Kabbala ist der Name für eine Überlieferung und einer von Generation zu Generation weitergegebenen Lehre, die jedoch sorgfältig verwahrt wurde. Ursprünglich nämlich war es eine Geheimlehre, die in einem religiösen Akt nur vom Meister zum Schüler weitergegeben wurde – »von Mund zu Ohr«. Erst seit dem Mittelalter werden auch Schriften zur Kabbala weitergegeben.
Sie dienten als Vehikel für die esoterische Auslegungen der Heiligen Schrift. Diese Literatur enthielt weniger Erklärungen, als dass sie Kommentare zur Bibel waren, die den Leser zu Schlussfolgerungen führen sollten. Ziel war, ihm so die darin verborgenen, mystischen Bedeutungen zu vermitteln.
Zu den ersten Büchern die in dieser Zeit entstanden, zählt wohl das Buch Sefer ha-Bahir, das gegen 1180 veröffentlicht wurde und lange Zeit die Hauptgrundlage bildete, für eine danach immer mehr verschriftlichte Form der kabbalistischen Geheimlehren.
Der jüdische Religionshistoriker Gerschom Scholem (1897-1982) lieferte zu diesem Buch Bahir die erste deutsche Übersetzung. Er war auch einer der ersten modernen Wissenschaftler des Judaismus, der sich intensiv mit eben jener Geheimlehre der Kabbala auseinandersetzte und dazu an verschiedenen Instituten der Universitäten Deutschlands, sowie im Kreise deutscher Rabbiner, nach weiteren Anhaltspunkten suchte.
In frühen Jahren, als Scholem gerade begonnen hatte sich mit der jüdischen Mystik zu befassen, verwies ihn ein Weimarer Bekannter zu einem berühmten Rabbiner, der manchen als Kabbala-Experte galt. Scholem besuchte diesen Rabbi zuhause und sah bei ihm im Regal viele Bücher zur benannten Geheimlehre der Kabbala, was ihn natürlich neugierig machte. Doch als er den Rabbi darauf ansprach erhielt er als Antwort:
Was? Diesen Müll? Wieso glauben Sie ich würde meine Zeit damit verschwenden, solchen Blödsinn zu lesen?
Seit dieser eigenartigen Begegnung ahnte Scholem, dass er selbst wohl einer von ganz wenigen, wenn überhaupt anderen Juden war, die sich mit diesem durchaus vernachlässigten Thema befassen wollten. Gleichzeitig erkannte er darin aber auch eine Chance, durch seinen Beitrag zur Kabbala, tatsächlich Spuren zu hinterlassen, die ihn dann schließlich zum wichtigsten Kabbala-Gelehrten des 20. Jahrhunderts machen sollten.
Meine Recherche in der Geschichte der Kabbala habe ich nur darum gemacht, da ich einfach das Judentum liebte und zeigen wollte, dass die Mystik einen rechtmäßigen Platz in diesem Judentum einnimmt. Keine fremdartige Blume ist die Kabbala, sondern ein uransässiges Gewächs.
– Gerschom Scholem über seine Arbeit, in einer Unterhaltung mit dem amerikanischen Reformrabbiner Herbert Weiner
Die Kabbala als Lehre jüdischen Rabbitums
Scholem sehnte sich nach einer Reform der jüdischen Spiritualität. Das war der wichtigste Impuls, den er beim Verfassen seiner Texte verspürte. Während seiner Studienjahre repräsentierten solche Themen allein rabbinische Gelehrte. Er wollte die jüdische Spiritualität aber aus diesem rein sittengebundenen Kontext lösen, um sie auch einer sekular etablierten Schicht der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Das Judentum sollte sich damit fortentwickeln und seine Lehren nicht allein von einer dazu ernannten Autorität weitergegeben werden.
Trotzdem musste er mit diesem Versuch erst einmal scheitern. Die Lehre der Kabbala lässt sich eben nicht ganz und gar von rabbinischer Spiritualität trennen. Auch einer der berühmtesten und wichtigsten Gelehrten in der Geschichte der Kabbala war Rabbiner: Isaak Luria. Er und auch andere lebten all die Mystik des jüdischen Schrifttums der Bibel (das sogenannte »Alte Testament«) und des Talmud (Regeln in der Praxis und im Alltag von Rabbinern), besitzen diese Schriften doch, man könnte sagen, ein durch und durch mathematisch-logisch geordnetes Fundament – vorausgesetzt man berücksichtigt so diffizile Praktiken wie zum Beispiel die Gematrie (numerologische Bedeutung von biblischen Wörtern) und das Wissen vom esoterischen Wesen und der Symbolik der hebräischen Buchstaben.
