Der Tübinger Kreis und die Bruderschaft vom Rosenkreuz

Überall auf der Welt gibt es Menschen, die mit einem besonderen Attribut begabt sind: Sie wissen in sich den Kern ihres seelischen Seins zu empfinden, im Zentrum ihres Herzens, wo sie ein kleines flammendes Licht wahrnehmen, ein Licht das ihnen Hoffnung gibt.

Und in diesem mystischen Empfinden liegt auch ein Wunsch des Dienstes am Nächsten. Sie wissen um die Heiligkeit des Lebens auf Erden, ist es doch wovon unser aller Zukunft abhängt. Darum sind sie sich der Verantwortung für den Schutz des Lebens in der Natur bewusst. Man lernt da den praktischen Umgang mit den Elementen der Natur, lernt über die Tiere und Pflanzen ebenso, wie man Erkenntnisse gewinnt zur Schulung des Geistes.

Die Besagten aber lernen damit auch, wie sie in einer feindlichen Umgebung überleben können. Viele unter uns zählen zu diesen und sind damit Menschen die sich voll bewusst sind, dass wir uns zubewegen auf eine zunehmende Urbanisierung der Gesellschaft, wo selbst das Leben auf dem Land nicht mehr auskommt ohne Technologie.

Nur wenige von diesen Menschen aber, können aus verschiedenen Gründen solch teils unwegsamen Pfad auch zu Ende gehen. Jene unter ihnen aber, die sich darauf halten, finden früher oder später Wege, weitere, vollkommen neue Geistesschulen zu gründen.

Eine Erneuerung der christlichen Reformation

Schon in der Vergangenheit gab es diese Menschen, die anderen halfen ihren Weg durch die Welt des Okkulten zu navigieren. Keineswegs aber war irgendeinem darunter daran gelegen damit berühmt zu werden oder sich darum zu sorgen, ob sich jemand für ihr Leben und ihre Arbeit interessiert – oder eben überhaupt nicht interessiert. Einer unter diesen war der württembergische Theologe und Dichter Simon Studion (1543-1610). Aus seinen Arbeiten im Bereich der »Kunst der Vermessung des Tempels« (einem »Tempel der Menschheit«) sollte sich eine essentielle Kernlehre bilden, die wegweisend werden sollte, für die Gründung einer esoterischen Bruderschaft, dem »Tübinger Kreis«. Unter diesem Namen fasst man heute die geheimen Treffen eines Gelehrtenzirkel zusammen, aus dem einst die spirituelle Gemeinschaft der Rosenkreuzer hervorging.

Wer sich mit dem Tübinger Kreis beschäftigt, stößt bald auch auf den Namen Tobias Heß (1558-1614), einem deutschen Juristen, Mediziner und Theosophen, der ein Zeitgenossen des deutschen Mystikers Jakob Böhme (1575-1624) war.

Gemeinsam mit Christoph Besold (1577-1638), ebenfalls Jurist in Tübingen und ein »Mann von tadellosem Wandel, ruhigem und besonnenem Wesen«, wie ihn die Allgemeine Deutsche Biographie (1912) nennt, gründete Tobias Heß den Tübinger Kreis, einem Zirkel von zwölf Gelehrten, der sich intensiv beschäftigte mit den Heilkünsten des Paracelsus (1493-1541) sowie alchemistischer Naturphilosophie. Hierfür traf man sich, wie ebenso um mystisches, astrologisches und naturphilosophisches Gedankengut auszutauschen und darüber zu forschen. Hinter alle dem aber stand eben jene, oben angedeutete Motivation, zum Wohle der Menschen und des Lebens auf der Erde seinen Dienst zu leisten.

Andere, die an diesen besonderen Begegnungen in Tübingen zu gegen waren, waren der Philosoph Tobias Adami (Mitglied des Palmenordens) und der Jurist Wilhelm Bidembach von Treuenfels. Aus Tübingen nahmen an den Treffen außerdem teil der Arzt Samuel Hafenreffer, der Künstler Abraham Hölzel, der Jurist Thomas Lansius sowie der Astronom und Mathematiker Wilhelm Schickard.

Besonders die spätere Mitgliedschaft Johann Valentin Andreaes (1586-1654) sollte im Tübinger Kreis eine wichtige Rolle spielen. Er war der Verfasser der sagenhaften Legende von Christian Rosenkreuz.

Wahrscheinlich waren es die folgenden Anliegen, die Heß und Besold zur Gründung des Tübinger Kreises inspirierten:

  • Das Studium der okkulten Bedeutungen der biblischen Schrift,

  • die Erforschung besonderer Naturphänomene und

  • die Ausübung einer ganz eigenen Form der Lebensführung, die gekennzeichnet war von der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten.

