In der buddhistischen Tradition Tibets spricht man von einer großen Vollkommenheit, in der alle spirituellen Wege gipfeln. In dieser höchsten Form meditativer Besinnung, wird die innerste Beschaffenheit des Geistes erkannt, als das was den Menschen ausmacht, in seinem wesentlichsten, reinsten Sein.
Was damit aber gemeint ist, lässt sich nicht eben mal in wenigen Sätzen niederschreiben. Es geht hier um die vollendete Praxis aller Meditationstechniken, die im Vajrayana-Buddhismus praktiziert werden.
Auch kann hierüber nur das geschrieben werden, was zu diesem Thema an Wissen anderweitig verfasst wurde, zumal es einer tatsächlichen Praxis bedarf, um von einer echten Beschreibung dessen reden zu können, worum es hier geht: Dzogchen – die Große Vollkommenheit. Es ist eine Form des Yoga, zur Vervollkommnung von Körper, Sprache und Geist, die über allen anderen spirituellen Disziplinen steht, weshalb man diesen Weg auch den »Ati-Yoga« nennt. »Ati« steht für etwas, das über das gewöhnliche Maß hinausgeht, worüber hinaus nichts erreicht werden kann: Ein ultimativer Zustand vollkommenen Gewahrseins.
Ursprünge des Ati-Yoga finden sich bereits im Sarva-Buddha-Sama-Yoga-Tantra, dem ältesten der yogischen Tantras (8. Jahrhundert). Tantra ist der Überbegriff für die esoterischen Lehren buddhistischer Philosophie und Religion. Ziel dieser yogischen Tantras ist eine Bewusstwerdung von der Beschaffenheit der Realität.
Die eigentliche Praxis des Ati-Yoga beziehungsweise Dzogchen, lässt sich vielleicht als ein unvermitteltes Erscheinen vollkommener Gegenwärtigkeit zusammenfassen. Das heißt, das hieraus alle Erscheinungen des Samsara (Kreislauf des Leidens in Leben und Sterben) und des Nirvana (Austritt aus dem Samsara) herrühren und wohin sie wiederum entschwinden. Diese Vergegenwärtigung der Realität findet jedoch nicht auf einmal statt, sondern wird erreicht über mehrere Phasen der Meditation und Veränderung der Geisteshaltung des Meditierenden.
Diese Phasen beziehungsweise Entwicklungsstadien, bezeichnet der Buddhismus mit dem Sanskrit-Wort »Yana«: einem geistigen »Fahrzeug«, worin eine bestimmte spirituelle Erfahrung gemacht wird, die sich, gemäß der Linie ihrer Ausübung, teilweise unterschiedlich äußern kann. So ein Yana soll dem Praktizierenden aber helfen, die mit seinem besonderen spirituellen Weg in Zusammenhang stehenden, geistigen Lasten zu tragen beziehungsweise ihn dabei auf seinem Weg zu unterstützen.
Im tibetischen Buddhismus ist die Rede von mehreren solcher Fahrzeuge, wobei im Fahrzeug des Ati-Yoga die vollendetste Geisteshaltung erfahren wird, da der Übende auf dieser Stufe das höchste Heilsziel erreicht hat.
Als der Buddha seine letzte irdische Inkarnation vollendet hatte und durch seinen Tod geschritten war, wirkte er von da an, in ätherischer oder astralischer Gestalt, in das Geschehen auf Erden hinein. In gewisser Weise ein Beispiel für die Lebensgeschichte des Buddha Shakyamuni (des indischen Religionsstifters Siddhartha Gautama, durch den der Buddhismus begründet wurde).
Welcher Weg dorthin gegangen werden muss und in welchen weiteren Fahrzeugen sich der Übende dabei bewegt, dem wollen wir uns im Folgenden zuwenden.