Wenn ein Rabbiner also ein wahrer Kenner des jüdischen Schrifttums war, halfen ihm die Kenntnisse dessen was er aus Kabbala-Schriften erfahren konnte, tatsächlich seine religiöse Praxis auf einer höheren Ebene auszuüben. Es war jedoch immer eine Geheimlehre und niemals sprach ein Rabbiner über das damit verbundene Wissen. Gut möglich also dass der damals noch unerfahrene Gerschom Scholem, bei der zu Eingangs wiedergegebenen Episode auf jemanden traf, der eben nicht über so etwas wie die Kabbala sprechen wollte und darum den Inhalt seiner Bücher wie beschrieben herabsetzte.
Sicherlich aber sollte Scholems späteres Werk ganz wesentlich dazu beitragen, dass die Schriften der jüdischen Mystik und der Kabbala, überhaupt in dem heute verfügbaren Umfang zur Verfügung stehen. Denn die Gegenwartsliteratur zu diesen Themen kam durch ihn eben auch zu Menschen, die nicht aus einem rabbinischen, ja nicht einmal alle aus einem jüdischen Kontext stammen sollten.
Was aber bedeutet jüdische Mystik an sich?
Scholem war der Erste der all die alten Texte über die Kabbala laß und sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Seine Hauptbeschäftigung lag dabei wohl darin, aus dem gigantischen Schriftkorpus der Bibelliteratur, und den dazu verfügbaren Kommentaren, eine einheitliche esoterische Wissenschaft abzuleiten. Denn die Kabbala ist eigentlich nicht ein System, sondern wird eher als Oberbegriff verwendet, für viele verschiedene Geheimwissenschaften, die zur mystischen und magischen Religionstradition im Judentum zählen. Scholem versuchte darum eine symbolische Struktur zu schaffen, die die Kabbala als Ganzes zu erfassen sucht, innerhalb des Judentums und dem damit verbundenen Schriftwerk. Es sind eben auch viele Dinge in den kabbalistischen Schriften von Bedeutung, die sich jenseits theosophischer Theorien und Strukturen magischen Wissens bewegen.
Sicher aber ist vieles, was an kabbalistischen Lehren zur Verfügung steht, nur schwer zu durchdringen. Der Grund dafür ist einfach: Was an Kabbala aus den Kommentaren zu den Bibeltexten existiert, wurde eben von Rabbinern verfasst, von wahren Kennern der Heiligen Schrift. Sie besaßen das notwendige Hintergrundwissen beziehungsweise das in der Bibel verfügbare, nennen wir es »Grundwissen«, um die darin enthaltene Mystik auf einer ganz anderen Ebene zu verstehen, als jemand der sich beispielsweise zuerst einmal die Stammbäume der Propheten oder ähnliche religiöse Kenntnisse aneignen muss.
Der Sohar: Buch des strahlenden Glanzes
Die Gestalt des menschlichen Seins wurde im Kontext der Kabbala zum ersten Mal im Buch Sohar erläutert. Diese Schrift ist ein klassischer Text der jüdischen Mystik, die erst im Mittelalter, Ende des 13. Jahrhunderts in Spanien auftauchte, doch bereits im zweiten Jahrhundert n. Chr. entstanden sein soll.
Als Autor des Buches Sohar gilt der bedeutende jüdische Gelehrte Schimon ben Jochai, den manche als »Vater der Kabbala« bezeichnen. Gut möglich jedoch, dass es sich bei dieser Person um eine Kunstfigur handelt, die von dem Kabbalisten Mosche de Leon (1250-1305) erfunden wurde, was anscheinend auch seine Witwe später bestätigt haben soll.