In die Arbeit des Tübinger Kreises flossen auch Ideen ein, die ihren Ursprung in der jüdischen Kabbala hatten wie auch in der Geheimlehre der klassischen Alchemie. Die Grundideen ihrer christlichen Betrachtungen aber inspirierte wohl insbesondere ein lutheranischer Reformgeist. Und was sich in den Jahren des Zusammenwirkens des Tübinger Kreises allmählich zu einem esoterischen Wissenskorpus verfestigte, sollte neue Verhältnisse darin so ordnen, dass es damit später zur Gründung der Rosenkreuzer-Bruderschaft kam.

Die Mitglieder des Tübinger Kreises schufen durch ihre Arbeit ein Gedankengebäude, zur Entwicklung einer neuen christlichen Utopie – mit dem recht unbescheidenen Anspruch einer »Allgemeinen und General-Reformation der ganzen Welt«. Dies geschah mit der Absicht im Geheimen eine Erneuerung der christlichen Reformation einzuleiten, etwa 100 Jahre nach Luthers Thesenanschlag in Wittenberg.

Simon Studion - ewigeweisheit.de
Der Theologe Simon Studion: Sein Werk mit dem Titel „Naometria“ sollte die Gründung des Geheimbundes der Rosenkreuzer mit bestimmen.

Die Vermessung des neuen Tempels

Tobias Heß war ein Verehrer Simon Studions, dem Theologen von dem bereits oben die Rede war. Studion hatte in seinem 1596 vollendeten Lebenswerk, der »Naometria« (der Kunst der Vermessung des Tempels), einem rund 2.000 Seiten starken Buch über zahlenmystisch-numerologische Buchstabenberechnungen.

Einen wichtigen Ausgangspunkt für sein umfangreiches Werk bildete die »Mystische Arithmetik« seines Tübinger Lehrers, dem Theologen Samuel Heiland (1533-1592). Mit der Betitelung seines Werks bezog sich Studion, wie es heißt, auf die beiden Eingangsverse des 11. Kapitels der Offenbarung des Johannes:

Dann wurde mir ein Messstab gegeben, der aussah wie ein Stock, und mir wurde gesagt: Geh, miss den Tempel Gottes und den Altar und zähle alle, die dort anbeten!

Den Hof, der außerhalb des Tempels liegt, lass aus und miss ihn nicht; denn er ist den Heiden überlassen. Sie werden die heilige Stadt zertreten, zweiundvierzig Monate lang.

Grund für Studions Wahl des Titels Naometria, war dieses hier beschriebene Unglück, dass ja eben auf die weitere Bedeutung der Offenbarung des Johannes hinweist, bezeichnet man das Buch ja auch einfach als »Die Apokalypse«. Studion war einfach davon überzeugt, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe, doch ein darauf folgendes Goldenes Zeitalter der Herrschaft Christi. Das hatte er in seiner Naometria berechnet! Er verspürte in sich damit einfach die Pflicht, seinen Mitmenschen die Angst zu nehmen, vor eben dieser kommenden Endzeit. Studion zitierte dafür aus den Versen 1-5 des 9. Buches Hesekiel:

[…] Gekommen ist die Heimsuchung der Stadt (Jerusalem); ein jeder habe sein Werkzeug zur Zerstörung in seiner Hand! Und siehe, da kamen sechs Männer auf dem Wege vom oberen Tor her, das gegen Norden liegt, und jeder hatte ein Werkzeug zum Zerschlagen in seiner Hand. Aber es war einer unter ihnen, der hatte ein leinenes Gewand an und ein Schreibzeug an seiner Seite. Und sie kamen heran und traten neben den bronzenen Altar. Und die Herrlichkeit des Gottes Israels erhob sich von dem Cherub, über dem sie war, zu der Schwelle des Tempels, und er rief dem, der das leinene Gewand anhatte und das Schreibzeug an seiner Seite. Und JHVH sprach zu ihm: Geh durch die Stadt Jerusalem und zeichne mit einem Zeichen an der Stirn die Leute, die da seufzen und jammern über alle Gräuel, die darin geschehen.

Simon Studion empfand sich als der, der durch die heilige Stadt gehen und das Kreuzeszeichen auf die Stirne all der Menschen zeichnen werde, die von dem göttlichen Strafgericht der Endzeit verschont bleiben sollten. Er wollte mit seinem Buch den Menschen seiner Zeit eine Hilfestellung geben, mit dem sie sich auf die kommende Endzeit vorbereiten sollten.

