Derwische

Mein Besuch einer Sufi-Loge, verborgen im Herzen Istanbuls

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Tekke des Helveti Ordens - ewigeweisheit.de

Es ist nicht all zu lange her, da machte ich eine Reise mit dem Ziel in Verbindung zu treten mit verschiedenen Sufi-Orden in der alten Stadt Istanbul. Ich wohnte dort damals in Üsküdar, auf der anatolischen Seite. Nun wollte ich einmal an der spirituellen Zeremonie der Derwische des Halveti-Dscherrahi-Ordens teilnehmen, im europäischen Teil Istanbuls.

Sufis versammeln sich gewöhnlich in ihrer Tekke – einem Wort das abgeleitet ist vom persischen Namen »Âstâne«: Die Türschwelle. Eine Tekke (auch »Dergah« genannt) bildet das Zentrum wie auch einen Rückzugsort für die Mitglieder eines Derwisch-Ordens – eine Loge also, die sich vor der Öffentlichkeit in ihren Treffen zurückzieht, um an solchen Orten ihre Mitglieder nach bestimmten Vorgaben zu empfangen.

Solch eine Tekke der Sufis zu finden ist aber nicht ganz einfach. Zwar sind manche davon in Istanbuler Stadtplänen verzeichnet, doch nur selten weisen Hinweisschilder den Weg zu den eigentlichen Türen, die zu den Versammlungsräumen der Derwische führen.

Warum Geheim?

Da bereits im 12. Jahrhundert die ersten Sufi-Orden gegründet wurden ist es gut möglich, dass viele der darin entstandenen Regelungen für Öffentlichkeit und Geheimhaltung eine vernünftige Inspirationsquelle auch für die westlichen Bruderschaften bilden sollten, wie etwa die der europäischen Freimaurer. Denn beiden ist gemein, dass in ihren Logen Dinge erfahren werden, über die man nur mit entsprechend Erfahrenen (Eingeweihten) reden darf – ja doch eigentlich auch nur reden kann, da eine Erfahrung hauptsächlich direkt erlebt wird und weniger zu tun hat mit intellektuellem Verstehen.

Mystischer Sufi-Orden der Halveti-Bruderschaft

Vor einigen Jahren besuchte ich einen Berliner Sufi in seiner hauseigenen Bibliothek. Darin fand ich auch ein altes Foto von Muzaffer Ozak (1916-1985), dem Großscheich der Halveti-Dscherrahi-Bruderschaft. Er führte als Buchhändler über Jahre ein Antiquariat in Istanbul.

Einige Zeit später erhielt ich ausgerechnet von einer australischen Freundin Kontakt zu einem in Frankfurt am Main lebenden Mitglied eines anderen Zweiges der genannten Gemeinschaft: des Halveti-Uschaki-Ordens. Von ihm bekam ich die Empfehlung mich in den Istanbuler Fatih-Bezirk zu begeben, um dort mit oben genannter Bruderschaft in Kontakt zu treten. Unweit von Kapalı Çarşı, dem ältesten Bazar der Stadt, befände sich das erwähnte Antiquariat.

Nach einigem Fragen und Suchen fand ich einen kleinen Komplex von Buch- und Kunsthändlern, der sich unweit des Haupteingangs der Istanbuler Universität befindet. Ein echter Kultort, wie mir bereits nach kurzer Zeit klar war: An den Mauern hingen teils sehr alte, gerahmte Schwarzweißfotografien von lächelnden Hippie-ähnlichen, langhaarigen Männern mit langen Bärten und Mänteln, langen Kragen, Bildern von Blumen und mystischen Symbolen. Durch all die vielen kleinen Lädchen fragte ich mich weiter durch, bis ich schließlich das besagte Antiquariat ganz unauffällig gelegen in einer der Ecken des Komplexes fand, wo sich auf hohen Regalen Bücher stapelten.

Hier also sollte ich die Adresse erfragen, an der sich die Derwische des genannten Ordens treffen. Als ich die Buchhandlung betrat und mich einer der dort arbeitenden Antiquare bemerkte, verkroch er sich hinter einen riesigen Bücherstapel, um sich mit scheinbar Wichtigerem zu beschäftigen. Ein Glück, dass mich kurz darauf ein anderer, dort angestellter Mitarbeiter freundlich ansprach, ob er mir vielleicht helfen könnte. Kurz beschrieb ich ihm mein Anliegen, er schaute mir kurz tief in die Augen und schrieb mir schließlich die Adresse auf, nach der ich gesucht hatte. Ich sollte mich dafür an einem Montag in die Tekke der Dscherrahis begeben, die sich im Karagümrük-Viertel von Fatih befindet (»Karagümrük«: zu deutsch: »Schwarzer Brauch«).

Nur zu Besuch?

Gleich am darauf folgenden Montag begab ich mich zur besagten Sufi-Loge, wo ein besonderer Ritus kurz nach dem Abendgebet stattfinden sollte.

Als ich mit der Fähre spät nachmittags den Bosporus nach Europa überquerte, fuhr auf dem Boot auch ein Musiker mit, der tatsächlich den Sufis nahezustehen schien. Er nämlich saß dort zwischen den Passagieren und spielte eine traditionelle Rohrflöte: Die »Ney«, die wohl jeder kennt der etwas vertraut ist mit dem Sufi-Mystiker und Gründer der Bruderschaft der drehenden Mevlevi-Derwische: Dschallaedin Rumi. Gut möglich dass ich in Vorfreude auf meine spätere Begegnung eine gewisse selektive Wahrnehmung hatte. Doch der Zufall mit dem Ney-Spieler half mir, mein gutes Gefühl zu stärken. Rein äußerlich ähnelte der Künstler eher einem Rocker, als was da an melancholischen Melodien aus seinem Instrument zu hören war, was der Situation aber eine gewisse Natürlichkeit verlieh.

Auf der anderen Seite angekommen, begab ich mich vom Fährhafen im Bezirk von Eminönü zu dem nahe gelegenen »Goldenen Horn von Istanbul«, einem ungefähr sieben Kilometer langen Meeresarm unweit der Bosporus-Mündung ins Marmarameer. Etwa drei Kilometer von der Galata-Brücke entfernt, die die Istanbuler Bezirke Eminönü und Karaköy über das Goldene Horn hinüber verbindet, kommt man auch zur christlich-orthodoxen Georgs-Kathedrale: Der Hagia Yorgi. Sie bildet eines der spirituellen Zentren der christlich-orthodoxen Kirchen und ist Sitz des Patriarchen Bartholomäus (Oberhaupt der orthodoxen Christenheit) – ein besonderer Ort, an dem ich in den Jahren zuvor einmal einen sonntäglichen Gottesdienst besucht hatte.

Wie dem auch sei, dauerte es etwa eine Viertelstunde von dort aus den Hang von Karagümrük aufsteigend, bis ich schließlich zu der beschriebenen Loge der Derwische kam: Ein ganz beeindruckender Ort, alles aus Marmor wo man an den Wänden viele wunderschöne Kachelungen bewundern kann, in denen einem hohe gläserne Tore den Blick in die dort befindlichen Heiligengräber eröffnen, die golden ausgeschmückte islamische Segenssprüche in arabischer Schrift verzieren.

Wandkachelbilder im Vorhof der Tekke - ewigeweisheit.de

Wandkacheln im Vorhof der Tekke. Die drei Heiligen Städte im Islam: Mekka, Medina und Jerusalem.

Betreten der Loge

Vor mir verschwand da hinter einer ganz unscheinbaren Holztür ein Mann und ich wusste: Das ist auch mein Eingang.

Eingetreten zog ich wie alle anderen meine Schuhe aus und bewegte mich eine kleine Treppe hinunter, wo ich zu einem großem Pult kam. Dahinter empfing mich ein älterer Herr mit Turban, den ein langer, grüner Kaftan kleidete. Seine großen, leuchtenden Augen schauten mich fragend an, und ich erklärte ihm den Grund meines Besuchs. Er gewährte mir Einlass, wo gleich ein anderer der Brüder an meine Seite trat und mich auf dem Weg durch die vielen Räume der Tekke führte. Eine wirklich ganz ausgesprochen schön eingerichtete Begegnungsstätte, in deren Mitte sich ein runder Hauptraum befand, der die Moschee dieses von Außen gänzlich verborgenen Baus bildete. Der Derwisch wies mir dann einen Sitzplatz zu in einem quadratischen Raum, auf dessen Wänden eindrucksvolle große Kalligrafien zu sehen waren. Dort saß ich nun etwa vier bis fünf Schritte entfernt, einem roten, samtbezogenen Sessel gegenüber und wartete dort etwas ruhelos.

Im Kreise der Bruderschaft

Nun war es Zeit für das Abendgebet, um damit ja den neuen Tag zu begrüßen, denn in der religiösen Tradition der Juden und der Muslime beginnt der Tag nach Sonnenuntergang (arabisch: Maghreb, »Westen«). Man bat mich in den Moscheebereich, indem dann auch das Dhikr-Ritual stattfinden sollte.

Im Arabischen bezeichnet »Dhikr Allah« (manchmal auch »Zikr Allah« genannt) das Gedenken Gottes, das in Stille als »Dhikr des Herzens« und laut gesprochen oder gesungen als »Dhikr der Zunge« bezeichnet wird und womit sich die Sufis Allah vergegenwärtigen, um ihm sich damit zu nähern. Dhikr bildet die kontemplative Meditationsübung der Sufis, die bisweilen ekstatische Züge annehmen kann. Darin nämlich singt oder spricht man rhythmisch besondere heilige Verse wie auch verschiedene Namen des Allmächtigen. Für die Derwische ist es neben dem Pflichtgebet »Salaat« und dem formlosen Gebet »Dua« die dritte und ekstatisch-mystische Form der Hinwendung an Gott.

In der Vergangenheit hatte ich bereits viele Male an solchen kontemplativen Meditationen der Sufi-Derwische verschiedener Orden teilgenommen (in Berlin oder London). Diesmal sollte mich die Intensität des Dhikr der Halvetis aber nicht weniger beeindrucken.

Bevor die eigentlichen Ritualhandlungen begannen, erhoben sich die ungefähr 80 anwesenden Derwische, als ihr Pir (alter persischer Ehrentitel zur Bezeichnung eines spirituellen Meisters) am Eingang des hohen Raumes erschien. Er rief in die Gruppe zum Gruß »Asalamu Aleykum« (arabisch für »Und auf Euch der Frieden!«). Die Derwische vor ihm traten geschlossen links und rechts vor ihm zur Seite, so dass sich ein Gang bildete, während sie seinen Gruß erwiderten mit den Worten »Wa Aleykum As-Salam wa Rahmatu Illahi wa Barakatu« (arabisch für »Und auf euch sei Frieden und Gottes Erbarmen und sein Segen«). Auch weibliche Derwische waren anwesend. Das Oberhaupt des Ordens nun ging langsam zwischen den stehenden Brüdern zur Gebetsnische vor, um sich in ihrer Nähe niederzulassen und mit ihm all die Derwische, die sich, mehrere umschließende Kreise bildend, um ihn setzten (einschließlich mir selbst), um kurz darauf ein lang anhaltendes »Hu« zu brummen, was auf meiner Haut einen Gänsehautschauer auslöste. Das heilige Pronomen »Hu«, das meist gemeinsam mit dem Namen Allah gesprochen wird, deutet auf die Einzigartigkeit des Allmächtigen hin, wie etwa mit »Allah Hu«, als »Gott allein« oder »Gott selbst«, so dass es, nur als die Silbe »Hu« geäußert, gleichsam das innerste Wesen des Göttlichen ansprechen soll.

Als wir uns in dieser Zeremonie durch die verschiedenen Phasen von Gesang und Rezitations-Formel bewegten, hatte ich an einer besonderen Stelle ein weiteres beindruckendes Erlebnis: Da blickte ich um mich und sah, wie aus den singenden Derwischen, die da mit geschlossenen Augen, saßen und im Rhythmus ganz leicht ihre Oberkörper bewegten, scheinbar so etwas wie Teile ihrer Seelen aufstiegen, die gemeinsam über unseren Häuptern zur einer magischen Sphäre zusammenfanden. Was ich da »sah«, waren jedoch weniger visuelle Erscheinungen als eher das mystische Erleben einer spirituellen Realität, die ich meinem Empfinden nach mit allen Anwesenden teilte. Unsere Ego-Partikel schienen sich wie von einem Moment zum anderen hin von all unseren alltäglichen Wünschen, Sorgen und Ärgernissen zu lösen und sich allein auf einen unsichtbaren, aber dennoch real wirkenden Kraftpol im Zentrum der Gemeinschaft zu konzentrieren – doch eben nicht wirklich im Außen, als eher in einem »Gemeinsamen Innern«.

Wie lange diese Zeremonie lief, kann ich nicht mehr genau sagen, doch es war vielleicht eine halbe Stunde in der ich ganz zufrieden ein Gefühl vollkommener Zeitlosigkeit empfand, was einher ging mit dem Erleben eines als vollendet gesund empfundenen Hier und Jetzt.

Gemeinsame Speise

Als ich mich vor einigen Jahren zum ersten Mal beschäftigte mit dem Werk der deutschen Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922-2003), sprach sie darin unter anderem auch über die wichtige Rolle der Austeilung von Speisen bei den Begegnungen der Sufis, als von zentraler Bedeutung. Genau diese Erfahrung habe ich auch immer wieder gemacht, wie auch an diesem Abend. Bei den Halvetis setzten wir uns da im Kreis um einen Tisch und bedeckten unsere Beine und Füße mit einem darunter liegenden Tuch. Man brachte dann das Essen in einer großen Schale, aus der dann alle, die um den Tisch saßen, gemeinsam aßen.

Als ich nach dem Essen mit einem der Anwesenden ins Gespräch kam, erklärte er mir seine äußeren Gründe, wieso er sich immer wieder in den Kreis seiner Bruderschaft begab. Dort nämlich konnte er sich in diesem Rahmen mit Menschen unterhalten, denen er in seinem alltäglichen Leben niemals begegnen würde. Unter den anwesenden Sufis waren nämlich sowohl Ärzte wie auch Krankenhelfer, Grundschullehrer, Universitätsprofessoren, Schumacher, Kleiderverkäufer, Künstler, Handwerker, Hilfsarbeiter, Ingenieure und viele andere. Der junge Mann mit seinen strahlenden Augen meinte schließlich:

Unsere beruflichen Tätigkeiten sind vielleicht unterschiedlich, doch in unseren Herzen waren wir schon immer gleich. Da funkelt ein heiliges Lebenslicht, das wir alle gleichermaßen von Allah vererbt bekamen, mit allen anderen Menschen teilen und das uns mit ihnen verbindet.

