Gott ist eine Essenz ohne Dualität, doch nicht ohne Beziehungen. Er ist die absolute, ungeteilte Gegenwart, an der alles Leben teilhat. Er ist die Essenz des Guten, Wahren und Weisen, die sich auf zwei Arten offenbart: als Seiendes und Werdendes. Gott bleibt ewig und unsterblich. Er verkörpert sich in weltlichen Geschöpfen, die aber sterblich sind.
Diese Arten göttlichen Erscheinens, bilden eine allumfassende Ganzheit. Sie wirkt sich direkt und indirekt auf die Welt und die in ihr lebenden Wesen aus: Z. B. einmal als das Grollen des Donners, ein andermal als das sanfte Gefühl des eigenen Herzschlags. Im Hinduismus steht dafür das »Schabda-Schabda«: Schabda ist der Grundton der Welt, wie auch der hörbare Lebensstrom eines jeden lebendigen Wesens. Schabda-Schabda ist der Klang des Urklangs, die lebendige Essenz der Essenzen. Das bezeichnet im indischen Vedanta das Wort »Advaita« – die ewige Einheit, an der alles in der Welt Anteil hat – jedes lebendige Wesen. In Advaita sind Seiendes und Werdendes eins.
Um den Sinn dieser göttlichen Einheit zu begreifen, bedarf es zunächst eines Wesens, das diesen Sinn überhaupt begreifen will. Und da Gott nicht ohne das von ihm geschaffene Leben existiert, ergeben sich unzählige Beziehungen zu all seinen Lebewesen. Im lebenspendende Atem von Mensch, Tier und Pflanze, ist Gott gegenwärtig. Das Wort »Atem« ist verwandt mit dem indischen »Atman«: das Selbst. Nicht zufällig üben alle Meditationsformen die Entwicklung eines Selbst bewussten Atmens. Wer vollbewusst seinen Atem »erkennt« und gleichzeitig sich vom Strom der Gedanken löst, der nähert sich der oben erwähnten Einheit Gottes. Wer immer die Einheit auf diese Weise unmittelbar erfahren hat, d. h. den in ihr innewohnenden Eigenschaften schon einmal gewahr wurde, beginnt die Aspekte des Göttlichen zu verstehen. So jemand kann sich jenseits des Bereichs der normalen Sinneswahrnehmung begeben und sich ganz von den äußeren Reizen lösen. Er überschreitet die Grenzen der endlichen Erfahrungswelt seiner Sinne, Gefühle und Gedanken – begibt sich jenseits des normalen Wahrnehmungshorizonts – kurz: er ist in der Lage die Grenzen seines Egos zu übersteigen. Erst dann wird der Prozess der Erkenntnis überhaupt in Gang gesetzt. Es ist die Erkenntnis, dass die mikrokosmische Person die in unserem Herzen wohnt, einer makrokosmischen Person entspricht, die im Herzen der Sonne wohnt. Das ist ein Bild dafür, was im Vedanta mit Atman und Brahman bezeichnet wird: dem individuellen Selbst und der kosmischen Weltseele.
Der Gott Brahma: Lehrer der Götter und der Menschen.
So können wir sagen, dass Gott nicht von irgendwo herkommt, noch zu irgendetwas wird, sondern sich allen möglichen Arten der Existenz, als lebenspendendes Wesen anbietet – was ja auch die Sonne gegenüber den Lebewesen auf der Erde tut. Den »Besitzern des Atman«, also den Menschen, ist selbst überlassen, ob sie dieses Angebot annehmen oder ablehnen, daran teilhaben oder es ignorieren.