Wie dem auch sei, wird dazu angegeben, dass der legendäre Schimon ben Jochai nun tatsächlich vom Propheten von Elija den Auftrag erhalten haben will, das Buch Sohar zu verfassen. Er sollte darin die Lehren vom Wesen Gottes in eine Form bringen, die ihm erlaubte von seinen Zeitgenossen auch verstanden zu werden. Da Gott aber verborgen ist, blieben auch die Mitteilungen über seine Natur höchst spekulativ. Aus diesem Grund kann man über das Buch Sohar sagen, es sei eine esoterische Auslegung der Tora (die fünf Bücher Mose). Für diese Auslegung beschreibt der Sohar vier Stufen, auf denen das Verstehen der Mystik der Tora erfolgen kann:
- Pschat, der wortwörtliche Sinn der Tora,
- Remez, seine allegorische Bedeutung,
- Drasch, die Auslegung seiner Bedeutung im Leben und
- Sod, seine esoterische, mystische Bedeutung.
Nicht zufällig wurde diese Reihenfolge gewählt, lässt sich aus den ersten Konsonanten dieser vier hebräischen Wörter doch der Begriff »P-r-d-s« bilden, mit entsprechenden Vokallauten versehen also »Pardes«: das Wort für den sagenhaften Obstgarten der Bibel, entsprechend dem deutschen Wort »Paradies«.
Schimon ben Jochai galt das Studium der Heiligen Schrift wie ein Gang durch den blühenden Garten des Paradieses, jenem heiligen Ort der biblischen Legende, auf dem später der Tempel Salomos errichtet werden sollte, dort auf dem Berg Zion, dem Wohnsitz JHVHs, dem Herrgott der Israeliten.
Siehe, ich und die Kinder, die der Herr (JHVH) mir gegeben hat, sind zu Zeichen und Mahnmalen in Israel geworden, vom Herr der Heerscharen, der auf dem Berg Zion wohnt.
– Jesaja 8:18
Der Lebensbaum der Kabbala: Jeder der Pfade die die 10 Sefiroth (große Kreise) verbinden, entspricht einem der 22 Buchstaben des Hebräischen Alphabets. Einen interaktiven Lebensbaum finden Sie hier.
Die wiederum vier Buchstaben des in diesem Zitat erwähnten JHVH (herb. יהוה, »Herr«), sind auf esoterische Weise verbunden mit der Zahl Zehn (theosophische Addition der Zahl Vier ergibt Zehn, denn 1 + 2 + 3 + 4 = 10). Und davon ausgehend spricht der Sohar auch von der Vorstellung von den zehn Sefiroth als die Sphären der Manifestation Gottes.
Über diesen zehn Manifestationen aber lässt sich das Unendliche erkennen, das die Kabbala »Ayn Soph« nennt (auch: En Sof, »das kein Ende hat«), aus dem sich das Sein aus einem einzigen Lichtpunkt (Dimension Null) in die vielfältigen Erscheinungsformen der Welt entfaltet – auch jetzt in diesem Moment.
In dieser Entwicklung der Welt nun kam es dann auch zur Erschaffung des Menschen in Gottes Ebenbild, wie davon in Genesis 1:26 die Rede ist:
Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich!
Was hier als »Bild« übersetzt wurde, das nennt die Kabbala das »Zelem«, die Formstruktur des in menschlicher Gestalt erscheinenden Gottes, über den gesprochen wird in der Bibel als »Zelem Elohim«, das heißt also »Gottes Angesicht«. Worauf obiges Zitat aus der Genesis natürlich hinweist, meint eben die Erschaffung des Menschen als Abbild des Göttlichen. Der Mensch kam in die Welt in Bezug zum Urbild Gott. Er ist das Ebenbild einer himmlischen Struktur, die Gott in eine körperliche, physische Form des Leibes auf Erden kleidete: zum ersten Mal als Adam.
Kann es Teile eines einigen Gottes geben?
Diese Auffassung von der Erschaffung des Menschen, beinhaltet allerdings ein Problem, das sich aus der Einheit des Göttlichen ergibt. Denn wie kann der Eine etwas erschaffen, dass seinem Ebenbild entspricht, doch dabei nur Eins bleiben, wenn doch eben ein Anderes, ihm gleiches Sein existiert?