Wir alle

Der Jahreszeit entsprechend war es später bereits dunkel, als ich mich durch die bunt beleuchteten Gassen von Karagümrük zurück auf den Weg zum Fährhafen begab. Die vielen Menschen, die da überall in ihren Werkstätten arbeiteten, vielleicht jemandem Lebensmittel verkauften oder einfach im Kreis guter Freunde ein Glas Tee tranken: Alle hatten, wie eben dargestellt, ganz sicher ihre besondere Expertise, doch gleichzeitig auch all das, was uns im Leben Freude oder aber Probleme bereitet.

Sicherlich dabei ist das Bewusstsein dafür, dass wir unser Leben verbringen in emotionalen und vielleicht auch körperlichen Berg- und Talfahrten, sowohl eine Quelle der Inspiration, doch bildet sicher auch einen wichtigen Ausgangspunkt, von wo aus wir immer wieder zu unserem eigentlichen Lebensweg zurückfinden um in unsere Mitte zu kommen, ganz gleich was uns auf diesem Weg widerfahren ist oder darauf noch auf uns wartet.

 

Weiterlesen ...

Was ist Sufismus?

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Sufis im Garten - ewigeweisheit.de

Mystik zu erfahren ist ein Wunsch, der in jedes Menschen Herz eingetragen ist, ganz gleich, welcher Religion er auch angehört. Eher ginge es jemandem, der solch erhabenen Wunsch hegt, darum, zu dieser Dimension jenseits der materiellen Welt vorzudringen, um da zur Erkenntnis der Essenz aller Spiritualität zu gelangen.

Mit solch Bestreben sind manche gar gesegnet. Andere leider kaum. Einige Menschen haben die Möglichkeit, diesen Drang zu Mystischem Erleben zu entwickeln, um die darin gemachten Erfahrungen darauf in ihr tägliches Leben zu übertragen. Andere tun dies aber gar nicht. Und doch: Diese Tendenz nach Mystischem zu suchen trägt eigentlich jeder in sich, doch scheint bei den meisten Menschen verschüttet zu sein. Doch sie kann erweckt und gelüftet werden. Die Themen und Erfahrungen des Sufismus bilden natürliche Antworten auf dieses sehr alte menschliche Bedürfnis nach mystischer Erfahrung.

Stellt sich die Frage: Was genau ist Sufismus eigentlich? Da ist es ganz wichtig zuerst einmal festzustellen: Die Botschaft der Sufis richtet sich an alle Menschen, nicht nur an die Anhänger eines bestimmten Sufi-Ordens, ja nicht einmal nur an die Mitglieder einer bestimmten Religion. Es ist eben so, dass der Mensch nicht nur aus einem physischen Körper besteht, sondern auch Aspekte besitzt, die gemeinhin »sein Selbst« bezeichnen. Wer eine mystische Erfahrung machte, dessen Selbst trat da vielleicht zum ersten Mal mit etwas höher Geistigem in Resonanz. Was der Erfahrende dabei erlebte, glich da vielleicht einem numinosen feinstofflichen Fließen, das ihn da durchdrang. Auf einmal kamen da ganz starke Potentiale aus ihm zum Vorschein, derer er sich bis dato noch nicht bewusst gewesen war.

Die Folge solch erhabenen Erlebens geht meist einher mit einem gewissen Maß an Bewusstsein und Einsicht, wo jemand zu spüren begann, dass sein »Selbst« ein anders geartetes »Ich« widerspiegelt – ein »Ich seines höchsten Seins«. Er wird sich da bewusst, dass Gott in und durch die Schöpfung handelt, zu der er als lebender Mensch ja zählt.

In Kontakt mit Gott treten zu wollen

Viele Menschen erreichen diese Ebene des Bewusstseins an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben. Eine besondere Begegnung oder ein Ereignis führte sie zu einer Erkenntnis, über die sie dann einen Schlüssel erhielten, mit dem sie zum ersten Mal die Tore einer für sie neuen Realität eröffnen – etwas das größer ist als sie selbst. Für die meisten ist diese erste Ebene des Erwachens ausreichend. Andere jedoch wünschen sich mehr: Sie wollen mit Gott in Kontakt treten, dem Göttlichen entgegensehen, um letztendlich dabei die ultimative Wahrheit des Seins zu erfahren. Nur ein Teil zu sein, reicht ihnen nicht. Sie sehnen sich danach, sich im Ganzen, im Ewigen, im Einen aufzulösen. Nicht aber etwa um ihrem Leben zu entfliehen, als vielmehr dabei einen Glauben zu entwickeln, der lebendig wird wie Wasser, das unaufhörlich aus einer göttlichen Quelle entspringend ihm entgegenfließt. So jemand sehnt sich danach, auf persönliche Weise zu erfahren, was der 16. Vers der 50. Sure mit dem Titel »Qaf« beschreibt:

Wir (Gott) haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was seine Seele einflüstert, und Wir (Gott) sind ihm doch näher als seine Halsschlagader.

Was aber soll und kann solch heilige Sehnsucht erfüllen?

Gott ist der Name für das erhabenste Sein: Allah. Im Vergleich dazu ist der Mensch ganz grobstofflich, dessen Sinne zwar feine materielle Dinge hören, fühlen, berühren, sehen, schmecken oder riechen können. Das Höchste Wesen aber entzieht sich solcher Wahrnehmung, was Menschen seit Anbeginn der Zeit wohl dazu führte, dies eigentliche Dilemma für sich lösen zu wollen. Wem dies gelang fand dabei zur Erkenntnis, dass er es an seine Lieben weitergeben könne.

Lehren des Sufismus erfahren

Hierzu lehren die Meister des Sufismus seit sehr langer Zeit ihre Schüler, das der Weg zur Erfahrung der göttlichen Gegenwart im Inneren eines Menschen beginnt. Es geht dabei erst einmal darum, seinem wahren Selbst auf die Spur zu kommen und daraufhin sich auf eine besondere Weise zu verwirklichen – denn es heißt:

Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.

Gott der Herr ist gegenwärtig. Doch der Einzelne kann ihn als Allmächtigen nicht empfinden, weil sein Herz ein Schleier der Unwissenheit verhüllt. Es ist die allgemein verbreitete Egozentrik, die seins, wie auch die Herzen so vieler anderer Menschen verdunkelt. Erst wenn sich die Haltung zum Selbst und zu Gott wandelt und damit das Herz quasi »poliert« und dabei die eigene Individualität geläutert wurde, können die genannten Schleier, einer nach dem anderen, gelüftet werden und so das Licht des Selbst zu strahlen beginnen, worin ein wahrer Sufi dann tatsächlich Gott zu schauen und auch andere Menschen auf diesen Weg zu führen vermag.

Da wich der Blick nicht ab, noch überschritt er das Maß. Wahrlich, er (Mohammed) sah einige der größten Wunder seines Herrn!

- Sure 53:17f

Ein Herz der Hingabe

Lange Zeit entwickelten die Sufi-Meister der verschiedenen Tariqas (Sufi-Schulen oder -Bruderschaften) ihre dafür notwendigen Vorgehensweisen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Mensch eben nicht allein einen Verstand, sondern auch noch andere Bewusstseinszentren besitzt. An erster Stelle dabei steht das Herz: Es bildet ein inneres Zentrum des Bewusstseins über das ebenso Wissen erlangt werden kann. Viele Jahre übten die Sufi-Meister von einst, Techniken zu entwickeln die eine Aktivierung des spirituellen Herzens (also quasi seine Wiedererweckung) ermöglichen, um ihre Schüler zu den Pforten tiefer Intuition und Erkenntnis zu führen.

Wenn zuvor die Rede war von einer »Politur des Herzens«, war das eine Metapher für das geistige Zentrum in jedem von uns, dass durch diese Arbeit zu einem Spiegel wird, der das Licht der Wahrheit einzufangen vermag und dabei im eigenen Bewusstsein zu reflektieren. Weniger ist hier aber das physische Herz (Muskel in der Brustmitte) gemeint, als ein inneres, spirituelles Zentrum, dass jenseits der materiellen Phänomene uns als ein größeres Sein zur Verfügung steht, dass sogar Teil eines alles umfassenden universalen Seins ist und darin enthalten Göttlichkeit widerspiegelt – einschließlich des eigenen inneren, göttlichen Selbst.

Wer solcherart oder ähnliche spirituelle Erfahrungen bereits machte, dem gelingt auch in sich ein göttliches Potenzials zu entwickeln, dass in ihm schließlich einen unerschütterlichen Glauben und Gewissheit wachsen lässt, nämlich davon was Wahrheit, ja was letztendlich Göttlichkeit meint. Er unterwirft sich damit ganz der Allmacht Gottes, wie ein Regentropfen der in einen Ozean fallend, mit diesem eins wird und sich ihm damit quasi unterwirft.

Wer zu solch Erkenntnis und spiritueller Erfahrung geführt wurde und dabei für sich entdeckte, in dem steigt ein Bedürfnis danach mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung zu kommen, indem er alle Handlungen allein um Gottes willen ausführt. Eine wahrlich erhabene Haltung, die sich da in jemandem festigt, der dabei eine Selbstlosigkeit entwickelt, wovon er ablässt nur tun zu wollen, um damit zu einem Sein zu finden, dass ihn zuerst empfänglich, dann aber durchlässig macht für ein göttliches Wirken. So jemand erkennt die Gegenwart des Göttlichen in jedem Ereignis und jedem Umstand und wird dabei zu einem aufrichtigen Diener des Allmächtigen. In der Tat basiert das wahre Wesen des Sufismus auf dieserart innerer und äußerer Aufrichtigkeit.

Beschreiten des Sufi-Pfades

Doch Sufismus konzentriert sich nicht allein auf die Läuterung des Einzelnen. Während er nach Selbstlosigkeit strebt, widmet der spirituell Reisende seine gemachten Erkenntnisse auch der Verbesserung der sozialen und kulturellen Bedingungen der Gemeinschaft und damit doch auch der Menschheit als Ganzes. Diese Verpflichtung zum Dienen macht einen wahren Sufi zu einer dynamischen, transformativen Kraft auf allen Ebenen: vom persönlichen Leben bis zum Leben der Menschen in der Gemeinschaft, die ja jeder von uns in der einen oder anderen Form ja zum Überleben braucht. Wahrer Sufismus aber ist dabei nicht darauf ausgerichtet seinen Vertretern, die dabei als Lehrer wirken, ein gutes Auskommen zu verschaffen. Auch hält er seine Schüler nicht absichtlich in einem Zustand der Mystifizierung. Selbst wenn es heute viele verwässerte Ableitungen davon gibt, was Menschen für »Sufismus« halten, bleibt die Essenz dieser Tradition, dank der Gnade des Allmächtigen, dennoch bestehen – auch in unserem modernen, technologischen Zeitalter. Sufismus bietet eben spirituelle Prinzipien, die als Grundlage dienen für die Art und Weise, wie wir zu handeln beabsichtigen, damit sie auch anderen Menschen zu Gute kommen. Ein wahrer Sufi versucht durch das Beschreiten des Pfades seiner Tariqa (spiritueller Weg) die Ereignisse in seinem äußeren Leben mit seinen inneren spirituellen Praktiken ins Gleichgewicht zu bringen, was mit der heute in allen Lebensbereichen zunehmenden Komplexität immer wichtiger werden dürfte.

Während die vielen anderen Formen von Ausbildungen sich nach Verstandesdingen oder den Erscheinungen der materiellen Welt ausrichten, versucht der Sufi sein Herzbewusstsein zu vervollkommnen und dabei die Tiefen dieses Bewusstseins auszuloten. So erlangt der Aspirant tiefe Einsichten, die seinem Leben wichtige Anhaltspunkte zur Orientierung liefern und als Mittel dienen, um sich selbst und Gott besser zu verstehen. Nur ein erwachtes Herz kann Gottesbewusstsein erlangen. Dem menschlichen Verstand bleibt dies verwehrt. Diejenigen aber, die dem Sufi-Pfad folgen, entdecken die Geheimnisse die durch die Erweckung des Herzens gelüftet, zumindest aber allmählich enthüllt werden. Sie erkennen und leben ein Wissen, das dem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) offenbart wurde, wo er einmal sagte:

Die Gefäße deines Herrn sind die Herzen seiner rechtschaffenen Diener, und die, die Ihm am liebsten sind, sind die weichesten und zartesten.

- Gemäß Abu l-Qasim At-Tabarani (Hadithen-Gelehrter)

Weiterlesen ...

Elf Prinzipien des Sufi-Weges

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Allah - ewigeweisheit.de

Im Folgenden wollen wir uns mit besonderen Aphorismen befassen, die dem Sufi im praktischen Leben tatsächlich helfen. Hodscha Abdul Khaliq Ghidschduwani († 1179), ein Sufi-Sheikh des Naqshbandi-Ordens, sah darin einen Weg der Meister der Weisheit.

Er spricht da von elf Geheimnissen, auf persisch »Kalimat-i qudsiya«: Heilige Worte der Tugend. Sie bilden ein praktisches System spiritueller Praxis, die dem Gottsucher dabei helfen, mystische Erlebnisse zu erfahren – auf dem Weg zu spiritueller Vollkommenheit.

1. Bewusst Atmen – Hosch dar Dam

Von zentraler Bedeutung in der Tradition des Sufi-Ordens der Naqshbandiyya, ist eine in jedem Augenblick bewusst erlebte Atmung. Dabei geht es darum, das eigentlich Göttliche im Atemvorgang zu erfahren, durch das unser Körper lebendig, gesund und bewusst lebt.

