Der Atem als Bindeglied

Die Alten sahen oben den Himmel und unten die Erde. Zwischen ihnen und in stetiger Bewegung wehten Wind und Wetter. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Atem als Bindeglied zwischen ‘Oben und Unten’.

Ein wesentlicher Aspekt aller Mysterientraditionen ist die Verbindung zweier verschiedener Formen des Bewusstseins. Diese beiden Pole tragen in den verschiedenen Traditionen die unterschiedlichsten Namen. Ich möchte im Folgenden einfach von einem oberen Bewusstsein und einem unteren Bewusstsein sprechen, um die Bedeutung zunächst möglichst intuitiv und offen zu halten. ‘Oben und unten’ ist dabei bitte völlig wertungsfrei zu verstehen. Erst einmal gilt es, sich ein ungefähres Bild von diesen beiden Polen zu machen, welches durchaus eine Vereinfachung sein wird, aber für den hier behandelten Sachverhalt völlig genügt.

Das obere Bewusstsein ist im Kopfbereich und im Hirn beheimatet. Hierin gründen die willkürlichen und bewussten Prozesse: Sehen, Hören, Sprechen, bewusste Motorik, Denken… Im Bauchbereich wiederum befindet sich der Sitz des unteren Bewusstseins, worin generell die unbewussten und unwillkürlichen Prozesse gründen: Wachsen, Verdauen, Galle ausscheiden, Magensäure produzieren, Affekte, Leidenschaften… Die Funktionen des unteren Bewusstseins werden üblicherweise nicht bewusst bewirkt, sondern geschehen einfach. So zumindest aus Sicht des oberen Bewusstseins, mit welchem sich viele Menschen identifizieren.

Im unteren Bewussten ruhen jedoch unglaubliche Fähigkeiten und Kenntnisse, die der Mensch beispielsweise dann erfährt, wenn er etwas ‘aus dem Bauch heraus’ erfolgreich tut und es ihm ohne viel Nachdenken einfach gelingt. Ein Koch z.B., der die Zutaten nicht mit der Feinwaage abmisst, sondern gerade so in das Essen hineingibt, wie es sich für ihn stimmig anfühlt. Der Bauch des Menschen hat ganz andere Kenntnisse und Fähigkeiten als der Kopf und leider ist es doch häufig so anzutreffen, dass diese beiden, Kopf und Bauch, gegeneinander ankämpfen.

Der Atem nun ist ein besonderes Mittel der Wahl, wenn es um Praktiken geht, durch welche der Mensch diese beiden Pole miteinander verbindet und harmonisiert. Der Atem nämlich lässt sich leicht als das Mittelglied zwischen oberem und unterem Bewusstsein ausmachen: Denn die menschliche Atmung ist zumeist ein unwillkürlicher und unbewusster Prozess. Egal ob der Mensch schläft, ob er beschäftigt ist, ob er spricht, der Atem fließt, ohne dass es nötig wäre, einen Gedanken darauf zu verwenden. Er scheint also in diesem Sinne zum unteren Bewusstsein zu gehören, wie auch die Verdauung und der Wachstumsprozess. Aber, im Gegensatz zu diesen den beiden letztgenannten, kann der Mensch auch völlig willkürlichen Einfluss auf seine Atmung nehmen. Er kann sich denken: “Jetzt atme ich aus.” Und dann kann er ausatmen, seiner Willkür gemäß.

Da der Atem also eine Verbindung zum oberen wie zum unteren Bewusstsein des Menschen hat, lassen sich beide Pole durch entsprechende Atemübungen miteinander verbinden und in Einklang bringen, und die verschiedensten Traditionen haben eine Vielzahl von Übungen zu genau diesem Zwecke entwickelt. Wer sich mit bewusster Atemtechnik in der Praxis beschäftig, der wird früher oder später mit solcherlei Techniken zu tun haben und lernen, die pranischen Energien der beiden Zentren (Kopf und Bauch) durch Pranayama gezielt fließen zu lassen und untereinander auszutauschen. In der westlichen Esoterik wird dieser Austausch häufig mit einem geschlossenen Stromkreislauf vergleichen, welcher zu einem starken Anstieg der verfügbaren Energien führt.

In der Kabbalah werden den drei angesprochenen Zentren im Menschen, dem oberen, dem unteren und dem mittleren, übrigens auch die drei Mutterbuchstaben Aleph, Schin und Mem symbolisch zugeordnet, welche ihrerseits wiederum mit bestimmten Elementen korrespondieren. Zudem ist diesen drei Zentren auch jeweils ein entsprechender Seelenteil analog, wobei der mittlere Seelenteil Ruach heißt, was, wie eingangs gesagt, auch Atem bedeutet. Wer hier weiter forscht, dem offenbaren sich eine Menge sehr aufschlussreicher Analogie. Hier nochmal die entsprechende Übersicht: (Dabei ist es äußerst wichtig zu verstehen, dass es sich in dieser Übersicht um Entsprechungen und nicht um Gleichsetzungen handelt! Das obere Bewusstsein entspricht Neschamah, aber es ist nicht Neschamah!)

  1. Oberes Bewusstsein – Kopfbereich – Schin (ש) – Feuer – Seele: Neschamah (נשמה),
  2. Mittleres Bewusstsein – Brustbereich – Aleph (א) – Luft – Seele: Ruach (רוח),
  3. Unteres Bewusstsein – Bauchbereich – Mem (מ) – Wasser – Seele: Nephesch (נפש).

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Genesis 1.4, wo es wörtlich heißt: Und die Ruach (Geist, Seele, Atem; im hebräischen feminin!) von Elohim (vereinfacht oft mit Gott übersetzt. Eigentlich aber ein Wortspiel mit der Bedeutung: Das göttliche Wesen, welches männlich, weiblich, einer und viele zugleich ist.), eine Schwebende über den Wassern. So also wie beim Menschen die Brust, der Atem, die Ruach, über dem Bauch, dem Wasser, liegt, ebenso ist es auch am ersten Schöpfungstag bei Elohim: Die Ruach schwebt über den Wassern. Eine sehr interessante und vielsagende Analogie.

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