In den Great Plains, den großen Ebenen die sich von Norden nach Süden, mitten durch die Vereinigten Staaten ziehen, praktizieren indigene Stämme den Sonnentanz. Das ist ein wahrhaft intensives Ritual, wo sich die Initianden zum Wohle der Gemeinschaft selbstaufopfern, hiermit aber einen Weg der Einsicht betreten, der sie zu ihren innersten spirituellen Kräften führt.
Es versammelt sich meist die gesamte Stammesgemeinde, Freunde und Familienmitglieder, die neben dem eigentlichen Tanz, in den dazu errichteten Lagern für Heilung beten. Außerdem werden Heilungszeremonien durchgeführt, wo es zu ungewöhnlichen Gesundungserfolgen Betroffener kommen soll.
Die Tänzer aber fasten viele Tage lang, während sie dann im Freien, und auch bei jedem Wetter, das Einweihungsritual des Sonnentanzes vollziehen.
Rückkehr zur alten Tradition
Anfang des 19. Jahrhunderts, als Angehörige der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika, in den damals noch »Wilden Westen« vordrangen, kamen die in den Great Plains lebenden Indigenen zunehmend in Bedrängnis. Die Ausübung des Sonnentanzes wurde durch jene Eindringlinge aus Europa untersagt, mit dem Ziel die indigene Kultur zu unterdrücken und die Mitglieder ihrer Stämme zu zwingen, stattdessen mit nach Amerika gebrachte kulturelle Werte zu übernehmen. Auch das Sprechen der indianischen Muttersprache war den in den Great Plains lebenden indigenen Völkern untersagt, wie ihnen auch das Besuchen der heiligen Stätten verboten war.
Die Auswirkungen dessen sind bis heute spürbar, denn nur ein geringer Teil der Nachfahren der Ureinwohner der Great Plains, sprechen die Sprache ihrer Vorfahren. All das steht außerdem im Schatten der Greuel, die an der amerikanisch-indigenen Kultur verübt wurden (Stichwort »Wounded Knee«). Im Fortgang solcher Verläufe des Vergessens, um es einmal so zu nennen, scheinen Vorboten, ja eigentlich böse Omen dessen zu sein, was sich gerade auch andernorts auf unserem Globus, als gigantischer Werteverfall der Menschheitskulturen ereignet.
Seit dem Jahr 1993 leitet der amerikanische Shoshone-Häuptling James Trosper, im Wind-River-Reservat, die dort jährlich stattfindende Sonnentanz-Zeremonie. Er steht in der Traditionskette seines Urgroßvaters John Truhujo (auch genannt »John Trehero«), einem Mann der ein stolzes Alter von 113 Jahren erreichte (†1985). Truhujos Wirken sollte dazu führen, dass eine Wiederbelebung der alten Kultur der Plains-Indianer stattfand. Als er in seinen Dreißigern war, übergab ihm seine Mutter den sogenannten »Heiligen Medizinbund«, ein Bündel geweihter Gegenstände, die dem Empfänger der Würden eines Medizinmannes verliehen werden. Die Ausübung seiner damit einhergehenden Arbeit als Heiler und als Leiter der heiligen Zeremonien, war damals jedoch nicht erlaubt.
Die damalige Regierung der Vereinigten Staaten, hatte Anfang des 19. Jahrhunderts die Ausübung solcher Heilarbeit und zeremonieller Riten untersagt, wozu auch der Sonnentanz gehört. Außerdem versuchte man in besonderen Internaten, den jungen Angehörigen indianischer Stämme der Great Plains, ihre Identität auszureden. Es fand damals eine regelrechte Gehirnwäsche statt, wo man den Indianern suggerierte, dass der spirituelle Weg ihres Stammes schlecht sei und nur das gut war, was sie vom Christentum lernen konnten. Alle indianischen Bräuche sollten sich damit als falsch erübrigen, ganz gleich ob es spirituelle oder gesellschaftliche Gepflogenheiten waren.
Der Häuptling John Truhujo ging nun eines Tages zum Vorsteher jener Behörde die die Stammesmitglieder der Shoshone beaufsichtigte. Er erklärte ihm was es mit dem Tipi (typisches kegelförmiges Indianerzelt) auf sich habe, das durch zwölf Holzstäbe aufgerichtet, jedoch ohne Bedeckung nach oben hin offen bleibt, so dass man dadurch zum Himmel blicken kann, während man da die heilige Sonnen-Zeremonie begeht, mit Gebeten, Gesängen und diesem besonderen Tanz, dem, was man den »Sonnentanz« nennt:
Er erklärte diesem Vorsteher all das auf eine Weise, wodurch dieser Mann die Bedeutung des Tipi und des indianischen Weges auch verstehen konnte. Und er wusste, dass dieser Mann ein Christ war, weshalb er zu ihm in Begriffen sprach, die er auch verstehen konnte und er erzählte ihm vom Mittelpunkt und sagte: ‘Wissen Sie, der Mittelpunkt ist ein Medium zwischen uns und dem Schöpfer. An diesen Mittelpunkt richten wir unsere Gebete, von wo aus dann Segnungen auf jeden von uns niederkommen, als Antwort auf unsere Gebete. In gewisser Weise ähnelt es dem, was sie als Jesus Christus bezeichnen. Es ist das was uns der Mittelpunkt bedeutet.’ Und er sprach: ‘Diese zwölf Polstäbe, die das Tipi stützen, gleichen den Jüngern Christi.’