Wenn wir uns nun einmal den arabischen Namen für Gott ansehen – Allah –, so setzt sich das für diesen Namen im Arabischen geschriebene Symbol الله zusammen aus vier Buchstaben:

  • einem »Alif« dem ersten Buchstaben des arabischen Alphabets,
  • aus zweimal dem »Lam« dem elften Buchstaben und
  • aus einem »Ha« dem fünften Buchstaben, der alleinstehend in seiner Form einem geöffneten Mund ähnelt.

Dieser letzte der vier Buchstaben, das Ha, gilt als identisch mit dem Geräusch das ertönt wenn wir ausatmen. Und so bildet das Ha die Essenz des Namens Allah, die von ganz alleine jeden unserer Atemzüge begleitet. Alles Leben also, und Leben ist Atmen, ist demnach angewiesen auf die Äußerung dieses edelsten aller Namen.

Der ehrenwerte Sufi-Meister Maulana Dschami (1414-1492) meinte in den Strophen seiner Stanzen, dass wir uns, im übertragenen Sinne, allerdings in diesem letzten Buchstaben, dem Ha des heiligen Namen Allah, »verlieren« sollten:

Dein Alphabet, ich bin mir sicher Du weißt darüber
Darin verlieren wir uns im Ha mit jedem Atemzug den wir hauchen
Äußere ihn vorsichtig, und sei achtsam:
Es ist kein gewöhnlicher Laut den Du erzeugst.

Und solcherart »bewusstes Verlieren«, auf das Dschami hier verweist, meint ein Lösen von dem Glauben an eine von Gott getrennte Identität. Es geht da um ein Aufgehen in Allah, im Bewusstsein dieser nicht definierbaren Essenz erhabener Wahrheit – dem Ha, dem gehauchten Buchstaben. Ha steht für die Befreiung von allen Beschränkungen unseres körperlich-sinnlichen, empfindenden Seins. Im Bewusstwerden des geatmeten Ha, so Dschami, transzendiere einer alles, das seine Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit eingrenzt. Alle die aber nie davon hörten, für sie bleibt diese Essenz des Namens الله Allah, das Ha, absolut unerkannt.

2. Auf die eigenen Schritte achten – Nazar bar Qadam

Ein Sucher soll stets auf seine Schritte achten. Das heißt aber nicht etwa, dass er immerzu auf seine Füße schauen soll, was ihn ja schon bald ins Stolpern brächte. Vielmehr geht es hier darum, das man sein Vorankommen auf der spirituellen Reise sichert, aufrecht sich geradeaus bewegt, jederzeit und immer aufpasst in dieser Bewegung. Sheikh Sa'd Al-Din Kaschghari (†1456) sagte hierzu:

Auf die Schritte zu schauen bedeutet, dass der Suchende beim Kommen und Gehen (immer mal wieder) auf die Oberseite seiner Füße schaut und dadurch seine Aufmerksamkeit nicht zerstreut wird, indem er auf etwas schaut, auf das er nicht schauen sollte.

Ein Sucher führe sich unentwegt, aufmerksam in Richtung seines Ziels und sei sich dabei der eigenen Absicht bewusst. Nichts soll einen da mehr abbringen können, vom Erreichen des Ziels – vorausgesetzt natürlich, man hat ein solches. Es geht darum das Bewusstsein aufrecht zu erhalten und auch offen zu sein für besondere Gelegenheiten, um zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.

Im Koran lesen wir dazu:

O ihr Menschen! Esst von dem, was es auf der Erde gibt, als etwas Erlaubtem und Gutem, und folgt nicht den Fußstapfen Satans! Er ist euch ein deutlicher Feind. [...] O die ihr glaubt, tretet allesamt in den Islam ein und folgt nicht den Fußstapfen Satans! Er ist euch ja ein deutlicher Feind.

- Sure 2:168,208

3. Reise ins Heimatland – Safar dar Watan

Auf dieser Reise übergeben wir uns aus der Welt der Möglichkeiten, in die Welt der verwirklichten Erkenntnis. Es geht da um eine innere Reise, in der man in sich geht, in sich den Ursprung seines Seins findet. Auf so einer inneren Reise erfahren wir, dass sich auf unserem Lebensweg zwar auch viele Fehlschläge und Missgeschicke ereignen, doch dass alle Fehler gleichzeitig wichtige Lektionen sind, aus denen wir lernen können (sogar lernen sollen!) – wobei wir ausgehend von schlechten, allmählich zu lobenswerten Eigenschaften finden.

Wenn die Rede ist von einer Heimreise, so wird damit hingewiesen auf die Vorbereitung einer Transformation, die den Menschen aus einem subjektiven Traumzustand herausführt, damit er auf seinem Weg seine göttliche Bestimmung erfüllen kann. Der indische Sufi-Gelehrte Ahmad Sirhindi (1564-1624) sagte dazu einmal:

Dieser gesegnete Ausdruck (Reise ins Heimatland) bedeutet, in sich selbst zu reisen. Die dabei geernteten Früchte, stellen die letzte (spirituelle Übung auf dem Weg) an den Anfang, was eines der Merkmale des Naqshbandi-Weges ist. Und obwohl diese (innere) Reise auch in anderen Tariqas (Sufi-Orden) zu finden ist, findet man sie erst am Ende, nach dem ‚Reisen auf den Horizonten‘ (Bezug nehmend auf den Koran in Sure 41:53, in der es heißt: ‚Wir werden ihnen Unsere Zeichen auf den Horizonten und in ihrem Inneren zeigen, bis sie wissen, dass Er (Allah) der Wirkliche ist‘).

4. Alleinsein in der Menge – Khalwat dar Anjuman

Als jemand den Gründer des Naqshbandi-Sufi-Ordens, Shah Bahauddin Naqshband ‎(1318-1389), einmal fragte nach den grundlegenden Prinzipien spiritueller Entwicklung, antwortete er:

Alleinsein in der Menge, heißt im Außen mit Menschen zu sein, doch im Innern mit Gott, dem Verherrlichten.

Lernen frei zu sein, inmitten all der unzähligen Abhängigkeiten im Leben, heißt, dass jemand sogar so weit in geistiger Versenkung sich an die Allgegenwart Gottes erinnere, dass er, selbst wenn er sich durch eine viel  befahrene Straße bewegte, nichts von dem Lärm dort mitbekäme.

Dieses vierte Prinzip des Sufi-Weges beschreibt die Entwicklung der Fähigkeit, sich in Gegenwart äußeren Lärms, Störungen und Verwirrung, davon zu distanzieren und ruhig zu bleiben, im Dhikr: Dem Gedenken an Gott, durch stille Rezitation seiner heiligen Namen und Sätze, wie auch den Versen der Suren des heiligen Koran.

Maulana Dschami – ewigeweisheit.de

Sheikh Maulana Dschami in einer, dem persischen Maler Behzad zugeschriebenen Miniatur aus dem Jahr 1490.

Natürlich bedeutet das nicht, dass man umherirrt und so tut, als bekäme man nichts mehr vom Außen mit. Nur ein Narr würde so handeln. Vielmehr geht es darum, sich immer in die Lage zu versetzen, seine Aufmerksamkeit auf das Äußere zu lenken, sobald nötig, doch dann wieder zurückzukehren in die Übung des inneren, des stillen Dhikr. Obwohl ein Sufi äußerlich in der Welt ist, ist er oder sie innerlich immer bei Gott.

5. Allahs Gedenken – Yad kard

Sich im Herzen und gleichzeitig mit der Zunge erinnern, wie umgekehrt mit der Zunge sprechend, auch im Herzen zu rezitieren: Stiller oder gesungener Dhikr erweckt das Herz, um sich die göttliche Wahrheit (Al Haqq) zu vergegenwärtigen. Das ist wahrer Dhikr. Der weise Hodscha Ubaidullah Ahrar (1404-1490) meinte dazu einmal:

Die wahre Bedeutung des Dhikr ist das innere Gewahrsein Gottes, dem Verehrung gebührt. Dhikr beabsichtigt dieses Bewusstsein zu erlangen.

Wenn da nun aber die Rede ist von einem Erinnern, dann meint das auch ein Sich-Zurückversetzen an gemachte, positive Erfahrungen, wie auch daran, dass man ein Teil einer Sufi-Tradition ist, aus der man positive Energie beziehen und Kraft schöpfen kann.

6. Zurückhaltende Selbsteinschränkung – Baz gascht

Dieses Prinzip des Sufi-Weges beschreibt das zielstrebige Trachten nach göttlicher Wahrheit, indem man sich heim begibt in die Gegenwart Gottes. Das erfordert zuerst einmal sehr große Selbstdisziplin, muss man sich dafür doch unermüdlich auf dem inneren Weg der Heimkehr bewegen, was wohl sicher nur dem gelingt, der in sich Geduld kultiviert hat.

Stets sollte ein Sufi versuchen seine Gedanken auf das Göttliche hin auszurichten und nicht abschweifen zu lassen. Das erfolgt etwa in einem inneren Rezitieren der Schahada:

أَشْهَدُ أَنْ لَا إِلَٰهَ إِلَّا ٱللَّٰهُ وَأَشْهَدُ أَنَّ مُحَمَّدًا رَسُولُ ٱللَّٰهِ

Ashadu ala ilaha illallah, wa-ashadu anna muhammadan rasulullah.

Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah, und ich bezeuge, dass Mohammed sein Prophet ist.

Andererseits besteht die in diesem sechsten Prinzip beschriebene Heimkehr auch darin Reue zu zeigen, über das, was man an Gedanken, Gefühlen und Taten bedauert, um damit allmählich zu einer Rechtschaffenheit zu finden.

7. Achtsamkeit – Nigah dascht

Hier geht es zum einen darum die Gedanken an das Weltliche auszublenden, durch wachsames Kontrollieren der eigenen Aufmerksamkeit. Achtsamkeit meint ein wachsames Gewahrsein hinsichtlich vorüberziehender Gedankengänge. Der Sufi vermag dabei sein Herz zu bewahren, vor etwaig schlechten Gedanken.

Zum anderen sagen die Sufis der Naqshbandiyya, dass es für einen Suchenden bereits eine großartige Leistung ist, sein Herz für nur fünfzehn Minuten vor schlechten Neigungen zu schützen.

Wer diese beiden Übungen vollbringt, wird die geistigen Regungen seines Herzens erkennen. Und, wie der Heilige Prophet Mohammed (as) einmal sagte:

Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.

Achtsamkeit bedeutet, wenn der Suchende sein Herz auf die Bedeutung dieses heiligen Satzes ausrichtet:

لا إله إلا الله

La ilaha illa Allah

Es gibt keinen Gott außer Allah.

Keine anderen Gedanken finden dann noch Eingang in sein Herz.

Sa'd Al-Din Kaschghari sagte:

Der Suchende muss eine oder zwei Stunden lang, oder wozu auch immer er fähig ist, seinen Geist festhalten und verhindern, dass Gedanken an etwas anderes (als Gott) eindringen.

Wir sollten uns in solch erhabenen Üben auf die Allgegenwart Gottes konzentrieren und dabei dennoch offen bleiben, für intuitiv Empfundenes und die vielen günstigen Chancen, die sich uns allezeit überall eröffnen – Möglichkeiten mit denen wir gute, positive Wirkungen in der Welt vollbringen können.

8. Erinnerndes Gewahrsein – Yad dascht

Es geht dabei um ein fortwährendes Besinnen auf die göttliche Gegenwart im Herzen, was eine allmähliche Annäherung an die Wirklichkeit Gottes ermöglicht. Dem Sucher wird damit bewusst, dass die Trennung von den niederen Aspekten seines Egos, nur durch objektive Liebe geläutert werden kann. Was die Sufis als »Selbstverleugnung« bezeichnen, bringt sie in dieses letzte Stadium der Selbstvervollkommnung, worin sie grenzenlose Freude erfahren, denn sie haben da alle egoistischen und bösen Gedanken überwunden – ja sogar die Bewertung all dessen überwunden, was sich an Positivem in ihrem Leben ereignet (hatte). Ausschließlich nämlich das, was die Sufis Al Haqq nennen, die wahrhaftig göttliche Weisheit (auch: Wahrheit), bleibt einem so Erfahrenden in seinem Geiste erhalten. Hodscha Ahrar schrieb hierzu:

Das Erinnernde Gewahrsein ist ein Ausdruck des Geistes, der die Dauerhaftigkeit des Bewusstseins der glorreichen Wirklichkeit bedeutet. Es bedeutet die Göttliche Gegenwart, ohne selbst dabei sich in Nichtsein aufzulösen.

9. Zeitbewusstsein – Wuquf Zamani

Bahauddin Naqshband sagte, dass das Bewusstsein der Zeit den Schüler sowohl zu dem mache was er ist, wie ihn ebenso führen können solle. Das bedeutet: Jeden Augenblick auf den eigenen Geisteszustand achten und wissen, ob da ein Grund ist dem Allmächtigen zu Danken oder aber Reue zu zeigen. Der Suchende muss dabei wissen, wie viel Zeit er auf dem Weg zu seiner spirituellen Reife verbracht hat.

Wenn hier die Rede von Zeit ist, meint dass die Spanne in der man achtsam, jedoch gleichzeitig ganz nüchtern in einem Hochgefühl verbringt, zwischen Zerstreuung und Sammlung.

Hierüber meinte Dschami, man solle darüber »Buch führen«, um sich stets dem täglichen Umfang seiner Geistespräsenz immer bewusst zu bleiben.

10. Zahlenbewusstsein – Wuquf ‘Adadi

Dschami galt außerdem:

Wuquf ‘Adadi ist die Beobachtung der Anzahl der Dhikrs und ob diese Beobachtung auch zu (besonderen) Ergebnissen führt oder eben nicht.

Bahauddin Naqshband:

Die Beobachtung der Anzahl der Wiederholungen des Dhikr des Herzens dient dazu, geistige Aktivität zu sammeln, die zuvor ganz zerstreut und unfassbar war.

Drum gilt, das dieses »Buchführen« über den Dhikr nicht eines alltäglich gebräuchlichen Zählens gleich kommt, sondern eher ein bewusstes Gewahrsein über die Wiederholungen der heiligen Namen und Verse (etwa durch das Abzählen an einem islamischen Rosenkranz, dem »Misbaha« beziehungsweise »Tesbih«). So soll das Herz vor schlechten Gedanken bewahrt werden.