Lehren der tibetischen Nyingma-Schule
Erst im 10. Jahrhundert taucht in Tibet die Lehre vom Ati-Yoga auf. Wahrscheinlich aber sollte diese Sanskrit-Bezeichnung überflüssig werden, da man dafür nur noch den tibetischen Begriff Dzogchen verwendete. Vorstellungen über das spirituelle Fahrzeug des Ati-Yoga, waren deshalb in Tibet bis ins 13. Jahrhundert hinein umstritten, zumal man ein System mehrerer Fahrzeuge (Yanas) noch nicht in Erwägung gezogen hatte. Der ehrwürdige Meister Sakya Pandita (1182-1251) etwa sprach davon:
Versteht man diese Tradition in ihrer wahren Bedeutung, dann ist auch Ati-Yoga ein Weisheitsweg und nicht etwa ein Fahrzeug (Yana).
– Aus Sakya Panditas »Unterscheidung der Drei Schwüre«
Erst später sollten die Begriffe »Dzogchen« und »Ati-Yoga« synonym verwendet werden, wie etwa im Kulayaraja-Tantra, dem ersten Text der tibetischen Schriftensammlung des Nyingma Gyübumaus aus dem 14. Jahrhundert. Fest steht außerdem, dass Ati-Yoga zwar ein Begriff ist aus dem Sanskrit, doch sich in Tibet entwickeln sollte. Ihren Ursprung aber soll die Lehre über das Dzogchen von Samantabhadra stammen – einem der acht großen Bodhisattvas des Mahayana-Buddhismus. In den Dzogchen-Lehren heißt es dazu, dass unsere wahre Wesensbeschaffenheit, im Kern dieser Buddha-Natur entspricht und daher auch aus uns heraus entwickelt werden kann. Der tibetische Lama Sogyal Rinpoche (1947-2019) schrieb dazu:
Kuntu Zangpo (tibetischer Name des Boddhisattva Samantabhadra) repräsentiert die absolute, unverhüllte, himmelsartige, Ur-Reinheit der Wesensbeschaffenheit des Geistes.
– Aus Sangyal Rinpoches »Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben«
Nun erzählen die Lehren der tibetischen Nyingma-Schule von dem alten Weise Garab Dorje, der als derjenige Lehrer gilt, der diese Schule gründete (zu der auch der eben erwähnte Sogyal Rinpoche gehörte). Garab Dorje aber kam nicht auf natürliche Weise zur Welt und über seine exakte Herkunft liegen keinerlei Daten vor. Gemäß der Überlieferung aber stammt er aus jenem Land von Oddiya, aus dem auch der große Padmasambhava stammte, der zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert lebte und Begründer des tibetischen Buddhismus war. Oddiya wird als ein Land beschrieben, dessen Bewohner spirituelle Vollkommenheit erlangt haben, in etwa zu vergleichen mit dem, was die westliche Tradition das »Paradies« nennt. Es ist wohl ähnlich jenem Land zwischen dem heutigen Pakistan und Afghanistan, wo manche das sagenhafte Königreich von Shambhala vermuten.
Der Überlieferung nach, erhielt dieser Garab Dorje seine Lehren des Dzogchen, vom höchsten, transzendenten Buddha Vajrasattva, nachdem dieser wiederum dazu inspiriert wurde, durch den zuvor erwähnten Bodhisattva Samantabhadra. Hierdurch erlangte Garab Dorje das Nirvana, starb und ging dabei in den Zustand des sogenannten Regenbogenkörpers über, als sich sein physischer Leib in Licht auflöste. Seinem wichtigsten Jünger Manjushrimitra erschien er da vom Himmel in Form einer lichtumringten, in den Farben des Regenbogens schimmernden Wolke und rief:
Ach, ach! O großer Raum! Wenn das Licht, unser Lehrer, erloschen ist, wer wird dann da sein um die Dunkel der Welt zu bannen?
