Die Goldene Regel: Ein Grundsatz praktischer Ethik

Der natürliche Wunsch, so behandelt zu werden wie man andere Menschen selbst behandelt, ließe sich verstehen als wichtigster Leitgedanke in unserem Leben. Dafür steht der Begriff der »Goldenen Regel«. Es ist ein universaler Glaubenssatz dem man de facto überall auf der Welt begegnet. Natürlich ist da nicht immer die Rede von genau der selben Angelegenheit.

Ihrem Wesenskern nach aber wurde mit der Goldenen Regel stets versucht eine Ethik der Gegenseitigkeit im Denken der Menschen zu verankern.

Immer – mehr oder weniger – geht es darum:

Behandle andere so wie Du selbst behandelt werden möchtest.

beziehungsweise

behandle andere nicht so, wie auch Du nicht behandelt werden möchtest.

Was man anderen wünscht: wünscht man das nicht letztendlich sich selbst?

Im Alten Ägypten

Schon im Alten Ägypten stand für diesen Grundsatz Maat, die Göttin der wahren Gerechtigkeit. Im Mittleren Reich (2400-1650 v. Chr.) treffen wir auf ihn in der weitbekannten Erzählung von den Klagen des Bauers. Darin heißt es:

Das ist der Befehl: Tu dem, der tut, was er tun soll.

was soviel bedeutet, wie die berühmte Redewendung:

Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.

Im Hinduismus

Aussagen wie diese kannte man natürlich auch im antiken Orient, wie sie etwa im indischen Mahabarata zu lesen sind (einer Schrift der Hindus, die in den Jahrhunderten um die Zeitenwende entstand). An einer Stelle dieses wohl wichtigsten Epos des hinduistischen Schrifttums, reden der Weise Brihaspati und der König Yudhishthira miteinander über das Dharma (das Verständnis von Werten und Handlungen, die dem eigenen und dem Leben in der Gemeinschaft zu Gute kommen):

Man sollte anderen niemals etwas antun, was man selbst als Verletzung des eigenen Selbst ansehen würde. Kurz gesagt, das ist Dharma. Alles andere ist ein sich den Begierden ergeben.

– Mahabarata 13.114.8

Im Buddhismus

Auch der Buddha Siddhartha Gautama (623-543 v. Chr.) formulierte seine Variante der Goldenen Regel, die einen der Grundsteine seiner Ethik bilden. Hierzu heißt es in der buddhistischen Schrift der Sutta Nipata:

Wenn man sich mit anderen vergleicht, nach dem Motto: »Wie ich bin, so sind sie, wie sie sind, so bin ich«, sollte man weder töten noch andere zum Töten veranlassen.

– Sutta Nipata 705

Der Buddha spricht dies Prinzip der Goldenen Regel auch an in der Schriftensammlung der Dhammapada (die den Kern der buddhistischen Lehren bildet):

Wer, während er selbst nach Glück strebt, andere Wesen, die ebenfalls nach Glück streben, mit Gewalt unterdrückt, wird im Jenseits kein Glück erlangen.

– Dhammapada 10

Im Taoismus

In der chinesischen Weltanschauung des Taoismus, worin es um die innere Suche nach einem Leben in Harmonie mit dem Tao geht (Quelle aller Realität), finden wir auch eine interessante Variante der Goldenen Regel. In der wohl wichtigsten Schrift des Taoismus, dem Tao-Te-King des alten Meisters Laotse⁠ (um das 6. Jahrhundert v. Chr.) lesen wir dazu:

Der Weise hat kein eigenes Interesse, sondern nimmt die Interessen der Menschen als seine eigenen an. Er ist gütig zu den Gütigen; er ist auch gütig zu den Ungütigen; denn die Tugend ist gütig. Er ist treu zu den Treuen; er ist auch treu zu den Untreuen; denn die Tugend ist treu.

– Aus dem Tao-Te-King, 49. Kapitel

Wie es scheint, war Laotse bereits einen Schritt weiter. Denn nicht nur versuchte er mit seiner Aussage im Tao-Te-King anzudeuten, dass man sich eben so verhalten solle gegenüber anderen, wie man es sich von anderen gegenüber einem selbst erhofft. Wenn er nämlich von einer Güte gegenüber den Ungütigen spricht, bedeutet das doch letztendlich sogar eine Heilung des Zusammenlebens aller, das über die allgemeine Definition der Goldenen Regel hinausgeht.

In einer anderen, im 12. Jahrhundert entstandenen Schrift des Taoismus, über die Ursachen und Wirkungen (von Sünde und Verdienst), lesen wir, wenn auch in knapperer Form, Ähnliches:

Siehe den Gewinn deines Nächsten als deinen eigenen Gewinn an, und den Verlust deines Nächsten als deinen eigenen Verlust.