Namen der Einheit
All die vielen Namen dessen, war wir hier zu definieren versuchen, sind nur Bezeichnungen eines selben, ewiglichen Seins und Werdens, das man Elohim, ein andermal Jahwe, JHVH, Christus, Deiwos, Zeus, Guda, Manitu, Tyr, Odin, Wodan, Isis, Gaia, Ymir, Aton, Ra, Brahma oder Allah nennt. Ein Gott oder eine Göttin verkörpern sich eben in der Form, wie sie von ihren Verehrern vorgestellt wird. Mal ist Gott ein alter Wolkenmann mit langem Bart, ein andermal der Gekreuzigte. Der Islam verbietet, sich überhaupt ein Bild vom göttlichen Namen zu machen. Wieder andere denken sich ihn als die »Emanationen aus den Schwingen des kosmischen Adlers«. All diese Namen und Verkörperungen dessen, was wir hier der Einfachheit halber aber weiterhin »Gott« nennen wollen, dafür steht in Indien die heilige Silbe »Om«. In etwas abgewandelter Form sprechen die Schamanen Zentralasiens »Ommen«, was natürlich dem im Westen gebräuchlichen »Amen« entspricht. Die heilige Silbe Om wird in der vedischen Tradition die »Essenz der Essenzen« genannt.
Die Essenz aller Lebewesen ist die Erde,
Die Essenz der Erde ist das Wasser
(denn sonst wäre sie nur Staub),
Die Essenz des Wassers sind die Pflanzen
(den sie wachsen nur dort, wo es Wasser gibt),
Die Essenz der Pflanzen ist der Mensch
(da er sich von pflanzlicher Nahrung ernährt),
Die Essenz des Menschen ist die Sprache
(denn durch sie unterscheidet er sich von anderen Lebewesen),
Die Essenz der Sprache ist der Rigveda
(der älteste Teil der indischen Veden),
Die Essenz des Rigveda ist der Samaveda
(der melodische Gesang der Verse des Rigveda),
Die Essenz des Samaveda ist der Udgitha
(das ist die heilige Silbe Om die in der Lithurgie gesunden wird).
Dieser Udgitha (Om) ist die beste aller Essenzen, ist die Höchste, die die höchste Stufe verdient, die Achte
(denn sie ist die achte Essenz all der hier aufgeführten Essenzen).
– Chandogya Upanischaden 1:1:1-3
Diese heiligen Verse aus den Upanischaden zeigen, was allen spirituellen Vorstellungen über Gott gemein ist: So wie der Pflanzensaft durch die Äste eines Baumes, gleichgeartete Früchte an seinen vielen Zweigen nährt, ebenso haben die vielen Gläubigen auf dieser Erde Anteil an einer ewigen, ungeteilten und werdenden Essenz, der sie nur ihre individuellen Namen, Formen und Symbole geben.
Der, die, das Eine
All die Formen in der Vorstellung eines Gläubigen, sind nur Mittel, sich dem Formlosen anzunähern. Der Mensch verwendet gesehene Bilder, um sich das Unsichtbare zu visualisieren, verwendet das Gehörte, um sich das Ungehörte vorzustellen. Ganz gleich ob wir ihn als männliches, weibliches oder neutrales Hauptwort bezeichnen, als die »Große Mutter«, »Allah«, »Sonne«, »Den Einen« oder sonst wie: sie alle vereinigen sich in der hier immer wieder erwähnten Essenz. Um an der lebenspendenden Essenz dieser universalen, spirituellen Einheit teilzuhaben, sollten wir uns aber allmählich von den vielen Vorstellungen darüber lösen.
Pilger beim Bad im heiligen Fluss Ganges (1880).
In den Fußstapfen unserer Vorgänger
Ist es nicht so, das wir alle irgendwelchen Vorgängern nachlaufen, die dieser Essenz, der göttlichen Einheit, nur unterschiedliche Namen gaben? Wir folgen ihren Fußstapfen, auf der Suche nach unserem eigenen spirituellen Weg. Doch in der »Welt der Wahrheit«, gibt es keine Wege, keine verborgenen Pfade die man auffinden könnte. Wir müssen den Mut haben, dieses »Land der Begriffslosigkeiten« selbst, ohne einen Führer zu betreten. Es ist, wie als würden wir einen Fluss durchwaten hinauf zur Quelle. Jeder weiß, dass auf dem Grund des Flusses alles fort gespült wird, woran man sich orientieren könnte. Ganz gleich wie breit dieser Fluss auch sein mag: gehen wir nicht bereits in die richtige Richtung, wenn wir uns gegen den Strom bewegen?