– Aus dem Buch »Dzogchen: Die Herz-Essenz der Grossen Vollkommenheit« des 14. Dalai Lama
Während dieses doch ungewöhnlichen Ereignisses aber, erschien dem Manjushrimitra auf einmal die Hand seines Meisters Garab Dorje, worin sich eine winzige golden Urne, in der Größe eines Fingernagels befand. Die stieg plötzlich auf und umkreiste Manjushrimitra dreimal. Hernach landete sie in seiner Hand, woraus sich das Testaments Garab Dorjes entfaltete, geschrieben auf Papier wertvollster Beschaffenheit: das sogenannte »Treffen der Essenz in den drei Welten«. Darauf war geschrieben, mit Tinte aus reinem Lapis Lazuli:
Die Erscheinung der innersten Natur des Geistes (Rigpa) sei hiermit eingeführt,
Entscheide dich für eine Sache und nur für eine Sache,
Habe vollkommene Zuversicht in die Freisetzung aufsteigender Gedanken.
– Aus Garab Dorjes »Treffen der Essenz in den drei Welten«
Im Erkennen dessen, erreichte Manjushrimitra den selben Grad an erfüllender Erkenntnis, wie auch sein Meister. Es heißt außerdem, dass die ersten vier Nachkommen des Buddha Vajrasattva – Garab Dorje, Manjushrimitra, der chinesische Gelehrte Shri Singha und der indische Meister Jnanasutra – ihrem jeweiligen Nachkommen auf die selbe, oben beschriebene Weise ihr spirituelles Erbe vermachten. Dabei verschmolzen die erleuchteten Geister von Meister und Schüler untrennbar miteinander, woraus die eine Weisheit des Dzogchen aufstieg. Auch Padmasambhava, der im 8. Jahrhundert den Buddhismus in Tibet etablierte, war ein Schüler in der Abstammungslinie der Dzogchen-Tradition und ein Schüler des Shri Singha.
Sein anderer Schüler Jnanasutra lebte als Einsiedler, der sich sein Leben lang der Meditation widmete. Auch dessen Leib sollte sich bei seinem Todeszeitpunkt in der Regenbogenkörper aufgelöst haben.
Manjushrimitra: Schüler des großen Weisen Garab Dorje. Er war es, der im 8. Jahrhundert die Dzogchen-Tradition in Tibet etablierte.
Achtsamkeit und die Wahrnehmung des Hier und Jetzt
Garab Dorje war es, der die Überlegenheit des Dzogchen gegenüber den Lehren der klassischen Mahayana-Schule des Buddhismus darlegte. Niemandem gelang dies zu widerlegen.
Im 9. Jahrhundert als der große indische Meister Padmasambhava nach Tibet kam, kam es dort zur Formung dieser neuen Schulrichtung des Vajrayana-Buddhismus, dessen Angehörige eine Vielzahl verschiedener Meditationsmethoden ausüben.
Einer der größten Dzogchen-Meister des 20. Jahrhunderts, der in Tibet geborene Kyapje Dunjom Rimpoche (1904-1987), schrieb über die Erscheinung des Dzogchen:
Alles beginnt mit der Vision. Die Vision im Dzogchen vermag zu sehen, was wirklich ist – die Natur des Seins an sich. Das ist die eigentliche Form des Seins, in der der Geist keine Unterscheidungen macht und auch keine Urteile fällt. Der Zustand der Wahrnehmung heißt »Rigpa«. Rigpa ist reine Wahrnehmung des Hier und Jetzt. Wir können diese Wahrnehmung eigentlich durch nichts zum Ausdruck bringen oder sie mit irgendetwas anderem vergleichen, dass sie beschreiben könnte. Sicher aber ist sie alles andere als der gewöhnliche Zustand emotionaler Verwirrtheit und widersprüchlichen Gedanken, noch aber ist es auch nicht das, was man das Auslöschen des Nirvana nennt. Es ist ein Zustand der nicht hergestellt oder entwickelt werden kann, ebenso wenig wie man diesen Zustand unterbrechen oder auslöschen könnte. Weder können wir uns davon befreien noch davon irregeleitet werden. Es ist unmöglich zu sagen, dass wir in diesem Moment tatsächlich existieren, noch können wir sagen dass wir nicht existieren. Es ist weder eine Erfahrung des Unendlichen, noch von etwas Bestimmtem.