Den fortgeschrittenen Geistesschüler führt diese Praxis auf die Ebenen der Intuition. Das hilft ihm sich auf seinem spirituellen Pfad den höheren Lehren zu nähern.

11. Herzbewusstsein – Wuquf Qalbi

Wer dieses Prinzip in sich verwirklichen konnte, dessen Herz hat Gottesbewusstsein erlangt. In so einem Menschen ist die göttliche Liebe erwacht. Hier ist sich einer bewusst geworden, dass seine Ego-Existenz ein Hindernis für seine endgültige Verwandlung ist, und darum fürchtet er sich nicht mehr, sie zu opfern – hat er doch unendlich viel mehr zu gewinnen, als er dabei verlieren könnte.

Über das Ququf Qalbi sagte Ahrar:

Es ist ein Ausdruck, der ein Gewahrsein und ein Herzbewusstsein gegenüber der Höchsten Wirklichkeit meint, die so empfunden wird, dass das Herz kein Bedürfnis mehr verspürt, nach irgendetwas anderem, als nur dieser ultimativen Wahrheit.

Herzbewusstsein bedeutet, dass das Herz beim Geliebten (also bei Gott) ruht, so als ob nichts und niemand anderes existiere.

Bahauddin Naqshband hielt es nicht für notwendig, während des Dhikr den Atem anzuhalten, wie das in einigen Tariqas üblich ist, auch wenn er diese Praxis dennoch für nützlich hielt. Wenn ihm ebenso Wuquf Zamani (Zeitbewusstsein) und Wuquf ‘Adadi (Zahlenbewusstsein) weniger wichtig erschienen, hielt er im Gegenteil dazu

die Einhaltung von Wuquf Qalbi für das Wichtigste und Notwendigste, weil es die Zusammenfassung und Essenz der Absicht des Dhikr ist.

 

Weiterlesen ...

Die Geschichte vom Fischer-Derwisch

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Derwisch - ewigeweisheit.de

Einst befand sich der große Sufi-Meister Ibn Arabi auf Reisen durch Tunesien. Entlang der Küste traf er auf einen Fischer, der dort in einer kleinen Lehmhütte hauste. Es war ein besonderer Mann, denn er spendete seinen gesamten Fischfang den Armen.

Für sich aber behielt er nur einen einzigen Fischkopf, den er sich bescheiden zubereitete, um ihn täglich als einzige Speise dankbar zu verzehren.

Der Sufi-Sheikh Ibn Arabi und der Fischer wurden Freunde. Ja vielmehr, wurde der Fischer ein Schüler Ibn Arabis. Eines Tages sollte er selbst auch ein Sheikh sein, mit eigenen Derwisch-Schülern.

Einer dieser Schüler nun kam eines Tages zu ihm und ließ ihn wissen, dass er über das Meer in die spanische Levante reise. Da das auch das Land war, in dem Ibn Arabi lebte, bat ihn sein Meister, diesen in dessen Heimatort zu besuchen. Der Fischer nämlich war in seiner spirituellen Entwicklung nicht sehr viel weitergekommen, ohne seinen verehrten Sheikh Ibn Arabi. So bat der Fischer-Derwisch also seinen Schüler den großen Sheikh aufzusuchen und diesen für ihn um Rat zu bitten.

Also kam der junge Sufi-Schüler nach Spanien und begab sich bald in die Stadt, von der er wusste, dass dort Sheikh Ibn Arabi lebt. Auf der Straße dort fragte er jemanden, ob er von Ibn Arabi wüsste. Gleich bejahte dieser und sprach:

Gewiss. Siehst du den Palast dort oben auf dem Hügel, dort lebt der große Sufi.

Der junge Derwisch war darüber ziemlich verwirrt, denn wie, so wunderte er sich, konnte ein großer Sufi in einem Palast leben, sind wahre Sufis der materiellen Welt doch eher abgewandt. Sie lieben keinen Besitz, sondern versuchen sich aus den Fängen der irdischen Welt zu lösen, um damit ihr Ego allmählich zu entmachten.

Wie dem auch sei, erinnerte sich der junge Sufi natürlich an die Bitte seines Meisters, den Sheikh Ibn Arabi aufzusuchen und ihn um Rat zu bitten. Also begab er sich dort zu dem Hügel, wohin man ihn verwiesen hatte. Als er aber den Hügel aufstiegt, führte ihn ein Weg entlang weitläufiger Hänge. Es waren dort große Äcker und auch Obstgärten. Er sah dort Hirten mit Schafen, andere mit Ziegen und auch welche, die sich um eine Kuhherde kümmerten. All das verwunderte den jungen Derwisch nur. Als er aber den Palast vor sich aufragen sah und die Menschen dort, die alle in feinste Seide gekleidet waren, wollte er seinen Augen einfach nicht trauen, war all das doch jenseits dessen, was ihn sein Meister über das bescheidene Leben eines Derwisch gelehrt hatte.

Dennoch betrat er den Palast. Da waren viele hübschen Mädchen und gutaussehende Jünglinge: anscheinend die Bediensteten des Sheikh. Als er einen von ihnen um Auskunft bat, versicherten sie ihm, dass der Sheikh Ibn Arabi gerade noch beim Kalifen gewesen sei, doch schon in Kürze wieder hier eintreffen werde.

Der junge Mann konnte es einfach nicht fassen, besonders als er dann Ibn Arabi leibhaftig vor sich sah: gekleidet in kostbare Gewänder, sein Turban war mit einer wertvollen Perlenkette und kostbaren Edelsteinen geschmückt. Wie dem auch sei stellte der junge Derwisch dem Sheikh Ibn Arabi die Bitte seines Meisters vor. Der erinnerte sich gleich, von wem die Rede war:

Lass Deinen Meister wissen, was ich denke! Er ist noch viel zu sehr dem Weltlichen verhaftet.

Darüber war der Junge wahrlich empört. Und doch verabschiedete sich freundlich von Ibn Arabi.

Als er schließlich nach längerer Reise zu seinem Sheikh, dem Fischer, zurückkehrte, freute der sich seinen Schüler wiederzusehen. Natürlich wollte er sofort wissen, welchen guten Rat er von Sheikh Ibn Arabi für ihn überbracht bekam. Dem Derwisch war das aber sehr unangenehm. Er befürchtete nämlich, würde er seinem Meister sagen was Ibn Arabi ihm mitgeteilt hatte, dass er es ihm bestimmt nicht glauben und darüber dann auch noch über ihn erbost sein könnte. Doch sein Meister bestand darauf zu erfahren, was er noch nicht wusste. Also erzählte ihm der Schüler was ihn der große Sheikh wissen ließ.

Da brach der Fischer in Tränen aus. Darüber erschrocken, fragte ihn der junge Derwisch, wie es sein könne, dass Ibn Arabi in solch fantastischem Luxus lebe und ihm, seinem Meister, dem armen Fischer als Rat gäbe, nicht so verhaftet im Weltlichen zu sein. Sein Meister aber sprach:

Er hat recht! Er schert sich nicht um all seinen Besitz. Hingegen ich, wenn ich jeden Abend meinen Fischkopf verzehre, wünschte ich doch insgeheim:
»Wäre es doch nur ein ganzer Fisch.«

 

Weiterlesen ...

Konya: Die Stadt der Tanzenden Derwische...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Kuppel über dem Mausoleum Rumis in Konya

Mitten im zentral gelegenen Hochland von Anatolien befindet sich auf tausend Metern Höhe die Stadt Konya. Hier lebte im 13. Jahrhundert der große Mystiker und persische Dichter Dschallaledin Rumi. Wer ihn kennt der kennt auch die Drehenden Derwische in ihren weißen Gewändern, mit ihren hohen braunen Filzhüten. Schon lange tanzen sie da in Konya, in dieser Stadt inmitten der größten Steppe der Türkei.

Besucht man Konya mit dem Auto, dem Bus oder dem Zug, fährt man, ganz gleich aus welcher Richtung, eine ganze Weile durchs Nirgendwo, bevor man die Stadt erreicht. Weit und breit, so scheint's, gibt's nichts als trockene Erde, aus der sich, über ganz lang gezogene Hänge, weit gestreckte kahle Hügel erheben. Eine imposante Gegend, deren Böden sich in verschiedenen Farben zeigen.

Ich selbst fuhr mit dem Zug nach Konya. Meine Reise begann früh morgens in Yenice, einer kleinen Stadt in der Nähe von Tarsus. Von dort ging die Fahrt zuerst durch das schöne Taurus-Gebirge, von dem manche glauben, dass dort einst wilde Stiere lebten.

Das Herz der Seidenstraße

Konya ist schon sehr lange ein bedeutender Ort auf der Landkarte. Als sich einst die Karawanen entlang der Seidenstraße durch Anatolien bewegten, rasteten sie in Konya und trieben Handel dort. Im 13. Jahrhundert war es die Hauptstadt des Sultanats der Rum-Seldschuken. Schon sehr viel früher aber war dieser Ort besiedelt, wieso Konya sogar zu den ältesten Städten der Welt zählt. Hier nämlich leben Menschen seit bereits 6000 Jahren.

Das diese Region schon sehr früh bewohnt war zeigt auch das etwa vierzig Kilometer südöstlich der Stadt gelegene Çatalhöyük (gesprochen: »Tschatalhöyük«), jene sogenannte »Hügelgabelung«, in der Ende der 1950er Jahre Prähistoriker eine alte Siedlung aus der Jungsteinzeit entdeckten. Von allen heute durch Archäologen gefundenen Siedlungen, ist Çatalhöyük, mit seinen mehr als 9000 Jahre alten Gebäuderuinen, die älteste Siedlung der Welt. Die religiösen Kulte dieser Menschen reichen damit zurück bis in die Zeit des alten Matriarchats, dass in dieser Region noch Tausende Jahre lang bestehen sollte.

Im 8. Jahrhundert v. Chr. dann siedelte in dieser Region das indogermanische Volk der Phryger. Ihre zentrale Gottheit war Kybele, die »Magna Mater«, die Große Muttergöttin. Letzte Stadt des alten Reichs der Phryger war Ikonion. Konya aber ist die jüngere Form dieses griechischen Namens.

Der Name Ikonion aber geht zurück auf das alt-griechische Wort »Eikon«, die Ikone. Und eine Ikone ist das Kultbild einer heiligen Person, die in diesem Falle da wohl irgendwo das Haupt der Medusa zeigte. Wer aber war die Medusa?

Vor der olympischen Zeit Alt-Griechenlands, das sich ja einst westlich und östlich der Ägäis befand, verkörperte das wunderschöne Mädchen Medusa die Göttin der Weisheit. Sie aber war auch eine Göttin der Unterwelt und ihr Haupt war den Jüngern des mythischen Dichters Orpheus heilig. Im Vollmond verehrten sie die Medusa, da sich ihm das Licht aus der Unterwelt spiegelt, durch die sich die ja »nächtliche Sonne« bewegt. Medusa aber bewachte das Reich der Gattin des Hades, Persephone, jenen Ort an den sich die Seelen der Verstorbenen, doch auch jener hinbegeben, die vom Tod schon kosten durften, um schließlich als Eingeweihte fortzuleben.

In olympischer Zeit dann aber sollte der griechische Held Perseus das Leben der Medusa beenden, denn ihr Blick war tödlich und wer ihr in die Augen sah, erstarrte zu Stein. Perseus hatte ihr darum »den Spiegel vorgehalten« worin sie sich selbst erblickte und erstarrte. Die olympische Weisheitsgöttin Athene aber beneidete Medusa um ihre Weisheit und jener Spiegel des Perseus war eigentlich das Schutzschild der Athene.

Die psychologische Deutung des Medusa-Mythos ist wohl ein Hinweis darauf, dass die Weisheit über den reinen Intellekt siegt. Sie lässt ihn erschaudern und bringt die Münder der Intellektuellen zum Schweigen. Medusas Blick lässt erstarren, wenn auch nur die Lippen.

Die Weisheit der Sufis und Derwische

Die Hochebene Konyas war immer schon ein Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und der Begegnungen. Ob Menschen aus dem Osten kamen oder aus dem Westen: Wer durch Zentralanatolien reiste, kam auch durch Konya. Manche waren nur Besucher, andere blieben dort. Und das sieht man den Menschen auch heute noch an, denn man begegnet dort einer Vielzahl verschiedener Ethnien und Menschentypen. Manche sind Nachfahren von Griechen, andere haben arabische Vorfahren. Menschen mit blauen Augen trifft man da, wie ebenso welche mit asiatischen Zügen.

Die alten Verwandten der Menschen dieser Stadt scheinen von überall her gekommen zu sein. Unter ihnen war auch jener Derwisch den man den Griechen nannte, auf türkisch »Rum«. Daher sein Name Rumi. In der Türkei ist aber die Rede von »unserem Meister«: Mevlana – einem Menschen der wahrliche Meisterschaft über sein Leben errungen hat, ein Adept, würde man vielleicht auch sagen.

Ursprünglich aber stammte Dschalaladdin Rumi aus dem alten Land von Chorasan, das sich damals weit erstreckte über die Grenzen des heutigen Iran, Afghanistans und Turkmenistans. In Balch, der »Stadt des Goldenen Pferdes«, erblickte der kleine Dschalaladdin im Jahre 1207 das Licht der Welt.

Als er zwölf Jahre alt war musste er mit seinen Eltern fluchtartig Balch verlassen, denn aus dem Osten kamen die gefürchteten Reiterheere Dschingis Khans immer näher. Auf ihrer Reise trafen sie in Nischapur (Stadt im Iran) den Sufi-Heiligen Fariduddin Attar, der schon damals die Größe Rumis erkannte. Attar war der Verfasser eines berühmten Buches mit dem Titel »Das Parlament der Vögel«. Er schildert darin die ungewöhnliche Reise eines Vogelschwarmes, angeführt von einem Wiedehopf. Die Vögel bewegten sich durch die »sieben Täler der Liebe«, auf der Suche nach dem Göttervogel Simourgh.

Für den jungen Dschalaladdin sollte die Begegnung mit Attar von großer Bedeutung sein, der, wenn man so will, ganz und gar das spätere Schaffen des Dichters Rumi inspirieren sollte.

