind für jene, die sich der Parallelen zwischen Erdenergien und den in der Geomantie genutzten feinstofflichen Wirkungen bewusst sind, zumal diese ja etwa in der Architektur, wie in der taoistischen Harmonielehre des Feng-Shui (chin. für „Wind und Wasser“) von Belang sind, wie aber besonders auch im chinesischen I-Ging als Orakelsystem. So wird der Geomantie-Begriff heute ja auch verwendet in Zusammenhang mit einer Bau-Biologie, wo manch einer versucht solch Erkenntnisse mit der geomantischen Kunst zu vereinen, den richtigen Ort zu erkennen (wie jene oben erwähnte Königin Ranavalona) und zu erspüren, was mit dem Leben des Menschen auf geografisch-geologischer Ebene in Einklang gebracht werden kann.

Vielleicht darum auch haben sich viele Gebiete der geomantischen Wissenschaft heute von ihrem Ursprung als afro-arabisches Wahrsagesystem entfernt. Und doch bleibt die Kunst jenen erhalten, die weiterhin ernsthaft damit arbeiten wollen.

 

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