Kurz: da die Natur des Geistes, die Große Vollkommenheit, Rigpa, nicht gebildet werden kann als ein bestimmtes Ding, ein Zustand, eine Wirkung, erscheint es als ultimative Leerheit, die es seinem Ursprung nach vollkommen rein sein lässt, alles beherrschend und alles durchdringend.
Mit dem was also Kyapje Dunjom Rinpoche über Dzogchen sagt, ist es jenseits aller verwirrenden Gedankenströme, die sich uns aufdrängen, in unserem tagtäglicher Drang, über alles Mögliche zu urteilen und zu grübeln. In dieser Zerstreutheit nämlich wurzeln alle triebhaft gesteuerten Wünsche. Sie aber sollte man durch eine alles durchdringende Achtsamkeit ersetzen, indem man bei jeder Tätigkeit eben nur die dafür zu vollziehenden Handlungen aufmerksam ausführt, ohne währenddessen über dies und jenes nachzudenken, das nichts mit dem gegenwärtigen Geschehen zu tun hat.
Es ist eben die Ablenkung von dem was gerade hier und jetzt ist, so die tibetischen Eingeweihten, die in uns Leid aufkommen lassen. Doch auch wenn man eben gerade leidet, welcher Ursache dieses Leid auch immer geschuldet sei, sollte man sich zuerst einmal dem Wesen dieses Leids zuwenden, seiner Essenz. In diesem Schauen aber kann es der Meditierende zur Auflösung bringen, da er dabei zur Klarheit dessen kommt, was ihn leiden lässt. Und was für das Leid gilt, gilt ebenso für Gefühle des Stolzes, der Wut, der Faulheit, der Verwirrung und der eigenen Überheblichkeit.
Die spirituellen Fahrzeuge der buddhistischen Tradition
Wir hatten oben bereits von den »Yanas« gesprochen, den Fahrzeugen. Da beschrieben wir sie als Mittel, um eine besondere Geisteshaltung zu entwickeln, die einem Menschen auf seinem spirituellen Weg dabei hilft, in der Realität zu Wohlergehen zu finden. Im Buddhismus gibt es dazu drei solcher Geisteshaltungen, in denen sich jemand zur Erreichung seines Lebenszieles bewegt:
Hinayana – das kleine Fahrzeug,
Mahayana – das große Fahrzeug und
Vajrayana – das Diamant-Fahrzeug.
Dabei lassen sich die beiden Fahrzeuge des Hinayana und Mahayana zusammenfassen als Sutrayana, gewissermaßen ungezwungene Methoden, die vielleicht auch nur für eine gewisse Zeit angewendet werden. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie sich nicht wirksam einsetzen lassen, da sie die Erlangung von Weisheit und besonderen Verdiensten erstreben, um damit Buddhaschaft zu erlangen: die Erleuchtung zur wahren Wesensnatur und zum grenzenlosen Potential des Lebens.
Die drei Yanas des Sutrayana
Es gibt insgesamt neun Fahrzeugen. Zwei davon betreffen das Hinayana, eins das Mahayana, jedoch sechs das Vajrayana. Die ersten beiden, dem Hinayana zugehörigen Fahrzeuge sind das
1. Shravaka-Yana und das
2. Pratyekabuddha-Yana.
Ersteres der beiden betrifft jene Übenden, die den Anweisungen eines Meisters folgen und auf diesen tatsächlich angewiesen sind. Mit dem Pratyakabuddha-Yana bewegt sich einer jedoch ohne Meister, da er aus eigener Kraft Weisheit zu erzeugen vermag. Im Hinayana, das diesen beiden Fahrzeugen übergeordnet ist, basiert die hauptsächliche Handlungsweise auf dem Asketentum, dass sich von Sinnesgenüssen abwendet und nur von den allernotwendigsten Dingen ernährt (das sind Almosen) und kleidet (weggeworfene Kleider), sowie an abgelegenen Orten lebt (zum Beispiel an oder auf Friedhöfen oder unter einem Baum im Wald).