Steppe von Konya - ewigeweisheit.de

Die Steppe von Konya in Zentralanatolien

Auf dieser gefährlichen Reise aber verlor der junge Dschalaladdin seine Mutter und seinen Bruder. Er und sein Vater Bahaudin kamen nach Konya im Jahre 1228. Er sollte dort der Leiter einer großen Schule werden. Später erbte Rumi von ihm diese ehrenhafte Aufgabe.

Im alten Persien waren die Sufis meist große Gelehrte. Möglicherweise bereits vor der Islamisierung bewegten sie sich als Botschafter eines neuen Geisteslebens zwischen den Städten des mittleren Orients, lehrten später an den Universitäten und den Höfen der Herrscher und Sultane. Sie waren Männer und Frauen die von Mund zu Ohr die alten Weisheiten aus Ost und West bewahrten.

Der sonderbare Mann im Secondhand-Laden

Etwa sieben Stunden verbrachte ich im Zug und staunte, wie sich die Ausblicke immer wieder wandelten. Es war eine wahrlich inspirierende Fahrt nach Konya, durch verschiedene Vegetationszonen. Als ich dann am Nachmittag ankam fuhr ich vom Bahnhof mit dem Taxi in mein Hotel in der Altstadt von Konya.

Unzählige sehenswerte Orte gibt es in der Stadt. Den Besuch des Mausoleums Rumis legte ich auf den kommenden Morgen.

Seit Rumis Lebzeiten ist das Mevlana-Museum Konyas, worin sich das Mausoleum Rumis befindet, wie auch die Loge der Mevlevi-Derwische, ein wichtiger islamischer Wallfahrtsort der Türkei. Zu Zeiten des Osmanischen Reichs fügte man diesem Bau darum weitere Gebäude hinzu und setzte ältere in Stand. Den Vorhof zu diesem Bau umsäumen 18 Klausen, worin einst die Derwische des Ordens lebten. In diesen Räumen findet man heute gut illustriert und Beschrieben, wichtige Exponate aus der Frühzeit des Mevlevi-Ordens.

Den gesamten Gebäudekomplex nennt man Tekke (auch: Dargah, »der Rückzugsort«). Hier fanden die Dhikr-Zeremonien der Mevlevi-Derwische statt, wo man gemeinsam im Kreise repetitiv die Heiligen Namen Allahs rezitiert. Der Hauptraum einer Tekke wird darum Dhikrhane oder auch Semahane genannt. In letzterer Beititelung klingt das Wort »Sema« an, das für den typischen Drehtanz der Mevlevi-Derwische steht, in dem sie durch kreisende Bewegungen in Ekstase geraten und dabei, himmlische Segnungen empfangend, diese an die zuschauenden Anwesenden übertragen. Doch das ist die eher oberflächliche Betrachtung dessen, was während dieser Zeremonie sonst noch alles stattfindet.

Ince-Minareli-Medrese - ewigeweisheit.de

Das berühmte Tor der Ince-Minareli-Medrese: Ein Meisterwerk der Steinmetzkunst.

Nachdem ich mir jedenfalls dort in der Tekke der Mevlevis alles angesehen hatte, wollte ich noch zur Ince-Minareli-Medrese, einer alten Schule hinter dem Alaadin-Hügel-Park. Vom Mevlana Mausoleum läuft man dort in etwa zwanzig Minuten hin. Das Portal dieses Gebäudes nämlich gehört zu den schönsten Toren die ich je sehen sollte.

Bevor ich aber dorthin laufen wollte, holte ich mir in einer der Bäckereien noch ein Simit, diese typischen türkischen Hefeteigringe mit Sesam. Den Bäcker aber fragte ich ob man hier in der Nähe auch mal ins Gespräch kommen könne mit einem richtigen Derwisch, in der Hoffnung das er vielleicht selbst einer wäre. Da deutete er in Richtung Selimiye-Moschee. Dahinter befände sich ein Secondhand-Laden, wo ein redseliger Mann gerne über die Derwische erzähle. Einer der Lehrlinge des Bäckers, der mir gerade mein Simit eintütete, warf seinem Meister einen heimlichen Blick zu, so als wüsste der genau, was er mir da in Wirklichkeit gerade empfohlen hatte. Das aber machte mich nur neugieriger.

In einem kleinen Gässchen, nicht all zu weit von dem Mausoleum Rumis entfernt, befand sich ein außergewöhnliches Geschäft mit allerlei kleinen Gegenständen. Jesusstatuen befanden sich dort neben kleinen Buddhas, kleine Koranbüchlein standen in einem alten hölzernen, verglasten Schrank wo man auch Ney-Flöten liegen sah, Rosenkränze in allen Farben und Formen, Bilder Rumis und anderer Sufis und kleine weiße Plastik-Derwische.

Der Mann der dort arbeitete begrüßte mich freundlich als er mich sah und fragte wie er mir weiterhelfen könne.

Als ich ihn auf Sufismus und Esoterik ansprach, schien mir als hätte er nun ein »Opfer« gefunden. Er hielt mir gleich die Hand hin, stellte sich mir vor als Aslan (der türkische Name bedeutet wörtlich: »Löwe«), fragte mich nach meinem Namen und bat mich an einem winzigen, vollgekramten Tisch, mitten zwischen Bücheregalen in der Ecke des Raumes Platz zu nehmen. Um den Tisch standen drei hölzerne Stühle mit bunten Kissen und ein Sessel.

Schon stand da ein Glas mit Tee vor mir. Er warf mir einfach drei Zuckerwürfel rein, nahm seine Ney-Flöte und begann darauf sogleich mit pathetischer Gebärde eine Melodie zu blasen. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber die Situation war mir irgendwie peinlich. Dennoch fragte ich ihn nach seiner kurzen Einlage über die Bedeutung des Instruments. Aslan versicherte mir zuerst, dass er selbst kein Sufi wäre, sich aber trotzdem für Sufismus und Derwischtum interessiere. Dann setzte er sich mir gegenüber, blickte mich mit seinen großen Kulleraugen an und erzählte weiter:

Die Rohrflöte ist wie ein Mensch.

Dann machte er eine etwas längere Pause, wahrscheinlich um den Moment abzupassen bis ich stutzig wurde. Dann setzte er an zu seinem eigentlichen Vortrag:

Nur der Mensch wurde in Gottes Angesicht geschaffen. Gott gab dem Menschen eine Seele, damit er etwas von ihm habe, das gleich mit ihm ist. Damit hat der Mensch etwas, das nicht von dieser Welt ist, jedoch übernatürlich und göttlich.

Diese Geistseele formt das wahre Selbst eines Menschen. Doch sie kam in diese Welt aus anderen Welten, jenseits allen irdischen Daseins.

Nun senkte Aslan seine Stimme und neigte sich etwas zu mir vor, so als ob er wolle dass ich ihn besser verstehen kann:

Manche sagen die Seelen käme vom Stern Sirius auf die Erde, zumindest wird so etwas Ähnliches in der 53. Koran-Sure »Der Stern« angedeutet. Und jene Seele bekleidet sich dann mit der Erscheinung eines menschlichen Körpers.

Tekke der Mevlevi-Derwische mit dem Mausoleum Rumis - ewigeweisheit.de

Moschee und Tekke der Bruderschaft der Mevlevi-Derwische in Konya. Über dem Mausoleum Rumis erhebt sich die türkisfarben gekachelte Kuppel - heutiges Wahrzeichen der Stadt Konya.

Danach setzte er sich in seinen mit Wolldecken eingemummelten Sessel, lehnte sich zurück und nahm sein kleines Glas Tee in die Hand führte es bedächtig an seine Lippen, blies kurz darüber, um dann einen Schluck daraus zu nehmen. Er schaute mich dabei an, so als erwartete er von mir eine Frage.

Ich fragte mich, ob er das jetzt nur mir erzählte oder ob er bereits so eine Art Programm einstudiert hatte. Dennoch aber fand ich interessant was er da sprach, war es doch etwas worüber ich auch schon las.

Doch da sich diese Geistseele auf der Erde eigentlich an einem fremden Ort aufhält, sehnt sie sich nach ihrer wahren Heimat

meinte Aslan und fügte mit besonderer Betonung hinzu, dass ein Mensch, der noch nicht aus seinem Alltagsschlaf erwacht sei, sich noch mit seinem Körper identifiziere und darum der manifesten Welt um ihn herum anhafte.

Wenn sich nun aber so einer danach sehnt weltliche Güter zu besitzen, eine besondere Stellung in der Gesellschaft zu haben, Ansehen, Ruhm und Macht zu genießen, wird er dennoch eines Tages merken, dass das wonach er sich sehnt nichts Weltliches kompensieren kann. Dann aber beginnt ihn das Geistselbst so fest zu umschlingen, dass er unweigerlich zu jammern beginnt. Und für diese Traurigkeit steht bei den Mevlana-Derwischen der wimmernde Klang der Rohrflöte.

Aslan lehnte sich wieder zurück, griff nach seiner Rohrflöte und spielte mir darauf noch eine dieser durch und durch melancholischen Melodien vor.

Dann erzählte er mir, dass das Schneiden der Röhrichts aus dem Schilfmeer dem gleiche, was mit der Seele passiert, wenn sie ihren eigentlichen Ursprung im Meer des Göttlichen verlässt.

Denn so wie das Schilfbett die Heimat für das Rohr der Flöte bildet, so ist der Himmel die Heimat der menschlichen Seele.

Wenn nun der Derwisch auf der Ney-Flöte spielt, kommt das dabei zum Ausdruck. Das Innere des Rohrs ist eigentlich leer. Nur der Atem der dort hindurchgeht, da hineingeblasen wird, lässt den so charakteristischen Klang der Rohrflöte erklingen und erwckt sie damit quasi zum Leben. Und während man an der einen Öffnung der Rohrflöte die hauchende Klage vernehmen kann, bildet die andere Öffnung das Mundstück an den Lippen des Flötenspielers. Wäre dieser aber ein Sufi der eingeweiht ist in das Mysterium von Leben und Sterben, der wüsste um den Grund dieser Trennung der Seele aus dem Göttlichen und fände damit auch den Weg zur Rückkehr in seine wahre Heimat. Spielte so einer auf der Ney, so ertönte daraus wohl der Klang Gottes.

Aslan blickte mich mit seinen leuchtenden Augen eindringlich an, womit er mich etwas verunsicherte. Doch dann stand er auf und hob den Zeigefinger, um anzudeuten dass er da etwas habe, was Rumi dazu schrieb. Aus Mitten eines riesigen Stapels Papier zog er ein einzelnes Blatt, von dem er mir aus einem Gedicht Rumis vorlas.

Hör auf der Flöte Rohr – wie es erzählt, und wie es klagt
Vom Trennungsschmerz gequält:
Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt,
Weint alle Welt bei meinen Tönen mit.

Ich suche ein Herz, vom Trennungsleid zerschlagen,
Um von der Trennung Leiden ihm zu sagen.
Sehnt doch nach dem in Einheit Lebensglück
Wer fern vom Ursprung, immer sich zurück.

Ich klagt’ vor jeder Gruppe in der Welt,
Ward Guten bald und Schlechten bald gesellt.
Ein jeder dünkte sich mein Freund zu sein,
Sucht mein Geheimnis nicht im Herzen mein.

Und doch, so fern ist’s meiner Klage nicht,
Dem Ohr und Auge fehlet nur das Licht.
So sind auch Leib und Geist einander klar.
Doch welchem Auge stellt der Geist sich dar?

- Aus dem Lied der Rohrflöte von Dschalaleddin Rumi (die hier verwendete Übersetzung aber stammt von Annemarie Schimmel)

Symbole von Leben und Sterben

Alles was die Derwische in ihrem besonderen Ritus tun, sagte Aslan, sei genau strukturiert. Jeder Teil ihrer Kleidung, der Gewänder und der besondere Filzhut ist alles von esoterischer Bedeutung. Es sind Symbole für das menschliche Sterben – für aber ein Sterben vor dem eigentlichen Sterben!

Natürlich liegt in den Bewegungen der Mevlevi-Derwische ein tieferes Geheimnis. Die nach oben geöffnete Hand empfängt die himmlischen Einflüsse und die nach unten weisende, sendet diese Segnungen an die Anwesenden. Der schwarze Umhang aber ist das Leichentuch des Ego, der Filzhut ist sein Grabstein.

In dieser Symbolik erkennt einer unweigerlich den initiatorischen Charakter der den Ritus der Mevlevi-Derwische unter allen Sufi-Orden einzigartig macht.

Das Dervishane-Tor - ewigeweisheit.de

Das Dervishane-Tor: Eingang der Mevlevi-Sufis in ihre Tekke.

War Goethe ein Derwisch?

Abends las ich noch über islamische Mystik im Internet und fand dabei zu Johann Wolfgang von Goethe. In seiner wohl umfangreichsten Gedichtsammlung, dem »West-Östlichen Diwan«, dichtete Goethe aus Perspektive eines Muslim. In einigen der darin enthaltenen Verse spricht er etwas an, worauf auch die Symbolik im Ritus der Mevlevi-Derwische hindeutet, nämlich auf das Leben und Sterben eines jeden von uns:

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Goethes hierin zitierte »Stirb und werde!« spielt wohl auch darauf an, was der Prophet Mohammed (as) in einer ihm zugesprochenen Überlieferung einst sagte: »Stirb bevor du stirbst«.

Einweihung in die Mysterien hat nichts mit dem Verraten von Geheimnissen zu tun, wie viele meinen. Es ist stattdessen die Vorwegnahme der Todeserfahrung. Wenn Goethe schreibt »Bist Du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde«, meint er damit all jene, die wie in geistiger Umnachtung sich Tag für Tag durchs Dunkel ihrer Unwissenheit schleppen, so als würden sie wachend schlafen und sich allein von den Triebkräften ihres Egos gesteuert durch die Welt bewegen.

»Komm nach Konya, wer immer du bist«

In Rumis Weisheit, aus der wir in seinen Schriften erfahren, darunter das Mathnawi und der Diwan-e-Schams, geht es immer wieder darum das Ego zu überwinden. Es ist ein Kampf den jeder Mensch nicht im Außen sondern in sich austragen muss, ein Kampf gegen das Böse im Herzen der eigenen Seele.