– Taishang ganying pian

Im Alten Griechenland und Rom

Etwa in dieser Zeit wurde die Goldene Regel auch in Europa als Voraussetzung für ein harmonischen Zusammenleben definiert. Viele Beispiele dazu gibt es im Kontext der griechischen Philosophie. So weiß man von dem Philosophen Thales (624 – 546 v. Chr.) zu berichten, dass er einst sagte:

Vermeide es, das zu tun, wofür du andere tadeln würdest.

Auch die Erben Pythagoras’ wussten um diesen Grundsatz, wenn sie schrieben:

Was du nicht willst, dass es dir widerfährt, das tue auch nicht selbst.

– Aus den Sentenzen des Sextus

Platon (420 – 347 v. Chr.) wiederum soll dazu gesagt haben:

Im Prinzip sollte niemand mein Eigentum berühren oder sich daran zu schaffen machen, es sei denn, ich habe ihm die Erlaubnis dazu gegeben, und wenn ich vernünftig bin, werde ich das Eigentum anderer mit demselben Respekt behandeln.

Auch hundert Jahre später bildete die Goldenen Regel bei den Epikureern den Grundsatz für ein glückliches Leben:

Es ist unmöglich, ein angenehmes Leben zu führen, ohne weise, gut und gerecht zu leben, und es ist unmöglich, weise, gut und gerecht zu leben, ohne angenehm zu leben.

– Epikur (341-270 v. Chr.)

Das in Epikurs Aussprache zitierte Wort »gerecht«, bezieht sich dabei aber immer auf eine, in gegenseitiger Verbindung getroffene Vereinbarung, was voraussetzt, dass keiner den anderen Schaden zufügt oder sie erleiden lässt.

Als Erben der griechischen Philosophie verstanden darum auch die alten Römer die hinter der Goldenen Regel wirksame Weisheit. Rom bildete in der alten westlichen Welt ja das Vorbild für alle danach dort entstehenden Staatensysteme, die ja immer auf einer hierarchischen Regierungsform basierten, was anscheinend auch den berühmten Staatsmann und Philosophen Seneca (4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) zu der Aussage bewog:

Behandeln Sie Ihren Untergebenen so, wie Sie von Ihrem Vorgesetzten behandelt werden möchten.

Im Judentum

Nicht aber nur im Kreise von Philosophen verstand man die Goldene Regel als wichtigsten Grundsatz für das Zusammenleben. Schon lange zuvor festgelegt, wurde eine solche auch im biblischen Buch Leviticus (Teil der Tora), worin es heißt:

Du sollst dich nicht rächen und keinen Groll gegen deine Verwandten hegen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst: Ich bin der Herr.

– Leviticus 19:18

Jüdischen Geistlichen, die um die Zeitenwende lebten, galt das Beschriebene gar als wichtigste Aussage der Tora, wie etwa Rabbi Hillel dem Älteren (110 v. Chr. – 10 n. Chr.). Hillel galt die Bruderliebe als fundamentaler Grundsatz aller jüdischer Ethik. Der 17. Vers des selben Kapitels eben meint da:

Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. Weise deinen Stammesgenossen zurecht, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden.

– Leviticus 19:17

Im Christentum

An zwei Stellen des Neuen Testaments dann, wird Jesus von Nazareth zitiert, der sich für die positive Form der Goldenen Regel ausspricht:

Und wie ihr wollt, dass man euch tut, so tut auch ihr ihnen.

– Lukas 6:31

Eine ähnliche Stelle findet sich im Lukas-Evangelium auch im Kapitel 10, worin wiederum das Zitat aus dem 19. Kapitel des mosaischen Buches Leviticus anklingt:

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.

– Lukas 10:25-37

Damit geht die Lehre Jesu hinaus über die negative Formulierung etwas nicht zu tun. Sein Ausdruck der Goldenen Regel ist positiv, denn er fordert dazu auf, dem anderen aktiv Gutes zu tun. Etwas also, von dem man sich wünschen würde, dass der andere es für einen tut, wenn die Situation umgekehrt wäre. Diese Formulierung also unterstreicht die Notwendigkeit positiven Handelns, das einem anderen Nutzen bringt und sich nicht einfach nur von negativen Handlungen zurückhält, die einem anderen Menschen schaden.

Auch der Apostel Paulus spricht von der Goldenen Regel in seinem Brief an die Galater:

Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, nämlich in diesem: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

– Galater 5:14

Im Islam

Schauen wir nun in Richtung Alt-Arabien, so finden wir die Goldene Regel auch dort, als allgemein anerkannten Grundsatz einer vollkommenen Lebensethik. Doch das erst mit dem Beginn des Islam. Zuvor nämlich betrachtete man in Arabien das Überleben des eigenen Stammes als wertvoller, denn das Leben anderer zu wahren, was durch den alten Ritus der Blutrache begründet war.

