Der Rhythmus des Lebens

Nun möchte ich zu Betrachtung verschiedener Analogien übergehen, welche mit der Atmung unmittelbar zusammenhängen. In dieses Kapitel sollen in diesem Zusammenhang auch das Assoziative Denken und das Analogiegesetz angesprochen werden.

Ich möchte den Atem jetzt also unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachten, obwohl natürlich alle hier angesprochenen Gedanken tatsächlich miteinander in Beziehung stehen. Die Praxis des Atmens lehrt uns – und auch hier wird erneut erkennbar, dass die Praxis für das Verständnis unverzichtbar ist – , dass es vier Phasen im Atemprozess gibt:

  1. Einatmen,
  2. Voll-Sein,
  3. Ausatmen,
  4. Leer-Sein.

Im Sanskrit, der heiligen Sprache Indiens, derer sich der Yoga bedient, heißen diese vier Phasen wie folgt:

  1. Puraka,
  2. Antara-Kumbhaka,
  3. Rechaka,
  4. Bahya-Kumbhaka.

Werden diese vier Phasen abstrahiert betrachtet, können sie folgendermaßen benannt werden:

  1. Bewegung,
  2. erreichen Zustand,
  3. Gegenbewegung,
  4. erreichter Gegenzustand.

Dies kann man sich auch nach dem Bilde eines Pendels vorstellen:

  1. Das Pendel schlägt nach rechts aus.
  2. Das Pendel erreicht den Höhepunkt seines Ausschlags rechts.
  3. Das Pendel schlägt nach links aus.
  4. Das Pendel erreicht den Höhepunkt seines Ausschlags links.

Diesen Rhythmus nun gilt es sich gut einzuprägen, was natürlich besonders effektiv durch bewusste Atemübungen erreicht werden kann. Nun folgt der nächst Schritt. Es geht um einen absoluten Grundbaustein aller Mysterien: Das Assoziative Denken. Das Assoziative Denken ist ein Denken in Entsprechungen und Analogien, also in der Form “Wie dieses, so auch jenes”. Damit steht es im Kontrast zum allgemein bekannten Kausaldenken: “Weil dieses, deshalb jenes”. Das Assoziative Denken gründet auf dem sogenannten Analogiegesetz, welches u.a. seine Niederschrift in der bekannten tabula smaragdina fand und häufig vereinfacht wie folgt zusammengefasst wird: Wie oben, so unten. Wie unten, so oben. (“Quod est inferius, est sicut quod est superius, et quod est superius, est sicut quod est inferius…” – tabula smaragdina)

Ich möchte im Folgenden dieses Gesetz zur Anwendung bringen und nach Analogie zur Atmung suchen: So wie sich der Atem “unten” im Menschen verhält, ebenso sollte es sich dem Analogiegesetz zufolge auch oben, beispielsweise im Himmel, verhalten. Ein erstes gutes Beispiel dafür ist der Sonnenlauf. Wichtig ist, zu beachten, dass bei der Anwendung des Analogiegesetztes die phänomenologische Erlebnisperspektive des Menschen beibehalten werden kann, in welcher sich z.B. die Sonne sichtbar um die Erde bewegt:

  1. Die Sonne geht auf.
  2. Die Sonne steht im Zenit (höchster Sonnenstand).
  3. Die Sonne geht unter.
  4. Die Sonne steht im Nadir (tiefster Sonnenstand), bzw. die Sonne ist weg.

Aber nicht nur die Sonne, sondern beispielsweise auch der Mond fügt sich ganz natürlich in diesen vierteiligen Rhythmus des Lebens ein:

  1. Der Mond nimmt zu.
  2. Der Mond ist voll – Vollmond.
  3. Der Mond nimmt ab.
  4. Der Mond ist leer – Neumond.

Vollmond - ewigeweisheit.de

Vollmond: Antara-Kumbhaka des Mondes (Bildquelle).

Natürlich können solche gefundenen Assoziationen auch für praktische Übungen verwendet werden. So kann z.B. die entsprechende Mondphase während der Atmung bei geschlossenen Augen imaginiert werden. Diese Übung findet sich beispielsweise unter der Bezeichnung Mondatmung bei Katja Wolff in ihrem durchaus lesenswerten Buch mit dem schlichten Titel ‘Magie’ (vgl.: Wolff, Katja: Magie. Kunst des Wollens – Macht des Willens. München: 1992, S. 184 ff). Der Phantasie und Kreativität, die verschiedensten sinnvollen Assoziationen mit der Atmung zu verbinden, sind dabei keine Grenzen gesetzt. Hier eine kurze Übungsbeschreibung in tabellarischer Form:

  1. Einatmen – vier Zählzeiten – Imagination: Der Mond nimmt immer weiter zu.
  2. Atem anhalten – zwei Zählzeiten – Imagination: Vollmond.
  3. Ausatmen – vier Zählzeiten – Imagination: Der Mond nimmt immer weiter ab.
  4. Atem anhalten – zwei Zählzeiten – Imagination: Neumond.