– Aus einem Vortrag von Häuptling James Trosper im Rahmen der Londoner Temenos Academy
John Truhujo hatte nämlich längst verstanden gehabt, dass beide Religionen, die der Christen und die der Shoshone, vom Großen Geist beflügelt sind, auch wenn er niemals die beiden Erscheinungen ihrer Form nach miteinander zu vermischen oder zu vergleichen versuchte.
Was er jedoch dem Vorsteher dieser Kontrollbehörde vermittelte, sollte im Jahr 1934 dazu führen, dass die Shoshone wieder ihren traditionellen Sonnentanz offiziell, doch nur unter sich ausüben durften, was außerdem zum Wendepunkt in der Geschichte der gesamten amerikanische Ureinwohner der Great Plains führen sollte (im sogenannten »Indian Re-organization Act«). Es sollte jedoch bis in die späten 1970er Jahre dauern, bis die indigenen Völker Nordamerikas ihre Zeremonien öffentlich ausüben durften (»American Indian Religious Freedom Act« von 1978).
Ein Ritual solarer Kraft
Was in der Sonnentanz-Zeremonie vollzogen wird, beinhaltet eine ganz klare symbolische Bedeutung, die für jeden Teilnehmenden tatsächlich als überwältigendes Erlebnis in Erinnerung bleibt. Das schrieb der schweizerische Traditionalist Frithjof Schuon (1907-1998) über seine eigene Erfahrung damit. Schuon war 1980 nach Bloomington umgesiedelt, im amerikanischen Bundesstaat Indiana. Dort sollte er ein enger Freund von Thomas Yellowtail (1903-1993) werden, dem wichtigsten Sonnentanz-Häuptling des 20. Jahrhunderts.
Über den Sonnentanz und seine Symbolik schrieb Schuon:
Der Baum ist die Achse, und das ist in unserem Herzen; Die verschiedenen Elemente unserer Seele drehen sich um diese Achse und bewegen sich in Veräußerlichung und Verinnerlichung, Unterscheidung und Vereinigung hin und her. An diesem Baum aber hängt der mit Salbeizweigen geschmückte Büffelkopf, dessen Blick auf den Sonnenuntergang gerichtet ist. Ein Adler aber blickt auf den Sonnenaufgang.
Die Salbeizweige hängen von den Augen des Büffels herab, der die heilige Urkraft und Fruchtbarkeit der Erde symbolisiert. Der Adler ist Symbol des Lichts, das von oben kommt, als Offenbarung; der Büffel ist der symbolische Berg oder Felsen, und der Adler eine Allegorie auf den Himmel und den Blitz. Der Büffel ist jedoch auch die Sonne beziehungsweise ihr irdisches Abbild.
Im Sonnentanz erlebt man ein Erinnern an Gott, eine Reinigung von Vielheit und Äußerlichkeit, eine Vereinigung mit dem Einen und dem Realen.
– Aus Frithjof Schuons Reisetagebuch
Ablauf und Ereignisse des Sonnentanzes
In den Legenden und Erzählungen der Lakota (der westlichsten Stammesgruppe der Sioux), erfährt man von der »Weißen Büffelfrau«. Als Tochter des Großen Geistes, überbrachte sie ihnen sieben heilige Riten, wovon eine der Sonnentanz war.
In dieser besonderen Zeremonie tanzen die Initanden, unter Führung des Sonnentanz-Häuptlings, zu besonderen Trommelklängen und Gesängen, einen dafür vorgesehenen Tanz. Zuvor werden gemeinsam bestimmte Pflanzen gepflückt, die man während der Zeremonie rituell verwendet. Außerdem geht dem Ritus des Sonnentanzes eine Fastenzeit voraus und erfolgt dann, als eine, sagen wir, aktive Form des Gebets. Denn alle Sinne werden dabei miteinbezogen, womit ein dafür ganz eigenes Gemeinschaftsgefühl einhergeht, sowohl mit den Angehörigen des Stammes, wie auch mit den Ahnen und dem Großen Geist.
Nicht aber, dass dieser Tanz alleine zur Unterhaltung stattfände. Es ist eine wirklich erfahrene, wenn nicht sogar sehr anstrengende Sache für die Tänzer. Sie werden dabei nicht nur spirituell einer Prüfung unterzogen, sondern auch physisch, mit dem Ziel sich selbst als Opfer für ihr Volk darzubieten.
