Alle Überzeugungen und alle Meinungen sind Dinge an die wir Menschen glauben. Wohl aber meinen die meisten Meinungen immer nur auch tatsächliche Wahrheiten zu sein. Auch die Überzeugung weist in diese Richtung. Denn ein Überzeugen ist doch immer etwas, wo jemand versucht, durch entsprechende Beweismittel, andere zur Anerkennung einer Tatsache oder Meinung zu bringen, meist sogar zu zwingen.
Wäre es aber nicht eigentlich angebrachter, dass wir das was wir wissen, mit all den darin anklingenden negativen und behindernden Überzeugungen, als solche in unserem Leben zu entlarven? Viel zu oft nämlich neigen wir dazu uns in unseren vielen Meinungen ganz bequem einzurichten. Doch das wäre etwas, dass immer wieder neue Beweise für Meinungen benötigt, an die wir uns wegen unseres eigentlichen Wunsches nach Komfort freiwillig binden.
Es scheint, als sei diese Haltung der Menschen aus dem Bewusstsein unserer Jahrtausende alten sesshaften Zivilisation gezeugt. Kommt da nun aber einer daher und stellt die eigenen Überzeugungen in Frage, fühlt sich das gar nich mehr an wie eine Liebe zur Weisheit, wie eine Philosophie, sondern wird als durchaus lästig empfunden.
Vielen der Zeitgenossen des Sokrates dürfte es so ergangen sein, als er sie mit seinen unangenehmen Fragen irritierte. Klar: Wer will sich schon in seinem eigentlichen Nicht-Wissen selbst erkennen? Was Sokrates bei seinen Zeitgenossen als eigentliches Scheinwissen entlarvte, brachte darum viele gegen ihn auf. Als Sokrates in einer seiner Begegnungen solche Fragen stellte, erhielt er anstelle der erbetenen Auskünfte, von seinem wütenden Gegenüber sogar Fußtritte. Einer seiner Schüler, der ihn bei diesem Vorfall begleitete, fragte empört wieso er sich das gefallen lasse. Sokrates antwortete aber darauf:
Wieso nicht? Hätte mich ein Esel getreten hätte, so hätte ich ihn doch auch nicht gerichtlich belangt.
– Aus Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II:21
Der Prozess
Im Jahr 399 v. Chr. stellte man Sokrates vor Gericht. Es ist wohl nicht ganz einfach zu beantworten, wie es letztendlich dazu kommen konnte, das er sich einem öffentlichen und dabei so entwürdigenden Prozess stellen musste. Ob dabei vielleicht auch politische Interessen eine Rolle spielten, sei zumindest einmal zu vermuten.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass einer der in Gesprächen mit seinen Mitmenschen nach der Wahrheit suchte, solche Feindseligkeit auf sich zog? Stein des Anstoßes war eben, dass Sokrates wortwörtlich »in Frage stellte«, was über so lange Zeit als gesichertes Wissen galt, basierte es doch auf den Überlieferungen ferner Vergangenheit. Der alte Glaube an die Mythen sollte einer neuen Bewusstseinsstruktur weichen. Ein Mythos stellt keine Fragen, sondern liefert mehrere Möglichkeiten zu antworten. Im sokratischen Fragen bleiben jegliche Antworten aus, womit sich jedwedes Beziehen auf die Vergangenheit erübrigt und vielleicht sogar das, was man als Tradition bezeichnet, ins Reich der Fabeln verweist. Lässt der Wunsch nach Wissen, über die eigentliche Wahrheit der Dinge, den Befragten aber nicht nur mit Zweifeln im Stich?
Vielleicht darum empfanden Sokrates’ Zeitgenossen sein eindringliches Fragen als schlichte Frechheit, denn oft zerstörte er damit einfach nur die Gewissheiten der Befragten und machte sie vor sich selbst lächerlich. Denn er ließ sie, wenn auch unbeabsichtigt, ohne Antwort stehen. Nun wäre das an sich nicht weiter gefährlich gewesen, wären seine treuesten Schüler und innigsten Freunde keine Adeligen gewesen. Doch in Anbetracht dieser Tatsache, erschütterte er durch sein Fragen, und die damit empfundene Kritik an allem Geglaubten, womöglich die Grundfesten des Staates und brachte vielleicht sogar die Religion ins Wanken.