Nur in der Überwindung des Ich, kann einer, so Rumi, in seinem Herzen Göttlichkeit erblühen lassen. Wem damit gelingt die eigene Seele zum Sterben zu bringen, bevor er stirbt, der wird die höchste Stufe eines Liebenden erlangen. Und das ist wofür der Mensch eigentlich erschaffen wurde.

Es gilt die Schwächen eines auf das Diesseits gerichtete Dasein zu überwinden. Wem das gelingt, der wird die Menschen in seinem Umfeld selbstverständlich so nehmen wie sie sind und einer sein den man liebt für seine Liebe.

All jene die zum ersten Mal nach Konya kommen, und dabei noch unvollständig sind, so Rumi, verlassen die Stadt um dabei vollständig zu werden, ganz gleich was ihnen auch immer gefehlt haben mag. Ich muss sagen, dass das auf mich wirklich zutraf. Denn nach dieser Zeit hatte sich etwas in meinem Leben ganz grundsätzlich verändert.

Die Drehenden Derwische in Konya - ewigeweisheit.de

Die Drehenden Derwische in Konya

Auch wenn das »nur« ein Zufall war, bin ich dennoch dankbar für diese Wende in meinem Leben, auch wenn ich noch immer daran arbeite. Veränderung ist eben mit Aufwand verbunden und manchmal auch mit Schmerz. Was man da braucht ist Geduld – viel Geduld.

Das Rumi aber erst einmal selbst diesen Weg gehen musste, darauf kommt man schnell wenn man sich mit seinem Werk befasst. Besonders die abrupte Trennung von seinem so sehr geliebten Lehrer Schemseddin stürzte Rumi in eine tiefe Krise. Was er durch die Überwindung dessen aber vollbringen sollte, das ist was uns bis heute so wertvoll erhalten geblieben ist. Kein Wunder wenn Rumi zum Beispiel bis heute der meist zitierte Poet in den Vereinigten Staaten ist.

Rumis Liebe war universal und galt Jedem, ganz gleich woher er stammte. Drum kamen zu seiner Beerdigung Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, jeglicher kulturellen Herkunft oder Religion. Darunter waren Sultane, Emire, doch ebenso ungebildete Menschen. Auch Rabbiner kamen, Imame und Christen-Priester, Heiden und die Gelehrten der großen Medressen (Schulen). Darum wohl finden sich in Rumis Mausoleum diese so oft zitierten Verse:

Komm, komm, wer immer du bist,
Wanderer, Götzenanbeter,
du, der du den Abschied liebst,
es spielt keine Rolle.

Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Komm, auch wenn du deinen Schwur
tausendfach gebrochen hast.
Komm, komm, noch einmal, komm!

 

Vom Streben der Sufis nach innerer Gotterfahrung

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Die Sufis - ewigeweisheit.de

Das unterscheidet die Anhänger der profanen Religionen von den Mystikern: Judentum, Christentum, Islam gehen grundsätzlich nicht davon aus, dass ein Eins-Werden mit Gott möglich ist. Die Mystiker des Sufismus aber glauben sehr wohl, dass der Mensch nicht für immer Gott "nur" gegenübersteht, sondern tatsächlich eine Einheit in Gott erfahren kann.

Für profane Gläubige ist eine solche Vorstellung ganz unmöglich, wenn nicht sogar Gotteslästerung. Ähnlich den sufistischen Vorstellungen, erstrebten im Mittelalter auch christliche Mystiker ein solches Einswerden mit Gott. Viele von ihnen aber wurden von der Inquisition verdächtigt und verfolgt. Diese Rolle scheint heute der radikalisierte Islam übernommen zu haben.

Zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert entwickelte die Sufi-Bewegung einflussreiche Glaubensstrukturen, die neben den islamischen Gesetzesschulen existierten und diese teils stark beeinflusste.

Sufis besitzen ihre eigene Theologie und eigenen Frömmigkeitsformen, die sie in ihren Begegnungszentren pflegen, den Dargas (auch "Tekke" genannt).

Vielen Menschen im Westen fehlt heute der Zugang zum Islam. Sicher trugen dazu solche Ereignisse bei, wie der 11. September 2001 und der gegenwärtige, sogenannte "Islamistische Terror". Unter Sufismus verstehen viele aber einen moderaten Islam, der wegen seiner mystischen Elemente, insbesondere für spirituell Suchende recht interessant erscheint.

Der Begriff Dschihad, ruft bei den meisten Menschen Assoziationen von Angst und Gewalt in Erinnerung, wobei in Wirklichkeit dieses arabische Wort nicht auf Waffengewalt deutet, sondern auf die Anstrengung des Einzelnen, auf dem Weg zur ultimativen Gotterfahrung. So aber ist es mit Wörtern: sie werden oft nur als Hülsen verwendet, um sie mit irreführenden Inhalten zu stopfen. Insofern aber, verfügen auch die Sufis über eine sehr starke "Waffe" - wie es einmal der pakistanische Friedensforscher Syed Qamar Afzal Rizwi formulierte - und diese Waffe ist die Liebe.

Mystik der Sufis

Wenn jemand das Wort "Sufi" oder "Sufismus" gebraucht, verweist er damit auf die Mystiker im Islam. Was aber ist ein Mystiker? Etwas "Mystisches" ist ja etwas Rätselhaftes, Seltsames - vielleicht sogar Irrationales? Das Wort "Mystik" ist griechischen Ursprungs und verweist auf die zentrale Haltung der Mystiker: sie nämlich, verschließen ihren Mund, griechisch myein, da sie mit Uneingeweihten nicht über die Geheimnisse ihrer Tradition sprechen. 

Somit ist der Sufi, als islamischer Mystiker, eigentlich jemand, der sich ausschweigt über die Geheimnisse seines Glaubens, seiner Spiritualität und der Lehren seiner Schule. "Profane Ohren" gehen die Geheimnisse der Sufis nichts an. Es geht hier aber nicht etwa um Geheimniskrämerei, was manche Verschwörungstheoretiker oft ja auch den Bruderschaften der Freimaurer unterstellen. Eher hat das Schweigen einen viel triftigeren Grund: manche Geheimnisse zu erfahren, würden einem Nicht-Eingeweihten einfach nur schaden. Das Verschwiegenheitsgebot dient also dem inneren Heil des Uneingeweihten. Schließlich lassen sich die in den inneren Zirkeln der Sufi-Bruderschaften gemachten Erfahrungen, auch gar nicht intellektuell erfassen. Darum können sie auch nicht erzählt werden. 

Wenn der Sufi-Scheich einen Neophyten in die Geheimnisse seines Ordens einweiht, vermittelt er ihm eine unmittelbar intuitive Erfahrung. Für die Sufis ist das die Einheitserfahrung mit Gott. Erkenntnis und Weisheit, Licht und Liebe: das sind Erfahrungswerte die man nur gewinnen, jedoch nicht intellektuell erklären kann. Eine Erfahrung jemandem zu erklären, der sie noch nicht gemacht hat, wäre ebenso umständlich, wie als wollte man jemanden den Unterschied zwischen Zuckerwasser und Honig erklären. Wer vom Honig aber kostet: was bedarf es da noch einer Erklärung?

Entsagung im Sufitum

Mystik und Asketentum liegen nahe beieinander. Die frühen Sufis zeichneten sich dadurch aus, dass sie grobe Wollgewänder trugen. Daher auch ihr Name: Suf ist der arabische Name für die Wolle. Das arabische Wort für Mystik ist Tasawwuf, was wörtlich meint "sich in Wolle kleiden". Jene Wollgewand tragenden Asketen waren oft auch Sufis, die wegen ihrer eigenartigen Philosophie und teils besonderen islamischen Frömmigkeit auffielen. Seit den Anfängen des Islam (7. Jahrhunder), gab es Sufis. Die ersten unter ihnen waren vielleicht ersten Anhänger Mohammeds (as), die eine enge Liebe zu Gott verspürten und eine mystische Vereinigung mit ihm anstrebten. Ihnen war der islamische Prophet ein Vorbild, gar die Verkörperung, für diese Liebe in Gott.

Die ursprünglichen Einflüsse des Sufismus, sind aber viel älter als der Islam. Man kann sagen, dass verschiedene Hauptströmungen die spätere Geschichte des Sufismus beeinflussten. Das war neuplatonisches Gedankengut von der göttlichen Einheit und dem Wesen der Seele. Das Eremitentum christlicher Mönche, sollte die Sufis ebenso beeinflussen, wie jene buddhistische Asketen, deren Meditations- und Atemtechniken, die Sufis in ihre Tradition integrierten. Auch Einflüsse der Schamanen, mit denen besondere naturmystische Bräuche und Sitten überliefert wurden, findet man im Sufismus.

Generell kann man sagen, dass die Ursprünge des Sufismus gewiss auch im islamischen Asketentum wurzeln. Nicht zufällig eben tragen Sufis das grobe Wolltuch, die Kleidung der armen Leute. Daher auch der persische Name "Derwisch", was einen armen Menschen ohne Besitz bezeichnet.

Sufis waren immer auch Leute, die mit ihrer Art provozierten. Vielleicht würde man heute von "Aussteigern" sprechen, die die bestehende Gesellschaft verachtete, die aber aktive Kämpfer für den wahren Glauben wurden (Dschihad). Doch nicht etwa im Sinne militanten Handelns (wenngleich in der Geschichte auch davon berichtet wird), als vielmehr Schwärmern, die vor Gottes Drohung und Zorn in Gottes Schutz und Arme flohen.

Anders als durchschnittliche Muslime praktizierten die ersten Sufis fromme Entsagung. Sie ordneten sich den Gesetzen Gottes unter und legten höchsten Wert auf Frömmigkeit und sakrale Reinheit. Dieses Streben ergab sich in der Zeit des Kalifats der Umayyaden, Anfang des 8. Jhd. Man stellte sich aktiv gegen die damals in der arabischen Welt zunehmende Verweltlichung und sah im Wunsch nach Luxus nur einen allgemeinen Sittenverfall. Vielen war Vorbild Al-Hasan Al-Basri (gestorben 728) - ein arabischer Asket, der ein schlichtes, doch rechtschaffenes Leben im Dienste Allahs anstrebte. Was er und seine Anhänger suchten, war allein der Wunsch in Gott aufgehoben zu sein - etwas, dass natürlich nur durch Selbstverleugnung zu erzielen ist.

Vom Wunsch die Freundschaft Gottes zu erlangen

Mystik ist jedoch mehr als Asketentum und Selbstverleugnung. Ein Mystiker ist einer, der bewusst nach der inneren Erfahrung göttlicher Wirklichkeit strebt. Doch eigentlich müssen wir gar nicht unterscheiden zwischen Asket und Mystiker, bejahen schließlich beide eine Abkehr vom Weltlichen. Das heißt, dass die Sufis immer versuchen, sich im Innern, teilweise aus der menschlichen Gesellschaft loszulösen und zu befreien. Askese ist dabei nur eine Übung, nur eine Station auf dem Weg. Es geht den Derwischen vor allem um die Inneneinkehr, mit dem Ziel eine unmittelbare Einheit in Gott zu erlangen, ein Freund Gottes zu werden. Daher der Name für die Sufis: Auliya Allah - die Gottesfreunde.

Dichtung und Musik sind ganz essentielle Bestandteile der mystischen Praxis der Derwische. In den Kreistänzen der Mevlevi-Derwische (aus dem türkischen Konya), dem Semâ, bringen sich die Tänzer in Extase, vergessen sich selbst und versuchen so, ihr Ich im unermesslichen Absoluten Allahs aufzulösen und damit Eins zu werden.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist das Gedenken Gottes - Dhikr Allah: Mittel zur Erlangung ekstatischer Zustände. Darin werden rhythmisch, litaneienhaft Gott und seine 99 Namen angerufen. Auch bestimmte Formeln aus dem Koran sind dabei relevant. Insbesondere aber die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis:

La ilaha illa llahu - لا إله إلا الله - Es gibt keinen Gott außer Gott!

Bei all ihrer Praxis ist Vorbild der Prophet Mohammed (as), als ein Mensch der erfüllt ist von Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Mitleid und Erbarmen. Kein anderer wie er, so die Derwische, hatte die Vertrautheit mit Gott erreicht. Wer darum versucht den Lebensweg Mohammeds (as) nachzuahmen, der wird als Sufi fähig sein, auch selbst eine ähnliche Vertrautheit mit Allah zu erlangen. Kurz: der Pfad des Sufi führt vom islamischen Gesetz Scharia auf dem mystischen Weg Tariqa zur göttlichen Wahrheit Haqiqa. Diese göttliche Wahrheit als wirklichste Wirklichkeit kann erfahren, wer den praktischen Pfad des Sufismus beschreitet. Das ist die beständige Arbeit an sich selbst unter Führung eines Meisters (Sheikh), wie auch die direkte persönliche Erfahrung Gottes. Statt rationalen Lehren und Aneignung von Wissen, streben die Sufis eine praktische Seelenführung an.

Vielleicht ist das der Grund, wieso viele Sufis mit dem Konzept der Philosophie, wie etwa der der Hellenen, nichts wirklich anfangen können. Vielmehr versuchen sie die Wege ihres Herzens zu ergründen und statt Nachdenken, durch Innenschau Erkenntnis zu erlangen. Insofern wäre es falsch zu sagen, Sufismus sei islamische Philosophie, wie manche behaupten. Vielmehr ist Ziel des Sufismus, seine Anhänger gleichzeitig zu Gelehrten wie auch Seelenführern zu machen. Sufis wollen ihren Mitmenschen durch ihre religiösen Kenntnisse, spirituellen Einsichten und mystische Erfahrung, eine philanthropische, menschenfreundliche Ethik vermitteln.

Sufistische Mystik entwickelte sich nicht etwa parallel oder ohne den geistigen Überbau des Korans. Die Sufis sehen sich als geistige Erben des Propheten Mohammed (as), der die Strophen des Koran ja direkt von Allah empfing.