Es scheint diese Interpretation, die durch die jüdische Mystik des Sohar in die Welt kam, nicht wirklich den Vorstellungen der Bibel zu entsprechen. Denn was den Mystikern da wichtig war, war die Frage:
Was eigentlich erzeugt die besondere und individuelle Essenz jedes menschlichen Wesens?
Bei dieser Frage ging es nämlich um die Seelenwanderung, etwas, dass unter Kabbalisten im Allgemeinen angenommen wurde. Aus diesem Grund empfanden es manche jedoch angemessen daran zu zweifeln.
Aber warum?
Die Voraussetzung der Seelenwanderung erhebt das Menschsein, als Abbild Gottes, in eine kosmische Ebene, so dass sich die Seele nicht nur während der Zeit eines Menschenlebens entfalten kann, sondern darüber hinaus fortlebt und dabei zu erreichen vermag, was ihr bisher vorenthalten blieb. Hierbei taucht eine weitere Frage auf:
Wie soll sich das Individuum vor diesem Hintergrund verwirklichen können?
Noch bevor der Sohar veröffentlicht wurde, nahm dazu Stellung der Schriftgelehrte Isaak ben Abraham ibn Latif von Toledo (1210-1282). Seiner Meinung nach konnte es so etwas wie Seelenwanderung gar nicht geben. Eine Vorstellung dass die Seele in der Welt fortbestünde, erschien Ibn Latif als schlicht absurd. Wie nämlich konnte einer versuchen das Göttliche im Menschen herleiten zu wollen, anhand der Vorstellung von einer Seelenwanderung? Damit nämlich würde man die Absicht jeglicher Individuation eines Menschen schlicht überflüssig machen.
Jene aber, die an die Seelenwanderung glauben, unterstellen Ibn Latif dass er sich eben noch nicht bewusst war dessen, was jedem individuellen Leben auf Erden eigentlich inhärent ist, als ein besonderes Element seiner eigenen Erscheinung. Und daraus ergibt sich die Frage nach dem Zelem des Menschen, etwas das geschaffen wurde, eine astrale Gestalt, in der sich die eigentliche Inkarnation abbildet.
Ist es also eine kabbalistische Form einer Vorstellung vom Selbst, als einer tiefer spirituellen menschlichen Essenz?
Oder ist es eine Art intuitive Vorstellung von seinem Astralleib, einem übernatürlichen Körper des Menschen?
Eine eindeutige Antwort darauf zu finden ist schwer. Zumindest aber ließe sich sagen, dass wenn dieser Astralleib des Menschen als solcher existiert, dann aber eine vermittelnde Funktion besitzen muss, sozusagen also die dritte Instanz ist, zwischen Körper und Seele. In diesem Astralleib, den wir zuvor mit dem Wort Zelem definierten, manifestiert sich im Menschen ein magisches Selbst, als reine, individuelle Gestalt eines schaffenden Elements.
Das, anders als wir hier, keiner der Schriftgelehrten wagte eine Schlussfolgerung zur Gestalt des Zelem niederzuschreiben und damit festzulegen, mag wohl an ihrer grundsätzlichen Geisteshaltung gelegen haben. Sie wollten nämlich nur indirekt auf etwas hindeuten, dass ihren Schülern erst im Erfahren eigener Erkenntnisse begreiflich werden sollte.
Schreiben über mystische Erfahrungen
Gemäß Scholem war den Kabbalisten, anders als was über christliche und muslimische Mystiker bekannt ist, weniger wichtig die persönliche Erfahrung zu beschreiben. Ihnen galt vielmehr eine Objektivierung der Heiligen Schrift als erstrebenswert, gelöst von dem Wunsch nach eigener Mitteilung. Was die Rabbiner in ihren mystischen Erfahrungen erlebten, wurde darum nur äußerst selten als ausdrückliche Beschreibung preisgegeben.
Den meisten Kabbalisten war wichtiger den Leser an das angedeutete mystische Wissen heranzuführen, ohne sich dabei etwa selbst ins Spiel bringen zu wollen. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass sie nicht auch selbst solche Erfahrungen gemacht hätten. Wie sonst nämlich wäre ihnen gelungen darüber auch zu schreiben?
