Moses und der Hirte

Es war fast Sonnenuntergang, und die Hitze des Tages ließ nach. Der Hirte hatte seine Ziegenherde zusammengetrieben und war auf dem Weg nach Hause. Eine sanfte, kühle Brise hatte zu wehen begonnen, was den Gedanken an die evorstehende Nacht noch angenehmer machte. Der Hirte war guter Laune und lobte liebevoll seinen geliebten Gott, ohne zu ahnen, dass der Prophet Moses in Hörweite war:

Wo bist du, mein einziger Geliebter, damit ich dir ohne Unterlass dienen kann, deine Schuhe flicken, wenn sie zerrissen sind, deine Locken kämmen, wenn sie unordentlich sind, deine Kleider waschen, wenn sie schmutzig sind, und die Läuse aus deinem zerzausten Haar kämmen? Mein großartiger Geliebter, ich verspreche, immer deine Hände zu küssen mit größter Ehrfurcht, dir jeden Tag frische Milch zu bringen und deine müden Füße zu reiben, wenn sie schmerzhaft wund sind. Wenn es Zeit zum Schlafen ist, werde ich dein Bett machen und dein Zimmer blitzblank fegen. Mein Leben gehört dir, du kannst damit tun, was du willst; meine Ziegen, mein ganzer Lebensunterhalt, alles gehört dir, denn du bist meine einzige Liebe.

Moses hörte geduldig die blasphemische Litanei des Hirten an, bis dieser endlich verstummte. Ernst trat er vor und fragte den einfachen Hirten mit autoritärer Stimme:

Mit wem hast du gesprochen?

Da antwortete der Hirte unschuldig, ohne Moses zu erkennen:

Mit dem, der dich und mich, die Erde und den Himmel erschaffen hat

Moses konnte seinen Zorn nicht zurückhalten und rief entsetzt aus:

Du erbärmlicher Mensch! Was ist das für ein Unsinn, den du da von dir gibst? Ich bin Moses, dein Prophet, und ich sage dir, dass du sofort deinen verächtlichen Mund hältst. Der Schöpfer hat keine weltlichen Gliedmaßen; Schuhe sind für diejenigen, die sie brauchen, Milch ist
für jemanden, der noch wächst! Dein Lob macht keinen Sinn, also hör auf damit, bevor dein Leben für immer verflucht ist!

Erstaunt und beschämt seufzte der Hirte:

O Moses, du hast mir den Mund zugenäht! Ich bereue und wünsche mir, dass mein Leben in dieser Minute in ewiges Feuer gestürzt wird!

Dann stand er auf, riss sein Hemd auf, warf es in den Wind und schluchzte verzweifelt in die Wüste. Kurz nach dieser Begegnung überkam Moses eine tiefe Müdigkeit, die ihn in einen tiefen Schlaf fallen ließ, in dem er eine Offenbarung hatte:

Moses, was hast du getan?“ Moses erkannte sofort die unverkennbare Stimme Gottes. „Du hast meinen treuen Diener von mir entfremdet!
Habe ich dich als meinen Propheten gesandt, um mich mit meinem Volk zu vereinen oder um mich von ihnen zu trennen? Ich habe jedem seine eigene Art der Anbetung, seine eigene Form des Ausdrucks zugestanden. Ich brauche ihre Gebete nicht, aber sie brauchen sie. Was für dich wie Gift erscheint, kann für jemand anderen wie Honig sein. Ich schaue nicht auf das, was mein Volk äußerlich sagt, ich sehe nur, was in ihren Herzen ist. Ich möchte das brennende der Liebe sehen! Entzündet also das Feuer der Liebe in euren Seelen und verbannt eure nutzlosen
Gedanken ein für alle Mal!

Als Moses Gottes Worte hörte, drang die Süße seiner Weisheit in seine Seele, öffnete ihm die Augen für bisher unbekannte Geheimnisse und überzeugte ihn, immer über das Oberflächliche hinauszuschauen. Wenige Augenblicke später machte er sich auf den Weg in die Wüste, um den Spuren des Hirten zu folgen, und quälte sich mit seinen harten und unfreundlichen Worten gegenüber dem armen Mann. Es dauerte nicht lange, bis er die Fußspuren des Hirten fand, denn sie unterschieden sich deutlich von denen eines gewöhnlichen Menschen. An einigen Stellen hatte er seine Füße nachgezogen, kurz darauf humpelte er, dann ging er seitwärts und rückwärts, manchmal kroch er sogar, was alles auf seinen aufgewühlten Gemütszustand hindeutete. Nach einer Weile entdeckte Moses den Hirten in der Ferne und näherte sich ihm vorsichtig, wobei er leise sprach:

Mein lieber Hirte, du bist von Gott, dem Allmächtigen, selbst gesegnet worden!
Er hat mich dafür getadelt, dass ich so schroff zu dir gesprochen habe. Er möchte, dass du so betest, wie es dir gefällt. Tatsächlich liebt Gott deine einfachen Worte, die direkt aus deinem Herzen kommen. Du kannst so weiterbeten, wie du es immer getan hast, und Gott möchte, dass du weißt, dass er vollkommen zufrieden mit dir ist.

Der Hirte hob sein Gesicht zu Moses. Er war nicht mehr derselbe Mann; seine Augen gehörten nicht mehr zu dieser Welt, und seine Stimme erklang aus einer tieferen Tiefe.

Moses, ich habe deine hohlen Worte hinter mir gelassen; ich bin in meiner Seele wütend. Ich bin über die Erde und den Himmel gereist, tausend Jahre weit! Du hast deine Peitsche auf mein Wesen niedergehen lassen und mich in Welten jenseits meiner Träume geschleudert.
Gelobt sei dein peitschender Arm, der mir einen solchen Schlag versetzt und mich zu meiner eigenen Wahrheit erweckt hat. Ich kann nicht mehr erklären, wer oder was ich bin; ich weiß nur, dass ich wegsegele, aber wohin, kann ich nicht sagen.

Der Hirte verabschiedete sich respektvoll, wandte sich von Moses ab und taumelte davon, immer tiefer in die Wüste hinein, bis er nicht mehr zu sehen war.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Auch interessant
Schülerschaft - ewigeweisheit.de

Vom Wesen wahrer Schülerschaft im Sufismus

Es erzählt eine Geschichte von dem irakischen Sufi-Meister Ibrahim Al-Khawwas dem »Palmenweber«. Als Jüngling übergab er sich einem besonderen Lehrer. Er bat den älteren Weisen darum sein Schüler werden zu dürfen. Doch der sagte nur:…
Weiterlesen