So wie das Wasser der vielen Seitenarme in den Flussdeltas von Ganges (Indien) und Nil (Ägypten) ins Meer fließen, so strömt sinnbildlich die Essenz der göttlichen Weltseele, in das Meer aller Menschenseelen.
Der Nil (NASA Bild aus dem Weltall).
Panta rhei – Alles fließt
Die alten Ägypter verehrten den Nil als göttlichen Vater-Mutter-Androgyn – als männlich-weiblichen Gott. Der Nil ähnelt einer fließenden Lebensachse, von Süden nach Norden – auf dessen beiden Ufern Bauern ihre Äcker bestellen. Hierin wird auf die anfangs erwähnte Nicht-Dualität Gottes hingewiesen. Zwar hat jeder Fluss zwei Ufer, er selbst kann sie aber nur als ein Fluss trennen. Somit verkörpert er ein Symbol der Befreiung von den Gegensätzen.
Wer sich immer zwischen den Polen von Rechtem und Schlechtem bewegt, wird brüchig, bis er gänzlich in der Hilflosigkeit der äußeren Lebensumstände erstarrt. Leben aber heißt Fließen.
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu.
Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben,
Wir sind es und wir sind es nicht.
– Aus Fragmenten der Vorsokratiker
Der Mensch muss lernen sich über die Gegensätze zu erheben, über das was war und das was sein könnte. Gutes und Böses, Angenehmes und Widerliches, Glück und Unglück sollten wir mit dem selben Gleichmut hinnehmen, als ob gar kein Unterschied bestünde. So nähern wir uns dem, was der alte chinesische Meister Laotse »Dao« nannte. Dao ist der eine Weg, auf dem jene gehen, denen die Vereinigung der Gegensätze gelingt –, symbolisiert durch das Yin-und-Yang. Wer diesem Weg folgt, wird Gott ähnlich. Dao wurde von den alten Chinesen auch als »Tau Gi«, der »Große Firstbalken« bezeichnet. Dieser Balken bildet in einem Haus das Gerippe, das die Sparren des Dachstuhls zusammenhält. Dieser Balken ist auch der Kiel, der das Unterste vom Balkenwerk des Schiffsbauches bildet (jenem Schiff, dass sich auf dem Lebensfluss auf die Quelle des Lebens zubewegt). Auch die menschliche Wirbelsäule entspricht diesem Einen, woraus die Rippen ebenso hervorgehen, wie die Rippen aus dem Kiel des Schiffsbauches. Im indischen Kundalini-Yoga trägt die Wirbelsäule den Namen »Meru«, da der Körper zur Wirbelsäule im selben Verhältnis steht, wie der Kosmos zum Weltenberg Meru (den die Juden »Moriah« nannten).
In diesem Dao – dem mittleren Weg – dem Dachkiel und Mittelpfosten unseres spirituellen Himmelsgebäudes, finden wir die Essenz der göttlichen Einheit. Nach ihr sollten wir suchen – sie sollten wir zu erkennen trachten.
Auch wenn wir uns gleichzeitig immer nur auf einem, dann auf einem anderen Pfad bewegen können, beabsichtigen letztendlich alle spirituellen Wege, den Menschen näher an die Essenz seiner lebendigen Seele heranzuführen. Dies erfolgt solange, bis eines Tages alle Seelen den letzten Schritt in ihrem Werdeprozess auf Erden gegangen sind. Dann verlassen sie den langen Inkarnationszyklus der Erde, um die unendlichen Weiten des Universums zu durchmessen. Ihnen bleibt auch nichts anderes übrig, denn dereinst, in einigen Milliarden Jahren, wird die Sonne mit der Erde und den anderen Planeten, wieder zu einer großen Einheit verschmelzen.