Mit dem
3. Bodhisattva-Yana, bewegt sich jemand auf seinem spirituellen Pfad in ein Feld ultimativen Erfahrens. Dieses Fahrzeug führt den Praktizierenden, durch seine gekonnten Methoden, zu umfangreichen, tiefgehenden Einsichten der höheren Welten und dessen, was man als das endgültig Gut bezeichnet.
Das Bodhisattva-Yana ist Teil des Mahayana, das die Erreichung des Bodhichitta erstrebt: der mitfühlende Wunsch Erleuchtung zu erlangen zum Wohle aller Wesen. Das ist der Wunsch der Bodhisattvas, der erleuchteten Weisen, die über das Bodhipakkhiyadhamma meditieren, die 37 erforderlichen Dinge zur Erleuchtung: Die Vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipatthana), die Vier Rechten Anstrengungen (Samma Padhana), die Vier Wege zum Erfolg (Iddhipāda), die Fünf Fähigkeiten (Indriya), die Fünf Kräfte (Bala), die Sieben Erleuchtungsglieder (Bojjhanga), den Edlen Achtfache Pfad (Ariya Atthangika Magga).
Symbol des Dzogchen: Im Innern ist die tibetische Variante der heiligen Silbe „Om“ zu sehen.
Die drei Tantras des Vajrayana
Im Vajrayana, dem diamantenen Fahrzeug, ist die Rede vom »Tantrayana«, den Fahrzeugen der Verwirklichung. Es geht da eben nicht mehr darum die Ursachen eines vollkommenen Pfades zu schaffen, sondern sich direkt zur Identifikation mit den Wirkungen zu führen. Was bedeutet das?
Im Tantra geht man davon aus, dass Bedeutung, Art und Ausdruck des endgültigen Ziels auf dem Weg zur Buddhaschaft, sich bereits in den tiefsten Ebenen des Gemüts befinden und nicht erst im Außen gesucht und gefunden werden müssen. Doch Unwissenheit und Fehlannahmen verdunkeln diesen Bereich des Bewusstseins. Im Tantra aber geht es darum, diese, sozusagen »verunreinigte« Sicht auf die Dinge, durch die Entwicklung von reinen, klaren Visionen zu transformieren, in der Arbeit mit dem Körper, der Sprache und dem vernünftigen Geist.
Da dieses Fahrzeug nun aber einen durch und durch geklärten Geist voraussetzt, spricht man eben vom Vajrayana, dem Diamant-Fahrzeug. Die ersten drei der sechs Fahrzeuge des Vajrayana, nennt man auch die Fahrzeuge des vedischen Asketentums:
4. Kriya-Tantra, was das äußerliche Verhalten und Handeln des Praktizierenden rituell reinigt,
5. Charya-Tantra, das sich der äußeren Fortentwicklung den Belangen des Körper und der Sprache widmet, doch sich gleichzeitig übt mit einem vollkommenen Aufgehen im Innern des Geistes (Samadhi), sowie dem
6. Yoga-Tantra, das die innere Meditation über die Wirklichkeit beinhaltet.
Im Kriya-Tantra und Charya-Tantra, begibt sich der Übende auf den Pfad äußerer und innerer Klärung und Läuterung. Hierbei visualisiert sich der Meditierende verschiedene Gottheiten beziehungsweise Buddhas. Dafür rezitiert er bestimmte Mantras. Im Charya-Tantra aber werden diese Mantras (heilige Gebete) gemäß der esoterischen Bedeutung der dabei ausgesprochenen Silben bewusst gemacht, die jeweils mit Formung einer besonderen Handgeste (Mudra) einhergehen. Diese beiden Tantras führen den Übenden zum Erwachen im Bewusstsein der drei Buddhas des sogenannten Erleuchtungskörpers (Vairochana), der erleuchteten Sprache (Amitabha) und des erleuchteten Geistes (Akshobya).