Beim Anhalten des Atems ist es äußerst wichtig, dies durch das Zwerchfell zu bewerkstelligen und niemals durch ein krampfhaftes Verschließen von Nasen- und Rachenraum! Es darf dabei grundsätzlich kein Druck oder Unterdruck in der Lunge entstehen. Als nächstes möchte ich gerne den Jahreskreis betrachtet, in welchem sich ebenfalls der Rhythmus des universellen Lebens finden lässt:

  1. Frühling: Es wird wärmer.
  2. Sommer: Es ist warm.
  3. Herbst: Er wird kälter.
  4. Winter: Es ist kalt.

Diesem Kreislauf folgt natürlich auch der Kreislauf der Vegetation, wie sich an den Bäum gut beobachten lässt:

  1. Der Baum treibt Blätter und Blüten.
  2. Der Baum steht in voller Blüte.
  3. Die Blätter und Blüten fallen ab.
  4. Der Baum steht kahl.

Es lassen sich noch eine ganze Menge anderer Analogien finden und ich möchte es an dieser Stelle gerne den Leserinnen und Lesern selbst überlassen, nach weiteren Entsprechungen zu suchen. Eine solche Analogie selbst zu entdecken und zu erfahren ist nämlich noch wesentlich beeindruckender, als irgendwo davon zu lesen! Ich meine allerdings, dass die bislang angeführten Beispiele genügen sollten, um einen Gedanken erkennbar zum Ausdruck zu bringen: Die vermeintlich einfachsten Dinge des Lebens, wie beispielsweise der Atem, spiegeln sich überall in der Natur und im Kosmos wieder. Wer dies erkennt und im Herzen begreift, in dem entsteht ein Gefühl der Verbundenheit mit allem, was ist, und des tieferen Sinns in allen Phänomenen. Im Leben des Menschen pulsiert derselbe Rhythmus, der auch im Baum, im Jahr, in der Sonne und im Mond pulsiert. Dieser Rhythmus ist das universelle Leben, ist Gott oder besser gesagt einer seiner Aspekte.

Die alten Kulturen schauten diese Wahrheit auf eine selbstverständliche, zum Teil fast kindlich einfache Weise, als sie Leben, Atem, Seele und Geist in ein und dasselbe Wort brachten. Und auch einer der wichtigsten, heiligen Gottesnamen der hebräischen Tradition, der Kabbalah, das sogenannte Tetragrammaton (τετραγράμματον: wörtlich heißt dies ‘Vierbuchstabe’), scheint diesen Rhythmus in seinen vier Buchstaben geradezu unmissverständlich auszudrücken: Jehovah (יהוה – zu lesen von rechts nach links):

  1. י – Die Bewegung,
  2. ה – Der Zustand,
  3. ו – Die Gegenbewegung,
  4. ה – Der Gegenzustand.

Der Mensch ist durch Analogien verbunden mit der ganzen Welt und der Atem ist ein wunderbares Beispiel dafür. Zuletzt möchte ich noch zwei besonders interessante Facetten dieser Analogie ansprechen. Die erste ist das Bild des atmenden Brahma in der indischen Philosophie. Brahma, so heißt es, atme ein und aus, und so entstehe und vergehe immer wieder die ganze Welt in einem gewaltigen Zyklus. In diesem Bilde findet sich ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit. Eine Fragestellung, die auch den Neoplatoniker Plotinus im dritten Buch der Eneaden und den christlichen, lateinischen Kirchenlehrer Augustinus von Hippo im elften Buch seiner Confessiones stark beschäftigte. Das indische Bild vom atmenden Brahma bringt dieses Verhältnis auf den Punkt. Brahma atmet in Ewigkeit, in seinem Atem entsteht und vergeht die Welt und damit auch die Zeit:

  1. Brahma atmet aus: Die Welt und die Zeit entstehen.
  2. Brahma hält den Atem an: Die Welt und die Zeit existieren.
  3. Brahma atmet ein: Die Welt und die Zeit vergehen.
  4. Brahma hält den Atem an: Die Welt und die Zeit existieren nicht.

Das zweite besonderes Bild, was ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen möchte, betrifft die Reinkarnation des Menschen. Bereits in der Illias von Homer findet sich im sogenannten Blättergleichnis (Homer: Illias VI, 146 – 149) der Vergleich zwischen den Menschengeschlechtern und den Blättern der Bäume. Wer erkennt, dass die ganze Natur vom Kreislauf des Lebens geprägt ist – Atem, Sonnenlauf, Jahreslauf, Mond … -, dem wird es immer schwerer fallen, zu glauben, dass das menschliche Leben sich wie eine mathematische Strecke verhalt soll, mit Anfang und Ende. Die folgenden Entsprechungen sollen diesen Umstand verdeutlichen:

  1. Frühling: Die knospenden Bäume treiben die Blätter. – Der menschliche Körper wird geboren. – Die Seele inkarniert.
  2. Sommer: Die Bäume stehen in voller Pracht. – Der menschliche Körper ist voll entwickelt. – Die Seele lebt im Körper.
  3. Herbst: Die Blätter fallen als Laub zu Boden. – Der menschliche Körper stirbt. – Die Seele trennt sich vom Körper.
  4. Winter: Die Bäume stehen kahl. – Der Körper löst sich auf, bzw. ist aufgelöst. – Die Seele lebt außerhalb der materiellen Welt.

Ebenso also, wie der Baum sich jedes Jahr neue Blätter schafft, so schafft sich auch die Seele jedes Erdenleben einen neuen Körper. Der Rhythmus des Lebens, welcher zugleich der Rhythmus des Atems ist, gewährt dem Menschen unter Anwendung des Analogiegesetzes tiefste Einblicke in die Mysterien des ewigen Lebens. Erforsche Deinen Atem, erforsche die Welt, erforsche das Leben, erforsche Dich selbst!

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