Wort des Koran

Wer im heiligen Buch der Muslime schon einmal gelesen hat, dem fällt auf, wie unerbitterlich die Verse dieses Buches, den Mensch zu einem rechtschaffenen, gottergebenen Leben ermahnen. Goethe schrieb dazu in seinem West-östlichen Divan:

Der Stil des Korans ist seinem Inhalt und Zweck gemäß streng, groß, furchtbar, stellenweise wahrhaft erhaben; so treibt ein Keil den andern, und darf sich niemand über die große Wirksamkeit des Buches verwundern. Weshalb es denn auch von den echten Verehrern für unerschaffen und mit Gott gleich ewig erklärt wurde.

Und ja: der Koran zeichnet sich definitiv durch seine Strenge und Schärfe aus. Doch die Sufis sagen, dass man den Koran nicht allein mit den Augen des Kopfes, sondern mit dem "Auge des Herzens" lesen soll. So kann einer die innere Natur dieses heiligen Buches erfassen. Damit wird der Koran anders gelesen, und lässt sich tolerant und friedlich auslegen - was für Muslime heute wichtiger ist als denn je.

Liebe der Sufis

Was echte Mystik vom Asketentum unterscheidet, ist, was die Sufis unter wahrer Liebe verstehen. So gilt die Vereinigung mit Gott, den Mystikern als höchstes Ziel, während das Asketentum die Traurigkeit des Verzichts prägt und oft wohl plagt. Dschallaladin Rumi sagt:

Sufismus ist Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt.

In diesem mystischen Herzen Qalb, stehen die niederen Aspekte der Triebseele Nafs, mit dem Intellekt Ruh, im Widerspruch. So ist das mystische Herz für die Sufis in einem ständigen Konflikt, was sich verschlimmert, wenn jenes Auge des Herzens, von dem oben die Rede war, blind bleibt. Wie auf einem Schlachtfeld kämpfen die Triebe gegen den Intellekt, in diesem mystischen Herzen.

Rumi auf der Rückseite einer alten türkischen Banknote – ewigeweisheit.de

Der Sufi Dschallaladin Rumi auf der Rückseite einer alten türkischen Banknote (5000 Lira). Rechts im Bild die Blaue Moschee in Konya - Ort der tanzenden Mevlevi-Derwische.

Die Mystiker des Sufismus sehen im Herzen den Ursprung gewollten Handelns, wie auch alle aus Intuition geborenen Handlungen.

Aus Qalb, das wie im Vedanta das Anahata-Chakra, auch im Sufismus, als feinstoffliches Herz erkannt wird, strömt, was die Sufis Ishq nennen - göttliche Liebe. Das Wort taucht als solches im Koran nicht auf, doch geht das Buch auf andere Weise ein auf den Aspekt der Liebe. Eher spricht der Koran von Hubb, der Zuneigung oder Ashaq, was bedeutet an etwas festzuhalten, so wie sich der Efeu am Gemäuer hält, den die Araber Ashaqa nennen. Da die Wörter der arabischen Sprache nun auf den sogenannten Wortwurzeln basieren, sind Ashaq, das Festhalten, und Ishq, die Liebe, natürlich miteinander verwandt. 

Ishq bezieht sich auf den unwiderstehlichen Wunsch von der Liebe Gottes Besitz zu ergreifen, ausgedrückt in der Schwäche des Liebenden Ashiq, der nur durch die Erwiderung seiner Liebe geheilt werden kann, um damit Vollkommenheit Kamal zu erlangen.

Gewiss erinnert dieses Liebesbestreben der Sufis, an jene Liebesmystik und Poesie der mittelalterlichen Troubardoure Frankreichs und Spaniens (11. Jhd). Für sie war Liebe ein Begriff wahrhaft kultivierten Umgangs von Menschen edler Gesinnung, wie man sie etwa in den Legenden der Artusritter oder der Gralslegende findet. Wohl nicht ganz zufällig tauchte Ende des 11. Jhd. im maurischen Spanien, eine ganz wichtige Sufi-Abhandlung über Liebe auf, die aus der Feder des Sufi Said Ibn Hazm (994-1064) stammte: Das Halsband der Taube - ein Gedicht von der Liebe und den Liebenden, geschrieben 1022, fast tausend Jahre vor unserer Zeit.

Als Liebe galt Said Ibn Hazm allein die Verbindung der Seelen: sowohl zwischen zwei verliebten Menschen, wie auch der Liebe eines Sufi zu Gott. Damit verwies er auf folgenden Koranvers:

Er ist es, der euch aus einer Seele erschaffen hat

- Sure 4:1

Die Liebe die Ibn Hazm in seiner Poesie beschreibt, scheint uns heute vielleicht befremdlich. Doch wie ja auch der Minnesang der mittelalterlichen Troubardoure, meinte Ibn Hazm eine andere Art Liebe, als was man darunter heute vielleicht versteht:

Ich möchte, dass ein Schwert zerteilt
Mir meines Herzens Schrein,
Dass man ihn erfüllt mit dir und ihn dann
Verschließt im Busen mein.

Dann weiltest du in ihm und schlügest
Sonst nirgendwo dein Zelt auf,
Bis aus dem Grab erstanden und
Die Welt gerichtet ist.

Du lebst in ihm, solang ich bin.
Und wenn der Tod mich ruft,
Wohnst du in des Herzens Tiefe
Im Dunkel meiner Gruft.

 

- Aus dem "Halsband der Taube" des Ibn Hazm

Rumi auf der Rückseite einer alten türkischen Banknote – ewigeweisheit.de

Abbildung einer Handschrift Ibn Hazms Werk "Halsband der Taube" (Universitätsbibliothek Leiden, Niederlande).

Drei Formen wahrer Liebe

Es gibt drei Formen der Liebe bei den Sufis. Zuerst wäre da die Ishq-e-Majazi, was sich als metaphorische Lieben übersetzen ließe. Der Sufi bezieht sich hier auf die Liebe zur göttlichen Schöpfung, wie auch die Liebe zwischen zwei Menschen - etwas dass mit der äußeren Schönheit eines Menschen zu tun hat und darum auch mit körperlichen Verlangen zum anderen. Das aber widerspricht ja, wenn wir zu Anfangs gesagt haben, dass eine "metaphorische Liebe" gemeint ist. Es ist eben die verallgemeinerte Weise des Verständnisses, die auf diesen Aspekt der Liebe verweist. Eigentlich aber soll die Isha-e-Majazi als Liebe, zu Mohammed (as) führen und über seine Segenskraft Baraka, schließlich zu Gott. Somit ist sie eine transformierte Form der Liebe, zu etwas Höherem, Vollkommenerem.

Damit wird die wahre Liebe zu Mohammed (as) erzielt, die man Ishq-e-Rasul nennt. Alles was in der Schöpfung existiert, so die Sufis, dient seinem Schöpfer, das heißt Allah. Daher der Glaube der Sufis, dass alle Seelen der Schöpfung, der Seele Mohammeds (as) ähneln. Drum will die geläuterte Seele des Liebenden zu ihm zurückkehren, was er erfährt, indem für ihn alle Attribute Allahs in Mohammed (as) widerscheinen.

Die Ishq-e Haqiqi ist das, was die Sufis die "Wahre Liebe" nennen, Bezug nehmend darauf, dass nur Gott wahrer Liebe wert ist. Nur Allah kann diese Liebe zu ihm erwidern. Es ist eine reine Liebe des Herzens. Nur dort kann sie vom wahren Gottsucher empfunden werden. Dort sieht sie der Sufi mit dem Auge des Herzens - etwas das dem Tier fehlt.

 

In allen diesen drei Formen der Liebe zum Absoluten, unterscheidet sich Mystik vom Asketentum. Es ist nicht der Verzicht, der den Mystiker ausmacht, sondern sein Wunsch die Liebe in der Vereinigung mit Gott zu erfahren.

Doch diese Gotterfahrung lässt sich nur schwer in Worte kleiden. Liebe muss erlebt, muss erfahren werden. Sie führt den Liebenden zum Geliebten, dass er mit ihm eins werde. Es ist wie mit dem Nachtfalter: bis zum Sonnenaufgang fliegt er um das offene Licht des Feuers und hält es für die Sonne. Jede Nacht wiederholt er dieses Trauerspiel, will der Lichtquelle näher kommen, doch versengt sich nur die Flügel. Doch jede Nacht verliebt er sich mehr in die Schönheit dessen, was er für die Sonne hält. Er kehrt zurück zu den Seinen, um ihnen von dieser Schönheit zu berichten. Und sie folgen ihm. 

Dann, am folgenden Abend wartet der Falter bis Sonnenuntergang und wünscht sich nichts mehr, als völlig in das Licht des Feuers einzugehen - fliegt in die Flamme und wird mit ihr eins.

Weiterlesen ...

Die Sufis: Bewahrer der Essenz aller Religionen

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Ein Sufi kann sich überall und jeder Form des Umgangs anpassen. Auch wenn die Sufis vor allem in islamischen Ländern leben, sind nicht alle Sufis Muslime. Sufismus braucht sich keiner Religion anzupassen. Doch durch seine tolerante Art kann der Sufismus dazu beitragen, dass sich Menschen verschiedener Religionen näher kommen.

Wie unzählige andere Texte über Sufismus, ist auch dieser Text ein Augenzwinkern, um den Suchenden anzulocken und zu führen an den Ort, wo ein jeder Sufi-Weg beginnt. Eigentlich lässt sich nicht wirklich über Sufismus schreiben. Man kann nur ein Sufi sein, denn Sufismus ist lebendig und steht für sich. Er braucht nicht Koran, Bibel oder andere heilige Büchern wortgetreu erfüllen. Im Gegenteil macht das Sufitum aus der toten Schrift etwas Lebendiges.

Einst fragte einer den Sufi Al-Hasan Al-Basri: "Was ist Islam und was sind die Muslime?" Er antwortete: "Islam steht in den Büchern und die Muslime sind in den Gräbern."

Es waren vor allem Sufis die die Religionen in Ost und West in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder belebten. Zum regen Austausch zwischen Orient und Okzident trugen die wandernden Sufi-Derwische bei. Sie sprachen mit Menschen verschiedenen Glaubens und erkannten dabei, dass es eine Ewige Weisheit (Sophia Perennis) gibt, die hinter allen Glaubensrichtungen und Religionen steht. Wahrscheinlich waren die Ordnesgründer neuerer Religionen, wie z. B. des indischen Sikhismus oder des Jesidentums, selbst Sufis.

Der Kern des Sufismus

Ein Sufi sieht sich mit dem allumfassenden Gott in einer Liebesaffäre, in einer Liebe zur Ganzheit allen Seins. So ist ein Sufi dazu bereit sich der Ganzheit Gottes zu ergeben und sie in sein Herz aufzunehmen. An sich besitzt der Sufismus kein Dogma, keine Formalitäten oder Glaubensbekenntnisse. Sufi sein bedeutet nicht in erster Linie einer Institution, einer organisierte Glaubensgemeinschaft oder einer Kirche anzugehören. Einzige Vorbilder eines wahren Sufis sind die Gottgesandten und Erleuchteten der großen Religionen: Mohammed, Jesus Christus, Moses, Zarathustra, der Mani, der Krishna oder der Buddha.

Es sind nur verschiedene Namen die die Religionen besitzen, doch gemeinsam ist ihnen die innigliche Beziehung zu Gott. Doch diese Beziehung birgt eine Gefahr: je näher man dem Göttlichen kommt, desto mehr beginnt sich das Ich zu erübrigen. Mit Gott eins zu werden, dass bedeutet für den Sufi zu sterben. Nur so glaubt er wirklich leben zu können. Für den Sufi beginnt das wahre Leben nach dem irdischen Leben, wenn der Körper aus Fleisch und Blut gestorben ist. Unser irdisches Leben ist für den Sufi nur ein Zwischenstadium. Verglichen mit dem kommenden Leben in Gott, ist das irdische Leben für ihn nur recht mittelmäßig. Es ist das Leben in einem sterblichen Körper der leidet. Der Körper bildet das Gemäuer eines finsteren Kerkers worin sich unsere Seele eingeschlossen befindet. So ist die Seele alles andere als von göttlicher Extase erfüllt. Der Körper der Leidenschaften, den das Ich repräsentiert, steht der Verbindung zwischen Seele und Gott im Weg. Die Sufis sehen die Sehnsüchte und Leidenschaften ihres Körpers als Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Für sie trennt die "Schale des Körper" das Ich vom Du. Auch das universale Ganze ist durch den Körper getrennt: in ein Jenseits und ein Diesseits.

Der Weg des Sufi

Wer bereit ist den Weg des Sufi zu gehen, tritt diese Reise an in seinem Herzen. So wie sich eine Rose entfaltet und ihren Duft verströmt, so muss sich das Herz des Suchenden öffnen, muss sich danach sehnen zu suchen - so wie die Blüte sich nach der Biene sehnt, um von ihr bestäubt zu werden.

Wer sich auf den Sufi-Pfad begibt hat sich dazu entschlossen aus dem Schlaf des Alltags zu erwachen. Er will sein Herz erwecken, dass so lange in seiner Brust unbewusst schlummerte. Das ist die Beschreibung dessen, was mit dem Suchenden geschehen muss.

Sufismus ist etwas zauberhaftes, das nur vom Meister an den Schüler weitergegeben werden kann. Bei dieser Übertragung der Sufi-Tradition berufen sich die Murshids (Meister) auf die Silsila (arab. سلسلة), die spirituelle Kette eines Sufi-Ordens. Sie verbindet alle Generationen von Murshids und Sheikhs miteinander und geht zurück bis auf den Propheten Mohammed. Die so übertragene Tradition zeigt dem Murid (Schüler) den spirituellen Weg: das ist die Tariqa (arab. طريقة), der Pfad den ein Sufi beschreitet. Vom Herzen des Murshids (Sufi-Meister) einer Tariqa (Sufi-Orden) wird das Wesen und die Essenz des Sufismus, auf das Herz des Murid (Sufi-Schüler) übertragen. Es ist eine sehr geheimnisvolle Sache, die nicht ohne einen Murshid (bzw. Sheikh) erfahren werden kann. Selbst wenn man alle Bücher über Sufismus auswendig lernte, würde man sich nur in einem Dschungel aus Wörtern verirren. Aus diesem Wald der Unwissenheit soll der Meister einen Novizen führen, heraus aus den Verirrungen des Intellekts, hin zur Weisheit Gottes.