Mit dem Fahrzeug des Yoga-Tantra aber begibt sich der Übende auf den Pfad der Transformation, indem er sich selbst als in die entsprechende Gottheit umgewandelt visualisiert. So wird er sich dessen bewusst, was als erleuchtetes Handeln (Buddha Amoghasiddhi) bezeichnet wird und erreicht damit das wirklich Bedeutsame: ein Erfahren der Leerheit des Geistes (bar jeglicher Gedanken) und einem damit verbundenen realisieren des »Reinen Lichts«, was die grundlegende Wurzel allen Bewusstseins ist.
Die drei Yogas des Vajrayana
So wie die drei Fahrzeuge des Kriya-Tantra, des Charya-Tantra und des Yoga-Tantra, drei äußere Tantras bilden, folgen ihnen drei innere Tantras, die auch die »geheimen Fahrzeuge« genannt werden:
7. Mahayoga gehört, wie auch das Yoga-Tanra, zum Weg der Transformation. Es ist der »große Yoga« (sanskr. »maha«, groß), der sich zuerst der bereits im Yoga-Tantra angedeuteten Erfahrung der Leerheit widmet.
8. Anuyoga ist das Fahrzeug, in dem sich der Übende seinem feinstofflichen Körper bewusst wird (tib. »tsa«, Kanäle; »lung«, Wind-Energien; »tikle«, Essenzen). Jene, die diese Stufe erreicht haben, sind in der Lage augenblicklich eine der oben genannten Buddhas zu visualisieren.
9. Atiyoga, oder tibetisch »Dzogchen«, ist schließlich das vollkommenste aller neun Fahrzeuge, wo der Praktizierende nun vollkommene Bewusstheit erlangt hat und er alle Erscheinungen, als aufsteigende und absteigende Phänomene erkennt, die aus der eigentlichen Einheit allen Seins hervortreten und darin letztendlich auch wieder aufgesaugt werden und verschwinden.
Alle Erscheinungen werden so wahrgenommen wie sie wirklich sind: ihrer echten Natur nach nämlich leer. Diesem Bewusstsein nähert sich der Übende zunächst im Mahayoga über die Stufe des Utpattikrama, das die Tibeter »Kyerim« nennen. Es ist die Stufe, in der dem Übenden die eigentliche Identitätslosigkeit des Seins bewusst wird, zuerst im Erkennen des »So-Seienden«, darauf der »universalen Manifestierung« dessen und schließlich der Ursachen dieser beiden Faktoren. Hierfür meditiert er auf die eigentliche Leerheit allen Seins, wobei in ihm ein unfassbares Mitgefühl aufströmt, dass er als grundlegendstes Gefühl allen Menschseins erkennt. In der Zusammenführung dieser beiden Bewusstseinserfahrungen (Leerheit und Mitgefühl) vernimmt er das »reine Licht«, wodurch die Ursachen allen Leids in ihm und um ihn gereinigt werden.
Auf der Stufe des Anuyoga dann, tritt er ein in die Phase des Utpannakrama, tibetisch »Dzogrim«. Hier begibt sich der Übende in das, was er im Fahrzeug des Mahayoga noch visualisierte, erfährt sich mit den drei Buddhas von Körper, Sprache und Geist verschmolzen, wird mit ihnen eins.
Er begibt sich von hier aus auf den Pfad der Befreiung, auf dem er verweilt, um sich in Übereinstimmung mit der Essenz aller Realität zu erfahren. Durch die Rezitation des Mantras der Erzeugung, entsteht vor dem Praktizierenden der Palast und Wohnort der Boddhisattva, der Gottheiten und des Buddha. Nun hat er die wahre Natur seines Seins erkannt und erreicht schließlich im Dzogchen den Zustand des uranfänglichen Buddha Samanthabadra. Auf dieser höchsten Stufe angelangt, ist er frei von aller Angst, bar jeder Hoffnungen, Vorlieben oder Abneigungen. Er ist nun fähig die Realität aus sich selbst heraus zu erschaffen, einzig zum Zwecke einer alles durchdringenden Kraft vollendeten Mitgefühls, dem, was die Tibeter »Tulku« nennen: die Dimension der unaufhörlichen Manifestationen nennen – Nirmanakaya.