In den Hadithen, den gesammelten mündlichen Berichten über die Lehren des Propheten Mohammed (as), die er noch zu Lebzeiten mit den ersten Muslimen teilte, heißt es:

Ein Beduine kam zum Propheten, ergriff den Steigbügel seines Kamels und sagte: »O Gesandter Gottes! Bringe mir etwas bei, um damit in den Himmel zu kommen.« Der Prophet sagte: »Was du willst, dass man dir tut, das tue auch ihnen; und was du nicht willst, dass man dir tut, das tue auch ihnen nicht. Nun lass den Steigbügel los!«

– Aus der Hadith-Sammlung Kitab al-Kafi

Die hier zitierte Weisung des Propheten an den Beduinen loszulassen, ist die Aufforderung an den Mann jetzt zu gehen, das Gesagte in seinem Leben umzusetzen und danach zu handeln.

Auch ein anderer Hadith deutet auf die Goldene Regel hin:

Keiner von euch glaubt (an Gott), bis er für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.

– Aus den Hadithen An-Nawawis

In dem schiitischen Buch Nahdsch Al-Balagha, dem manche den Charakter einer Hadithen-Sammlung zuschreiben, kommt der Schwiegersohn des Propheten Mohammed (as) zur Rede, vierter Kalif der Muslime und erster Imam der Schiiten: Hadrat Ali ibn Abi Talib:

O mein Sohn, mache Dich selbst zum Maßstab (für den Umgang) zwischen Dir und anderen. So sollst Du für andere wünschen, was Du für dich selbst wünschst, und für andere hassen, was du für Dich selbst hasst.

Unterdrücke nicht, wie Du nicht unterdrückt werden willst. Tue anderen Gutes, wie Du möchtest, dass man Dir Gutes tut. Sieh als schlecht für Dich an, was Du als schlecht für andere ansiehst. Nimm von anderen das an, von dem Du möchtest, dass andere es von Dir annehmen. Sage nicht zu anderen, was Du nicht möchtest, dass es zu Dir gesagt wird.

– Aus dem Nahdsch Al-Balagha

Grundsatz für ein heilsames Miteinander

Wenn es um Gegenseitigkeit geht, vermittelt die Goldene Regel eine Verhaltensweise, die eine ganz eigene Echtheit besitzt, der Menschen scheinbar verschiedener Weltanschauungen, Weisheitslehren und Religionen zustimmen.

Trotzdem sind die meisten Menschen zuerst einmal sich selbst der Nächste. Gegen eine »gesunde Selbstliebe« lässt sich auch nichts sagen. Sie ist sogar sehr wichtig. Denn ist ein Mensch mit sich sehr unzufrieden, überträgt sich das ganz sicher auch auf seinen Umgang mit anderen. Das weiß jeder, der schon ein paar Jahre lebt. Darum sind Selbstliebe und Selbstachtung geradezu Voraussetzungen dafür, dass sich die Goldene Regel, als Achtung Anderer und Liebe zum Nächsten ausüben lässt.

Es geht bei diesem ethischen Grundsatz also nicht um irgendwelche Vorteile, mit denen einer seinem Ego schmeichelt, als hauptsächlich darum, dass ein Mensch grundsätzlich bereit ist etwas für andere zu tun. Dazu fordert uns die Goldene Regel auf. In ihr liegt die Erkenntnis, dass einem Mangel an Einfühlung in den Anderen, Egoismus zugrunde liegt. Damit lehrt die Goldene Regel den Egoisten, auch an andere Menschen zu denken und sich in sie einzufühlen, ohne sich dabei jedoch selbst aufzugeben. Selbstlose Menschen lernen mit Hilfe der Goldenen Regel auch an sich selbst zu denken und die natürliche Selbstliebe zum Ausgangspunkt und Maßstab ihrer Liebe zu anderen zu machen.

Um die Goldene Regel ihrem Zweck entsprechend zu verwirklichen, kann jeder Mensch üben, ein achtsames und aufmerksames Leben zu führen, um dabei auch zu erkennen was andere vielleicht an Hilfe benötigen; wissen wir doch selbst, dass ein Entgegenkommen anderer Menschen, als wahres Glück erfahren werden kann. So geht mit der Definition der Goldenen Regel auch einher, dass sich ein Mensch in andere Menschen einfühlt, da er verstanden hat, wie er sich an seiner Stelle fühlen würde. Denn nur wer sich in die Gefühle anderer hineinzusetzen vermag, ist in der Lage auch wirklich zu helfen.

 

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