Im Jahr 1604 legte er dann mit der »Naometria Nova« (Neue Naometrie) eine vollkommen überarbeitete Fassung vor. Doch auch wie die erste Veröffentlichung war diese erschienen allein als Manuskript. Doch es entstanden viele Abschriften davon. Man ließt darin vom Anspruch Studions, durch die Gnade des Heiligen Geistes imstande zu sein, jenem kleinen Tübinger Kreis (die er die »Naometa« nannte) eine Einführung in die heiligen Geheimnisse zu geben, die mit diesen weltbewegenden Ereignissen einer Endzeit von zentraler Bedeutung werden sollten.

Mit seinen Berechnungen wollte Simon Studion auf kommende, wichtige Ereignisse der Zukunft hinweisen, die sich seiner Überlegungen zu Folge bis zum Ende eines Weltzyklus ereignen sollten. Nicht zufällig kam er dazu. Schließlich herrschte unter seinen Zeitgenossen damals an sich schon große Verunsicherung, angestoßen wohl auch durch die Prophezeiungen seines älteren Zeitgenossen Nostradamus (1503-1566). Die Menschen spürten einen großen Wandel am historischen Horizont aufdämmern, was jedoch mit einer Hoffnung einherging, dass sich im damaligen Europa das Erwachen eines neuen Weltgeistes ereignen sollte.

Utopie Christianopolis

Johann Valentin Andreae begann 1604 an einem rätselhaften, romanartigen Text zu arbeiten: »Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz«. Gut möglich, dass er dabei eine ältere Geschichte einfach in ein neues, erzählerisches Gewand hüllte, deren Ursprung auf Überlieferungen aus dem Kreis des hochangesehenen, europäischen Hosenbandordens zurückgehen soll.

Anfang Oktober des selben Jahres 1604, in dem ja, wie wir oben bereits sagten, außerdem Simon Studion seine Naometria-Handschrift veröffentlicht hatte, wurden die Menschen in Europa Zeugen einer frühmorgendlichen Erscheinung am Himmel: Im Sternbild des Schlangenträgers leuchtete kurzzeitig ein heller Stern auf (was sich als Supernova deuten ließe). Diese Erscheinung löste bei vielen ein ehrfurchtgebietendes Erstaunen aus – sowohl unter Laien wie auch unter Gelehrten. Vor dem Hintergrund der von Studion angefertigten Berechnungen der Naometria, sollte genau dieses Ereignis das einleitende Moment bilden, für einen Neubeginn. Denn aus einem alten Tagebucheintrag des Tübinger Altphilologen Martin Crucius geht hervor, dass Heß und Simon Studion bereits 1597 politische Auswirkungen dieses Ereignisses für 1604 besprachen.

Auf dieses Ereignis soll auch verschlüsselt das Erste Manifest der Rosenkreuzer-Bruderschaft hindeuten: die Fama Fraternitatis die Tobias Heß 1614 anonym in Kassel veröffentlichte – ein Ereignis, dass den wohl wichtigsten Ausgangspunkt markiert für den Beginn der Arbeit der Rosenkreuzer. Darauf folgte 1615 die Veröffentlichung der Confessio Fraternitatis. Schließlich sollte 1616 dann die der Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreuz an die Öffentlichkeit kommen. Alle genannten drei, durch die Arbeit von Heß, Besold und Andreae geschaffenen »Manifeste zur allgemeinen Weltreformation« kamen zwischen 1614 und 1616 in Druck.

Im Jahr 1619 verfasste Johann Valentin Andreae dann eine christliche Utopie mit dem Titel: »Beschreibung des Staates Christenstadt« (Christianopolis). Darin beschreibt er die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der auf einer Insel die gleichnamige Stadt vorfindet und das Leben dort beschreibt. Das Andreae dabei eben auf das Werk Studions zurückgegriffen haben dürfte, liegt nahe, gleicht seine Beschreibung doch dem, was Letzterer in seiner Naometria (Vermessung des Tempels) darzustellen versuchte.

Wenn nun also ein Tobias Heß und später Johann Valentin Andreae sich dazu berufen fühlten, durch ihre Arbeit, diese, doch recht bewegenden Ereignisse auszulösen, geschah das wir wir zeigen wollten im Sinne einer höheren Bestimmung. Sonst nämlich hätte die Rosenkreuzer-Bewegung in all ihren verschiedenen Ausprägungen nicht bis zum heutigen Tage fortbestehen können.

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