Sokrates hatte sich also immer mehr Feinde unter den einflussreichen Bürgern Athens gemacht, was schließlich in diesem Prozess gegen ihn enden sollte. Man beschuldigte ihn wohl aus Angst vor seinem weiteren Treiben. Er befand sich wahrscheinlich in seinem siebzigsten Lebensjahr, als man ihn mit folgenden beiden Punkten der Anklage beschuldigte:
- Leugnung der Staatsgötter Athens und Einführung neuer Gottheiten.
- Verführung der Jugend.
Es war aber nicht von vorn herein klar, ob dieser Prozess Erfolg haben würde, denn weder hatte Sokrates die Götter der Griechen verleugnet, noch hatte er die Jugend verführt. Stattdessen hatte er seine Schüler sogar zu guter Lebensführung ermahnt!
Es war wohl eher das Festhalten an seinem Tun und seine damit signalisierte Unbeirrbarkeit, die seine Ankläger gegen ihn aufgebracht hatten. Mit 281 gegen 220 Stimmen fällten sie das Urteil gegen ihn, womit für den Hauptankläger Meletos feststand: die Sokrates gebührende Strafe ist der Tod durch den Schierlingsbecher – ein Trank aus Gift – was damals in Athen die gängige Hinrichtungsart war.
Sokrates nahm das Urteil an, so wie es war.
Seine Freunde aber wollten das so nicht hinnehmen. Auch für seine Frau Xanthippe stand das Unrecht des Urteils im Vordergrund. Doch selbst im Angesicht des Todes verließ Sokrates keineswegs sein schelmischer Sinn für Ironie, denn nie ging es ihm darum Wortgefechte mit Argumenten und Gegenargumenten auszutragen oder sein Gegenüber von etwas zu überzeugen. Eher wollte er vermeintliche Widersprüche entlarven, als alleiniges Mittel zum Zweck.
Und als einer zu ihm die Äußerung tat: ‘Die Athener haben dich zum Tode verurteilt,’ sagte er ‘Und die Natur hat sie zum Tode verurteilt’ […] Als seine Frau sagte ‘Du stirbst ungerechterweise,’ erwiderte er ‘Wäre es dir lieber ich stürbe gerechterweise?’
– Aus Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II:35
Angesichts der knappen Verurteilung hätten für Sokrates jedoch gute Chancen bestanden sein Todesurteil noch abzuwenden. Er aber war zu keinem Kompromiss bereit.
Zuerkennen also will mir der Mann den Tod. Wohl! Was soll ich mir nun dagegen zuerkennen, ihr Athener? Doch gewiss, was ich verdiene! Wie also? Was verdiene ich zu erleiden oder zu erlegen dafür, dass ich in meinem Leben nie Ruhe gehalten, sondern unbekümmert um das, was den meisten wichtig ist, um das Reichwerden und den Hausstand, um Kriegswesen und Volksrednerei und sonst um Ämter, um Verschwörungen und Parteien, die sich in der Stadt hervorgetan, weil ich mich in der Tat für zu gut hielt
[…]
Was ist also einem unvermögenden Wohltäter angemessen, welcher der freien Muße bedarf, um euch zu ermahnen? Es gibt nichts, was so angemessen ist, ihr Athener, als dass ein solcher Mann im Prytaneion (Rathaus) gespeist werde, weit mehr, als wenn einer von euch mit dem Rosse oder dem Zwiegespann oder dem Viergespann in den Olympischen Spielen gesiegt hat. Denn ein solcher bewirkt nur, daß ihr glückselig scheint, ich aber, daß ihr es seid; und jener bedarf der Speisung nicht, ich aber bedarf ihrer. Soll ich mir also, was ich mit Recht verdiene, zuerkennen, so erkenne ich mir dieses zu: Speisung im Prytaneion.
– Aus Platons Apologie
Sokrates wollte ihre Strafe nicht, sondern die höchste Auszeichnung die die Stadt Athen an verdiente Mitbürger wie ihn zu vergeben hat: Eine kostenlose und lebenslange Speisung im Prytaneion, dem Rathaus Athens. Die Richter empörten sich über seine Provokation, die so groß war, dass jene die ihn zuvor nur für schuldig befunden hatten, sich nun ebenfalls für seinen Tod aussprachen.