Einige der Sonnentänzer durchstechen sich hierzu die Haut an Brust oder Rücken. Durch diese blutenden Stellen schieben sie sich kleine Holzpflöcke, an denen Rohleder-Riemen befestig werden. Man nennt das »Piercing«. Diese Riemen werden dann an dem in der Mitte des Sonnenzeltes errichteten Baum, dem zentralen Pol, befestigt, um den die Tänzer dann vier Tage lang, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang tanzen – ohne Schatten, Nahrung oder Wasser. Dies findet zwar in einzelnen Runden mit Pausen statt, doch ist wohl etwas, dass uns durchaus drastisch erscheinen dürfte, wenn nicht gar unmöglich für einen Normalsterblichen vorzustellen. Denn die Initianden lassen sich dann letzten Endes sogar mit ihrem ganzen Körpergewicht an den Riemen hängen, bis die unter der Haut befestigen Holzpflöcke aus ihrem Körper reißen. Durch diese schlimmen Torturen soll der Tänzer einen »todesähnlichen Zustand« erreichen. Und aus der dabei gemachten tranceartigen Erfahrung, steigen in ihm besondere Visionen auf, die ihm grundlegende Fragen des Lebens beantworten oder aber aufwerfen.
Denkt man hierbei etwa an die Symbolik der Kreuzigung Christi, dürften einem einige Parallelen auffallen. Besonders die Indianer Nordamerikas sind solchen Betrachtungen durchaus aufgeschlossen (auch wenn man sie über so lange Zeit zwang den christlichen Glauben anzunehmen und sie ihrer alte Kultur zu entreißen). Wer auf das Leben Jesu Christi schaut, entdeckt darin viele Parallelen zum eigenen Ritus des Sonnentanzes. Auch an der bildlichen Allegorie von Jesus am Kreuz, lässt sich eine solare Thematik ablesen.
Christus wurde gekreuzigt, aber die Indianer kreuzigten sich auf dem Pappelbaum; Das Kreuz Christi war aus Eichenholz gewesen, während der Sonnentanzbaum genau das Pappelholz war. Ein Querschnitt durch einen Ast dieses Baumes zeigte immer einen goldenen Stern.
– Aus Frithjof Schuons Reisetagebuch
Wir wissen ja außerdem, dass die frühen Christen trotz der Verfolgungen, denen sie vor etwa 2.000 Jahren wegen ihrer religiösen Bekenntnis ausgesetzt waren, dennoch nicht von ihrem Glauben abließen. Man peinigte, ja folterte sie, um ihnen ihren »christlichen Irrglauben« auszutreiben. Wie könnte darum, mit all den vielen Parallelen zum Christentum, den indigenen Stämmen Nordamerikas ihr eigener Glaube ausgeredet werden? Ja mehr noch: Wäre es überhaupt verwunderlich, wenn manche unter ihnen dem Christentum sogar noch etwas abgewinnen könnten?
Viele Indianer glauben nämlich, dass das was sie unter einer transzendenten Realität verstehen, dadurch bereichert wird, wenn sie nur dazu bereit sind die unterschiedlichen Sichtweisen ein und der selben Realität zu betrachten. Was wir nämlich zuvor im Vergleich der Sonnentanz-Piercings zum christlichen Kreuzigungsereignis sagten, erschien ihnen eben nur als verschiedene Offenbarungen eines selben Prinzips: Das wahre, innere Erkenntnis nämlich nur auf Grundlage von echtem Leid erfolgt. Das ist eine Vorstellung, die bestimmt unzählige Menschen ablehnen, da sie vielleicht auch einen möglichen Grund für die eigentliche Besiedelung unseres Planeten, nie in Frage stellten.
Alle Menschen sollten, ganz unabhängig von ihrem Glauben, sich vereinen und zusammen beten. Du hast den verschiedenen Menschen auf der ganzen Welt eben verschiedene Wege gegeben (»Du« meint hier den »Großen Geist«). Wie wir wissen, ist diese Erde rund wie ein Wagenrad. Bei einem Wagenrad sind alle Speichen um die Mitte herum angeordnet. Der Kreis des Rades ist rund und alle Speichen kommen aus der Mitte und die Mitte bist Du, Acbadadea, Schöpfer aller himmlischen Dinge.
Jede Speiche kann als eine andere Religion der Welt betrachtet werden, die Du den verschiedenen Menschen und Rassen gegeben hast. Alle Menschen auf der Welt sitzen am Rand dieses Rades und müssen einer dieser Speichen folgen, um zum Zentrum zu gelangen. Die verschiedenen Wege wurden uns gegeben, aber sie führen alle zum selben Ort. Wir alle beten zum selben Gott, zu Dir. Hilf uns, diese Weisheit zu erkennen. Aho! Aho!
– Häuptling Thomas Yellowtail, in Frithjof Schuons »The Feathered Sun: Plains Indians in Art and Philosophy«