Bei alle dem steht fest, dass die Kabbala sehr lange Zeit eine reine Geheimlehre blieb, über die keiner außerhalb des Kreises mit anderen sprach. Wie auch soll man das Unbeschreibliche, das wohl einer in einer ekstatischen Erfahrung, in seiner mystischen Vereinigung mit Gott macht, anderen anschaulich beschreiben wollen? Ebenso schwer wäre es wohl jemandem erklären zu wollen, wie es sich anfühlt wenn die Zunge ein Salzkorn berührt, der diese Erfahrung noch nie selbst machte.
Wenn nun also in den ersten Schriften der Kabbalisten gewagt wurde, über jene Geheimnisse mystischer Erfahrung zu sprechen, erfolgte das stets über besondere Zitate aus der heiligen Schrift, die eine ähnliche Erfahrung der darin beschriebenen Hauptakteure erwähnen.
Die Tore der Heiligkeit
In seinem Buch Schaare Keduscha, »Die Tore der Heiligkeit«, beschrieb der Hauptschüler des berühmten Kabbalisten Isaak Luria, der Rabbiner Chaim Vital Calabrese (1543-1650), eine kurze Anweisung zum mystischen Leben. Es geht in diesem Buch um diejenigen Eigenschaften, die ein Mensch in seinem Leben verwirklichen soll. Damit hatte er sozusagen ein Kompendium für »Kabbalistische Moral« geliefert, womit sich der Kabbala-Schüler auf ein wahrhaft heiliges Leben vorbereiten sollte, mit dem Ziel jedoch selbst prophetische Erkenntnis zu erlangen.
Was Vital aus allen möglichen Schriften älterer Kabbalisten schöpfte, sollte im Wesentlichen die Technik der Ekstase vermitteln. Das Buch, dass sich zwar in vier Teile gliedert, enthält leider nur drei Teile. Der vierte Teil wurde nie gedruckt,
da alles heilige Namen und verborgene Mysterien sind, von denen es sich nicht ziemt, sie zum Druck zu bringen.
so Vital.
Was er mit seinem Buch allerdings der Öffentlichkeit zugänglich machte, ist das, was wir oben bereits angeschaut haben, über die verschiedenen Anteile des Menschlichen Seins und die damit verbundenen Wesensglieder: Es geht im Schaare Keduscha um den fleischlichen Körper, der als Kleid der Seele auf Erden geboren, sich durch die Welt bewegt. Da spricht die Seele über ihre irdische Reise in Ich-Form, wie folgt:
Wie man weiß, ist der physische Körper des Menschen nicht seine eigentliche Identität. Man sagt dazu bloß Menschenfleisch, wie im Vers Hiob 10:11: ‘Du hast mir Haut und Fleisch angezogen; mit Gebeinen und Adern hast du mich zusammengefügt.’ Des Weiteren steht geschrieben in Exodus 30:32, ‘Auf Menschenleib soll’s nicht gegossen werden.’ Daraus lässt sich erklären dass der Mensch die innere Erscheinung ist, wohingegen der Körper einem Gewand aus Fleisch und Knochen gleicht.
Die intellektuelle Seele, die die wahre Identität ist, ist in den Körper so lange eingesetzt, wie eine Person sich in der physischen Welt aufhält. Mit dem Tod jedoch entledigt sie sich von ihrem körperlichen Gewand, wie es in Sacharja 3:4 heißt: ‘Nehmt die unreinen Kleider von ihm weg! […] Siehe, ich habe deine Sünde von dir genommen und habe dich mit Feierkleidern angezogen’. So wie der Schneider, nach Maß des Körpers einer Person, ein Kleid gestaltet, so auch macht Gott, gesegnet ist er, ein Kleid in der Form vom Ebenbild der Seele.
Er schuf 248 Organe plus 365 Adern die sie miteinander verbinden. […] Sobald Gott den Körper (des Menschen) geformt hatte, blies er ihm den Lebensgeist ein. Dieser Lebensgeist umfasst 248 spirituelle Organe und 365 spirituelle Adern, die in den 248 Organen und den 365 Adern des physischen Körpers angelegt sind. Damit verwirklichen sich die Organe der Seele durch die Organe des Körpers, die ihre Werkzeuge sind, wie die Axt in der Hand des Waldarbeiters. Der Beweis dafür ist die Tatsache, dass die physischen Organe nur solange ihre Funktionen ausführen, solange die Seele in ihnen weilt. […] Mit dem Tod, wenn die Seele entweicht, erlöschen die Lebenskräfte die den Körper zusammenhielten. Darum zerfallen dann die physischen Adern und Organe, verwesen und werden, so als ob sie niemals waren. Daher sehen wir, dass die eigentliche Identität einer Person ihre intellektuelle Seele ausmacht und den Körper bewohnt, der ihr als Gewand dient, während die Seele in dieser Welt bleibt.