Wer damals einflussreiche oder wohlhabende Freunde hatte, floh normalerweise. Bei Sokrates war das ja der Fall, denn die meisten seiner Schüler und Freunde waren ja Adlige. Sein Tod hätte ihnen den Verlust eines unersetzlichen Freundes bedeutet. Außerdem hätten sie doch als feige und geizig gegolten, wäre nichts geschehen. Mit seinem Freund Kriton prüfte er diese und andere Argumente seiner Schüler sorgfältig, ob es nicht doch angebracht sei, seinem Todesurteil mit ihrer Hilfe zu entfliehen, denn offensichtlich war ihm darin doch Unrecht widerfahren. Unrecht zu erleiden schien Sokrates aber nicht so schlimm, wie Unrecht zu tun. Er ließ also seine Chance zu entfliehen verstreichen. Weil er sein ganzes Leben die Gesetze Athens geachtet hatte, wollte er sie nun auch nicht im Angesicht des Todes übertreten.
Wo der Gott mich hinstellte, wie ich es doch glaubte und annahm, damit ich in Aufsuchung der Weisheit mein Leben hinbrächte und in Prüfung meiner selbst und anderer, wenn ich da, den Tod oder irgend etwas fürchtend, aus der Ordnung gewichen wäre!
Schlimm wäre das, und dann in Wahrheit könnte mich einer mit Recht hierher führen vor Gericht, weil ich nicht an die Götter glaubte, wenn ich dem Orakel unfolgsam wäre und den Tod fürchtete und mich weise dünkte, ohne es zu sein.
Denn den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist eine Anmaßung, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Sie fürchten ihn aber, als wüßten sie gewiss, dass er das größte Übel ist.
– Aus Platons Apologie
Sich auf das Unbekannte des Todes vorzubereiten
Den Tod zu fürchten empfand Sokrates als ganz und gar unweise. Selbst wenn man nicht wissen kann, was nach dem Tod folgt, wusste Sokrates aber dass sich Körper und Seele trennen, sobald ein Mensch stirbt. Für ihn ging da etwas vor sich, dass der Philosoph, in seiner Tätigkeit als solcher, schon während seiner Lebenszeit unentwegt übt, zumindest aber üben sollte. Was damit gemeint sein könnte, darauf geht Platon in seinem Phaidon ein, wo er Simmias von Theben seinem Lehrer Sokrates als Schüler gegenüberstellt, um die Fragen zu diesem Thema auszuleuchten:
Scheint es dir Sache eines philosophischen Menschen zu sein, sich Mühe zu geben um die sogenannten Lüste, wie um die am Essen und Trinken?
Durchaus nicht Sokrates, antwortete Simmias.
Oder um die aus der körperlichen Liebe?
Keineswegs.
Und die übrige Besorgung des Körpers, glaubst du, dass ein solcher sie groß achte? Wie zum Beispiel schöne Kleider und Schuhe und andere Arten von Schmuck des Körpers zu haben, glaubst du, dass er es hoch oder gering achtet, soweit es nicht unbedingt notwendig ist, etwas davon zu haben?
Gering achten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahre Philosoph.
Scheint dir also nicht überhaupt die Bemühung eines solchen Menschen nicht auf den Körper gerichtet zu sein, sondern sich, soweit es ihm möglich ist, sich von diesem abzukehren und sich der Seele zuzuwenden?
Das denke ich.
Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph als einer, der die Seele von der Gemeinschaft mit dem Körper loslässt, anders als die übrigen Menschen?
Offenbar.
– Aus Platons Phaidon
So scheint es also Ziel des wahren Philosophen zu sein, schon während seines Lebens in seinem Bewusstsein Körper und Seele zu trennen. Ein wahrer Philosoph nämlich will doch ungestört von leiblichen Bedürfnissen nachdenken können. Auf diese Weise nimmt er die Todeserfahrung schon zu Lebzeiten vorweg – eigentlich etwas, dass er mit jenen teilt, die man als die Eingeweihten in die Mysterien bezeichnet.
Wer sich also auf diese Weise vorbereitet, das eigene Bewusstsein nicht auf seine körperliche Existenz beschränkt, sondern sich von ihr zu lösen übt, wird gefasst und getrost auch dem Tod entgegen gehen können. Und was stirbt sonst, als »nur« der Körper?
Für Sokrates lebte die Seele fort, warum wir uns eben um sie kümmern sollten und weniger um die materiell gebundenen Umstände, durch die sich unser Leib auf unserer Lebensreise bewegt. Den Wandel unserer Seele aber bestimmt darin die Art unserer Lebensführung. Sokrates:
[…] nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zuzureden, bloß nicht für den Körper und für das Geld zuerst und so sehr zu sorgen, als um die Seele, dass sie möglichst vollkommen werde, in dem ich außerdem sage: nicht mit dem Geld kommt die Tugend, sondern aus der Tugend entsteht Geld und alles andere dem Menschen Nützliche – für den Einzelnen und für die Gemeinschaft.
– Aus Platons Apologie
Nachdem man Sokrates das Todesurteil verkündet hatte, erhielt er noch einmal das Wort.
Lasst uns aber auch überlegen, wieviel Grund es gäbe zu hoffen, das an dem Urteil etwas Gutes sei. Denn eins von beiden ist der Tod: entweder bedeutet er dass man nichts mehr ist, noch irgendeine Empfindung von irgendetwas hat, wenn man tot ist; oder, wie überliefert ist, es erfolge mit ihm ein Auswandern der Seele von einem Ort hier nach einem anderen Ort.
Gibt es nun im Tod keinerlei Empfindung, sondern ist er wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende noch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod doch ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn jemand eine solche Nacht, wo er so fest schlief, dass er keinen Traum hatte, mit allen übrigen Tagen und Nächten seines Lebens vergleichen würde, und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel er wohl angenehmere und bessere Tage und Nächte als jene eine Nacht in seinem Leben gelebt habe, so glaube ich, würde nicht nur ein Privatmann, sondern sogar der Großkönig selbst entdecken, das diese, verglichen mit den übrigen Tagen und Nächten, sehr leicht zu zählen wären.
Wenn also der Tod etwas solches ist, dann nenne ich ihn einen Gewinn. Denn dann scheint mir ja die ganze Zeit nach dem Tod nicht länger zu währen, als eine einzige Nacht.
Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hier nach einem anderen Ort, und wenn es wahr ist, wie gesagt wird, dass sich dort alle Verstorbenen aufhalten, was für ein größeres Glück könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter?
Denn wenn einer in den Hades (Unterwelt) kommt und sich derer entledigt die sich für Richter halten, dort aber die wahren Richter antrifft, von denen die gleiche Überlieferung sagt, dass sie dort Gericht halten, nämlich den Minos, den Rhadamanthys, den Aiakos, den Triptolemos und all die anderen Halbgötter die sich in ihrem Leben als gerecht bewährten: wäre eine solche Reise so schlimm?
[…]
Für wieviel, ihr Richter, möchte das einer wohl annehmen den auszufragen, welcher das große Heer gegen Troia geführt hat oder den Odysseus oder den Sisyphos, und viele andere könnte einer nennen, Männer und Frauen, mit denen dort zu sprechen und umzugehen und sie auszuforschen auf alle Weise; das wäre wohl eine unbeschreibliche Glückseligkeit! Jedenfalls verurteilen sie einen dort, wie man annehmen darf, deswegen nicht zum Tod.
Jedoch ist es nun Zeit, dass wir gehen: ich um zu sterben, und ihr um zu leben. Wer aber von uns beiden dem besseren Los entgegengeht, das weiß keiner – außer nur Gott.
– Aus Platons Apologie
Das Vermächtnis des Sokrates
Sokrates hatte ein materiell sehr bescheidenes Leben geführt. Was man Armut nennt, empfand er nicht als Ärgernis. Seine Freunde sorgten durch ihre Gastfreundschaft und ihre Geschenke für seinen Lebensunterhalt. Aber auch diese Gaben nahm Sokrates nur begrenzt an. Nichts sollte sein irdisches Dasein zu sehr bestimmen, lebte er doch gern die von ihm selbst gewählte Lebensweise, in der, spricht man doch heute noch über ihn, so viel Philosophie steckte. Man sah das eben an seiner Distanz zu den materiellen Dingen der Welt, seine Hingabe an das philosophierende Fragen und seine unglaubliche Gelassenheit, äußeren, ihm widerfahrenen Ereignissen gegenüber – insbesondere dem über ihn gesprochenen Todesurteil.
Nie ging es Sokrates darum, um jeden Preis eine Lösung zu finden, sondern die Menschen dazu zu bringen, selbst über sich und ihr Leben nachzudenken. Denn nach Sokrates’ Auffassung, verdiente ein Leben ohne Selbstbetrachtung nicht, überhaupt gelebt zu werden. Wenn darum sein Fragen im Gegenüber zu keiner Antwort führte, nahm er das so hin und war darüber nicht etwa enttäuscht, denn auch wenn eine Frage zu keiner Antwort führend ungelöst bleibt, bedeutet allein das ja schon einen Erkenntnisgewinn.
Sokrates wollte erreichen, dass die Befragten nicht einfach nur dahinleben. Vielmehr sollten sie ihr Leben bewusst führen und gestalten.
Was er hinterließ waren jedoch nicht nur Philosophen, sondern vor allem Menschen.