– Aus Chaim Vitals Buch »Schaarei Keduscha«, Teil 1
Selbsterkenntnis und Prophetie
Was Rabbi Vital in seinem Schaarei Keduscha zu veranschaulichen versuchte, ähnelt also dem was wir zuvor sagten über das Zelem: das plastische Bild in dessen Gestalt der Urmensch erschaffen wurde. Gerschom Scholem verfasste aus der Handschrift Schuschan Sodoth hierzu eine Übersetzung, in der ein Rabbi Nathan, einer der Schüler des großen Abraham Abulafia, die Erscheinung dieser mystischen Gestalt des Zelem, in Verbindung bringt mit einer Erscheinung des menschlichen Selbst, das, wenn ihm ein Kabbalist begegnet, diesem die Gabe der Prophetie verleiht:
Wisse, dass das vollkommene Geheimnis der Prophetie für den Propheten darin besteht, dass er plötzlich die Gestalt seines Selbst vor sich sieht, wie sie mit ihm spricht und ihm das Zukünftige verkündet, und von diesem Geheimnis haben unsere Weisen gesagt: Groß ist die Kraft der Propheten, die die Gestalt mit dem Gestalter verglichen.
– Übersetzung aus dem Schuschan Sodoth, aus Gerschom Scholems »Von der mystischen Gestalt der Gottheit«
Wenn hier die Rede von der Gestalt und dem Gestalter ist, meint das eben wieder jenes Ebenbild Gottes (Genesis 1:26) in dem er den Urmenschen Adam formte und das auch alle anderen Menschen erhalten, sobald ihre Seele in die besagte Leibeshülle einzieht.
Auch von dem im 12. Jahrhundert lebenden Bibelkommentator Rabbi Abraham Ben Esra, erfahren wir über diese Gestalt in seinem Kommentar zum Bibelvers Daniel 10:21:
Der Hörende ist ein Mensch und der Redende ist ein Mensch.
– Übersetzung aus dem Schuschan Sodoth, aus Gerschom Scholems »Von der mystischen Gestalt der Gottheit«
Ben Esra sagt hier allerdings nicht, dass die beiden, Hörender und Redender, ein und der Selbe sind. Aber er weist darauf hin, dass es einerseits einen passiven, mit seinen Sinnen wahrnehmbaren, und andererseits einen von Geistigkeit erfüllten Menschen gibt, dessen Wesen ja die Sprache unterscheidet von den anderen Lebewesen.
Noch ein weiterer, nicht näher identifizierbarer Gelehrter, erfuhr ebenfalls diese Begegnung mit seinem Zelem. Darüber schrieb er:
Ich weiß und erkenne mit völliger Gewissheit, dass ich kein Prophet bin und keines Propheten Sohn, dass der Heilige Geist nicht in mir ist und ich keine Gewalt über die »himmlische Stimme« habe […] dass ich eines Tages saß und ein kabbalistisches Geheimnis niederschrieb, und plötzlich sah ich die Gestalt meines Selbst mir gegenüberstehen und mein Selbst von mir entrückt und war genötigt und gezwungen, mit Schreiben aufzuhören.
Wie auch in dem anderen Zitat hierzu, waren die Autoren über das Ereignis sehr überrascht, war es doch eine Erscheinung des Göttlichen, beziehungsweise jenes persönlichen Engels, der laut Kabbala wesensmäßig dem Menschen zugehört. Wer sich dabei also selbst sieht, nimmt, laut der geschilderten Erlebnisse dieser Autoren, eine sich verselbständigende Emanation seiner eigenen Wesenheit wahr, die ihm als sein Astralleib erscheint, das was wir zuvor nun als das Zelem definierten.
Dieser engelhafte »Doppelgänger« entspricht der vollkommenen Natur des Menschen. Es ist sein ganz und gar vollendeter, astraler Leib, der gleichzeitig das himmlische Gewand ist, das in der Welt mit seinen guten Taten wächst.
Wenn es also bei obigen Schilderungen um die prophetische Schau ging, wird demjenigen, dessen Seele aufs äußerste gereinigt wurde und dann seinem persönlichen Engel begegnet, nicht mehr als nur die reine Lichtfläche dessen erscheinen, was das Göttliche zu repräsentieren bereit ist.
Geheimhaltung in der Esoterik
Das bisher Gesagte streifte das ein oder andere Thema im Gesamtwerk Gerschom Scholems. Und da er, wie schon angedeutet, überhaupt als erster Nicht-Rabbiner über die jüdische Mystik und Kabbala schrieb, gilt seine Arbeit als Standard für den Einstieg in die Thematik. Vor allem sein 1941 erschienenes Buch »Major Trends in Jewish Mysticism« (deutsch: »Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen«) gibt, wie der Titel verspricht, einen Gesamtüberblick über dieses weite Feld kabbalistischer Geheimwissenschaft.
Ob er damit aus orthodoxen Kreisen Kritik erhielt, davon kann wohl ausgegangen werden, gehören solche Themen wie die Kabbala eben zu jenen, die eigentlich nur Menschen mit entsprechender Reife zugänglich sein sollten. Damit sprechen wir aber etwas an, was wahrscheinlich bis heute in der gesamten Welt der Esoterik manchmal ein Problem zu sein scheint.
Das Menschen, die offen gestehen sich mit Esoterik zu befassen, belächelt oder sogar ausgelacht werden, das hat seine Gründe. Sie nämlich streifen doch meist nur die Oberfläche dessen, worum es in Wirklichkeit geht: Etwas dass von Unbefugten falsch verwendet, weitreichende Folgen nach sich ziehen kann.
In seinem Buch schreibt Scholem dazu:
Die mündliche Überlieferung und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen waren eher die Regel, als nur Erklärungen abzugeben. Die Vielzahl von Anspielungen die man in diesem Feld der Literatur findet, wie etwa ‘Mehr kann ich nicht sagen’ oder ‘Ich habe es dir bereits mündlich erklärt’, sind nicht einfach nur Anflüge besonderer Redekünste. Eben genau diese Vagheit ist der Grund, wieso viele Passagen bis heute ungeklärt blieben.
– Gerschom Scholem in »Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen«
Und diese Unklarheit hat anscheinend ihren Grund. Denn mit dem Schreiben über Kabbala, dürfte ein Autor eigentlich nur anspielen auf die tatsächlichen Bedeutungen bestimmter Themen. Über sie aber eindeutig zu sprechen oder zu schreiben, sollte er eigentlich vermeiden.
Offenbar hatten Eingeweihte darum ihre Gründe, wieso sie mit Außenstehenden nicht über ihre Geheimnisse redeten. Sie wollten damit Irrtümer abwenden, die sie schnell auf gefährliche Abwege bringen würden.
In unserer modernen Informationskultur wird der Trend jedoch immer stärker, alles an die Öffentlichkeit befördern zu wollen. Das allgemeine Mitteilungsbedürfnis ist gestiegen, da aber andererseits, durch die Verwendung moderner Medien, die Aufmerksamkeit für unsere Mitmenschen abgenommen hat. In der sogenannten »Esoterik-Szene«, scheint sich jedoch jeder dazu berufen zu fühlen, gefundene Geheimnisse sofort hinauszuposaunen, meist ohne selbst überhaupt ihren Hintergrund erfasst zu haben oder tatsächliche Kenntnis über ihre innere Bedeutung zu besitzen.
Bei der Unzahl an esoterischem Wissen auf das man heute Zugriff hat, dürfte es dennoch schwer sein, wirklich wertvolle und brauchbare Erkenntnisse aus solchen Büchern über Mystik, Kabbala und Magie zu gewinnen. Fest steht auch, dass jene die etwa auch in jüngerer Zeit über »Praktische Kabbala« schrieben, wie auch schon ihre Vorgänger, darunter wohl besonders Abraham Abulafia, sich durch ihre Veröffentlichungen immer auch groben Anfeindungen ausgesetzt sahen, wobei manche sogar verfrüht den Tod fanden. Ob letzteres Schicksal nur solche belangte die als »Uneingeweihte« das kabbalistische Geheimwissen verwendeten, sei einmal dahingestellt.
Vom Umgang mit magischem Wissen
Sobald da jedoch die Rede ist von »Praktischer Kabbala«, sollte man aufhorchen. Denn dieser Begriff steht eben für nichts anderes als für Magie – gewiss eine Kunst, doch sie wird gebraucht, um selbst göttliche Kreationen zu bewirken. Abraham Abulafia war so ein Praktischer Kabbalist. Er war jedoch bestrebt sich im Rahmen seiner Religion damit zu beschäftigen. So glaubte er sich abzugrenzen von dem, was man als Schwarze Magie bezeichnet. Ob es aber eine wirkliche Trennlinie zu dem gibt was manche »Weiße Magie« nennen, ist doch recht zweifelhaft. Denn sobald man sich mit den Kräften dämonischer Wesen (Genien) befasst, nähert man sich damit auch den magischen Kreisen eher finsterer Gebiete, aus denen sehr wahrscheinlich auch unheilvolle Wesenheiten wirken.
Wie aber soll man sich dann überhaupt mit dem befassen, was durch Rabbi Abulafia geschaffen wurde? Jene 72 Namen des Schem HaMephorasch stammen aus seiner Feder. Er fand eine Anleitung sie zu formulieren und Erkenntnis über ihren Bezug zu den übergeordneten Welten und kosmischen Bezüge herzustellen.
Ganz sicher wandte er dabei aber ein Wissen an, das ganz und gar nicht jüdischen Ursprungs gewesen sein muss, sondern schuf Korrespondenzen mit der magischen Traditionen des Ostens, um sie einmal so zu nennen. Dabei zählte Abulafia zu jenen die sich entschieden gegen alles stellten, was unter dem Titel »Magie« stand. Die von ihm gefundenen Heiligen Namen für magische Rituale zu verwenden, verurteilte er scharf. Magie war für ihn schlicht eine Verfälschung wahrer Mystik, die ja eine innere Schau des Göttlichen anstrebt. Wenn er darum die Heiligen Namen verwandte, wollte er damit das eigene Ich erkennen, durchschauen und damit die »Magie eines Insichseins« verrichten.
Niemals aber lag Abulafia daran, durch seine Lehre über die Heiligen Namen, äußere Resultate hervorzurufen oder etwas sinnlich Spürbares zu manipulieren. Doch er betonte auch, dass dies im Grunde möglich sei, mit dem feinen Unterschied jedoch, dass sich alle auf diesem Weg mit üblen Flüchen beladen würden. Die Kräfte eben halten sich immer die Waage. Wer sie selbst aus dem Jenseits beziehen mag, wird damit dennoch das Gleichgewicht so stören, dass es letztendlich auf ihn zurückfällt und wenn er sich nicht in Acht nimmt, es ihn oder das was ihm lieb ist, unter sich begräbt.
Darum auch waren alle, die dennoch so verfuhren, für Abulafia nur Irregeleitete, die gerade einmal gut genug dazu waren einen echten religiösen Schock zu erleiden, womit sie ein für alle Mal vom Feuer ihres Leichtsinns gebrandmarkt werden sollten.
Scholems Werk
Das die Beschäftigung mit der Kabbala eine gewisse Verantwortung und Lebenserfahrung voraussetzt, sollte das bisher Gesagte vorschlagen. Dass Scholem zu diesem Wissen über tatsächlich wissenschaftliche Forschung kam, soll darum nicht unerwähnt bleiben. Er lieferte eine Landkarte über die Geschichte der jüdischen Religion und Mystik, worin er peinlich genau auf Details und Quellen einging. Damit schuf er eine echte Alternative zu dem, was seit dem 19. Jahrhundert an entsprechender Literatur in Europa kursiert. Scholems Werk ist dabei so umfassend, dass es wohl Jahrzehnte bräuchte alles davon zu durchdringen. Die vielen Texte und damit in Verbindung stehenden Persönlichkeiten der jüdischen Mystik, die Scholem aus alter Zeit ans Licht brachte, sollte die Grundlage werden für kommende Generationen Studierender der Kabbala.