Im Sufismus gilt: wer keinen Sufi-Meister hat, ihn nicht liebt und verehrt, der wird nicht auf den wahren Geschmack des Sufismus kommen. Das bedeutet aber ganz und gar nicht, dass man als Sufi alle anderen Wege als unwichtig oder gar falsch abtun soll – auch wenn das immer wieder ein Problem in manchen Ordensgemeinschaften ist. Ein wahrer Sheikh zeigt seinen Schülern wie sie den Weg selbst finden und worauf sie bei dieser Suche achten müssen. Wie falsch wäre es also, ein Meister machte seinen Schüler von sich abhängig. Dann wäre er nicht mehr als eine Glucke, die ihre Jungen erdrückt.

Einst ging ein Sufi-Meister zusammen mit einem seiner Schüler auf der Straße, als sie ein wilder Hund anbellte. Wutentbrannt schrie ihn der Schüler an: „Wie kannst Du es wagen dich meinem Meister gegenüber so zu verhalten?“ Verwundert bliebt sein Meister stehen und sagte: „Er ist konsequenter als Du es bist.  Er bellt wenigstens alle an, ganz nach seiner Gewohnheit und Neigung; während Du mich als Deinen Meister betrachtrest und gänzlich unempfänglich für die Verdienste all der Erleuchteten bist, denen wir auf unserer kleinen Reise bereits begegnet sind. Du hast sie einfach ignoriert!“

Den Weg des Sufis beschreiten muss jeder selbst. Niemand kann das für ihn übernehmen. Die Welt der Wahrheit ist ein Land ohne Wege. Man kann sich der Wahrheit auf keinem bestimmten Pfad nähern. Jeder muss sie selbst finden. Ein Sufi-Meister stellt seinen Schülern dazu lediglich die Mittel zur Verfügung und führt sie an die Schwellen dieses Landes der Wahrheit, von wo aus sie alleine ihren Weg finden müssen.

Der Schildkröten-Dompteur - ewigeweisheit.de

Der Schildkrötenerzieher - Gemälde von Osman Hamdi Bey (1842-1910). Drei der fünf Schildkröten haben sich vor einem Derwisch aufgestellt, zwei krabbeln hinzu. Hinter seinem Rücken hält er eine Nay-Flöte - das typische Musikinstrument der türkischen Derwische. Über seiner Schulter hängt eine Trommel mit Schlägel.

Absurde Ehrfurcht

Seit vielen Jahrhunderten wird religiösen Menschen eingeblöst sie sollen Gott fürchten. Bis heute scheint sich daran nichts geändert zu haben. Doch ist es nicht diese Grundhaltung, die aus einem Menschen einen Angsthasen macht – einen "Hoffenden", der zittert aus Angst vor Bestrafung für seine Sünden? Eine Liebe zu Gott zu entwickeln ist für so jemand gänzlich unmöglich. Wo Angst herrscht, da verschwindet alle Liebe, da überkommt die Menschen Wut und Hass. Vor wem man sich fürchtet, den kann man ganz einfach hassen. Wenn man Gott aber nur fürchtet und nicht lieben kann, wen sonst soll man da noch lieben können? Wer Angst hat vor Gott, ihn fürchtet - wohin führt ihn sein Weg?

Was Menschen lange fürchten, das wollen sie am liebsten vergessen. Wie lange auch soll man etwas tolerieren, von dem einem beigebracht wurde, dass man es fürchten soll? Um sich von dieser Angst also zu befreien haben viele Menschen gegenüber Gott eine Ignoranz entwickelt. Friedrich Nietzsches berühmtes Zitat "Gott ist tot" scheint sich heute mehr denn je zu bewahrheiten.

Freiheit ist nur möglich wenn man gänzlich frei ist von Angst. Angst ist Enge. Sie verschließt das Herz des Liebenden. Eben genau darum wollen die Sufis Gott lieben. Denn die Liebe lässt überhaupt keine Angst zu. Liebe zerstreut alle Ängste. Nur mit Liebe ist es möglich die Reise zu Gott anzutreten.

Die Sufis sind Suchende auf dem Weg das innerste Wesen Gottes zu erfahren. Sie wollen Gott begegnen, sich ihm ergeben. Wer aber sich Gott ergeben will, der muss sich zuerst einem Sufi-Meister ergeben können. Hier stellt sich unser Ego in den Weg. Die Bewältigung des Egos, als Hindernis auf dem Weg zu Gott, stand darum in allen Schulen des Sufismus schon immer an erster Stelle. Novizen lässt man die einfachsten Arbeiten verrichten, um so ihr Ego zu brechen. Sie müssen Toiletten reinigen, den Boden schrubben. Erst dort, ganz unten, ganz nah an den niedrigsten Bedürfnissen die ein Mensch hat, nämlich sich von Last und Schmutz zu befreien, dort finden die ersten Schritte der langen Reise statt!

Die Bedeutung des Wortes „Sufi“

Der Ursprung des Wortes "Sufi" ist umstritten. Für manche Sprachwissenschaftler besitzt es überhaupt keine Etymologie. Dennoch versuchte man immer wieder das Wort Sufi auf verschiedene Arten zu erklären. Das es keine stichhaltige Erklärung des Wortes gibt mag auch daran liegen, dass der Begriff Sufismus nicht von seinen Anhängern eingeführt wurde. Auch wenn es Sufis schon lange vor dem Aufkommen des Islams gab, ist das Wort "Sufismus" eine relativ junge Wortschöpfung, die zuerst 1821 in Deutschland auftaucht. Das Wort Sufismus wurde von Personen außerhalb der Sufi-Bewegung verwendet, um seine Anhänger zu bezeichnen, denn ein Sufi bezeichnet sich selbst in der Regel nicht als Sufi. Eher würde er über sich selbst sagen, ein Mensch zu sein der die Wahrheit sucht.

Das Sufi-Phänomen ist grundsätzlich nicht definierbar. Und doch ist es voller Bedeutung für den Einzelnen, ja für die gesamte Menschheit. Es gibt eigentlich kein anderes Wort, um das Wesen des Sufismus zu erklären als das Wort Sufi an sich; es gibt kein Synonym. Man kann als Sufi leben und man kann die Sufis kennen. Doch der Begriff Sufi ist intelektuell nicht greifbar. Zu wissen was es heißt ein Sufi zu sein, bedeutet das man ein Sufi werden, ein Sufi sein muss! Darum ist es zwecklos die Bedeutung des Begriffs in Lexika ausfindig machen zu wollen. Man muss das Wesen des Sufismus schmecken, bevor man erkennt was Sufismus ist.

Ein Sufi zu sein bedeutet alles was sich im Kopf befindet beiseite zu stellen – eingebildete Wahrheiten, Vorstellungen und Konditionierungen – und sich dem zu stellen was einem widerfährt.

- Abu Said

Die Frage ist also nicht, was Sufismus bedeutet, sondern was darüber gesagt und gelehrt werden kann. Und zwar so, dass es auch jeder nach seinem Grad der Bildung versteht. Einfach nur Fakten zu verabreichen ist nutzlos; ja es kann manchmal sogar schädlich sein.

Wenn man erst einmal vom Wesen des Sufismus gekostet hat, wird man durstiger nach mehr und wird ein großes Verlangen nach Gott bekommen.

Das Wort "Sufi" weist in viele Richtungen. Manche Menschen gehen in die eine, andere Menschen gehen in die andere Richtung. Jeder dieser Wege ist für sich einzigartig und schön. Das Wesen des Sufismus bleibt aber eine Realität ohne Namen und ein Name ohne Realität! Der Sufismus existierte als Realität schon lange bevor er einen Namen erhielt. In dieser Realität fanden alle Gott-Gesandten (Propheten, Messiasse), Heiligen und Sucher der Weisheit den Sinn dessen, was auch ein Sufi ersinnt.

Sheikh der Rifāʿī-Derwische, unbekannter griechischer Maler, 1809 - ewigeweisheit.de

Sufi-Sheikh der Rifai-Derwische - Gemälde eines unbekannten griechischen Malers aus dem Jahre 1809.

Wolle als Symbol der Unschuld

Früher pflegten die Sufis Wollgewänder zu tragen. In manchen Sufi-Orden hat sich dieser Brauch bis heute erhalten. Daher versuchen manche das Wort Sufi herzuleiten aus der arabischen Wortwurzel "suf" (arab. صُوف), "Wolle". Wieso aber soll ausgrechnet Wolle ein Symbol für Sufismus sein?

Als der Prophet Moses Gott auf dem Sinai begegnete, trug er ein Gewand aus Schafwolle. Er war ja ein Hirte. Sufis der Shia (das sind die Nachkommen des Kalifen Ali) schrieben über Jesus, dass er während seiner Himmelfahrt ein Hemd aus Wolle trug. Wieso aber ist Wolle von so hohem Symbolchakarakter? Der Grund ist einfach: die Wollgewänder der Sufis sind ein Sinnbild der Unschuld, denn Wolle ist das Kleid der Lämmer. Der Sufi muss unschuldig werden wie ein Lamm. Im Islam wird Jesus von Nazareth als Prophet der Liebe gesehen, weshalb man ihn auch den Propheten der Sufis nennt. Das Neue Testament nennt Jesus nun das Lamm Gottes, das nach seinem unschuldigen Leiden und Tod, erhöht und verherrlicht wird. So soll sich auch der wahre Sufi über alle Erniedrigungen und Leiden erheben, über sich ergehen lassen. Alle Normen sollen von ihm abfallen, alle Konditionierungen, alles Kulturelle auf ein bestimmtes Volk bezogene Verhalten soll er ablegen. Vor diesem Hintergrund erhellt sich das Mysterium vom Symbol des Wollgewands. Zum Lamm, also zum Tier zu werden, ist in diesem Fall kein Rückschritt. Es ist hingegen ein Aufstieg. Ein Mensch der in diesem Sinne wieder ein Tier wird, wird nicht nur ein gewöhnliches Tier. Vielmehr verwandelt er sich in einen Heiligen, denn durch seine Läuterung wirft er alle menschlichen Eitelkeiten und Konditionierungen ab. Dann ist er weder ein Muslim, noch ein Christ, noch ein Hindu, noch ein Buddhist. Er ist im Einklang mit seiner Existenz, so wie auch jedes Tier mit sich im Einklang ist. Alle philosophischen Konzepte fallen von ihm ab und er verliert seine Meinungen über die Welt. Er lebt nicht mehr in seinen Gedanken: Er ist.

Das ist die Bedeutung des Wollgewandes der Sufis: ein unschuldiges Lamm zu sein, das nicht weiß was Gut und was Böse ist. So kann das höchste Gut in ihm aufsteigen. Wie die Sufis aber sagen, benötigt er hierzu ein Vorbild durch das er ein wahrer Mensch wird. Ohne Leitbild, ohne Führer bleibt er ein Tier.

Das Lamm Gottes - ewigeweisheit.de

Das Lamm auf dem Berge Zion, aus einer Illustration der Bamberger Apokalypse, um 1000.

Das Gute, das Normale oder das Böse

Solange man zwischen Gut und Böse unterscheidet, ist man mit sich noch nicht eins. Wo es kein Auswählen mehr gibt da wird gehandelt: nur die Tat zählt! Wer weiß was er zu tun hat, der ist ein wahrer Künstler. Wo man wählt zwischen dem Einen und dem Anderen, da wird man immer dazu geneigt sein etwas zu unterdrücken. Wer entscheiden muss zwischen Gut und Böse, der behält immer auch den bösen Teil in sich, da er ihn kennt und unterdrückt. Doch wie alles was lange unterdrückt wird, wird sich auch das unterdrückte Böse irgendwann durchsetzen und rächen. Sobald das geschieht, verliert ein Mensch seinen Verstand.

Unsere heutige Zivilisation scheint sich schon ziemlich nah an einem Abgrund des Wahnsinns zu befinden. Das sieht man vorallem in den großen Städten. Dort "lauern" überall Reklametafeln auf denen Menschen mit verzerrten Gesichtern zu sehen sind, die erschrecken oder die verführen wollen. Wer daran keinen Anstoß nimmt, so jemanden nennt die Masse einen "normalen Menschen". Doch manche dieser "normalen Menschen" scheinen nicht weit davon entfernt, bald den Verstand zu verlieren. Der Unterschied zwischen dem Leser (und auch Verfasser) dieses Textes und einem Wahnsinnigen ist nicht qualitativ, sondern quantitativ. Das heißt: der Normale unterscheidet sich vom Verrückten nur dem Grade nach. Der Irre hat die Grenze bereits überschritten, während sich der "Normale" ganz nahe an der Grenze zur Verrücktheit befindet. Jeden Moment aber kann sich etwas ereignen, dass einen normalen Menschen zu einem Psychopathen, zu einem Ver-rückten macht. Irgendetwas Unerwartetes – ein Unfall, ein Todesfall, eine Entlassung oder eine Trennung von einem geliebten Menschen, kann dazu beitragen das sich plötzlich alles drastisch verändert. Normalität ist trügerisch!

Wenn Sie sich einmal umschauen: sehen Sie, was um sie passiert? Sehen Sie vor allem aber was dabei in Ihrem Inneren vor sich geht? Da sind unzählige Dinge im Leben in die sie sich verstrickt haben. Dinge die sie gerne bearbeitet hätten, um sie endlich zu vergessen. Es ist eben sehr angsteinflößend und unheimlich, doch es ist da - egal ob Sie es wollen oder nicht. Was Sie unterdrücken wird stärker und wächst in Ihnen heran, zu etwas noch viel unangenehmerem. Seine Schlagkraft wächst ständig, so dass der Wahn jeden Augenblick in Ihnen zum Ausbruch kommen kann. Der Glaube man sei ganz und gar ein normaler Bürger, ist doch ein Hinweis darauf, dass man sich wirklich am Abgrund des eigenen Selbstbewusstseins befindet. Jedes noch so kleine Ereignis kann eine Verwirrung auslösen. Sobald die vermeintliche Normalität im Lebens einen Schock erfährt kippt der Schalter.

Wer sich also für die "Freiheit der Wahl" als Lebensmotto entscheidet, der muss bestimmte Dinge im Leben wollen und andere Dinge im Leben verdrängen – eben all das, was er nicht in seinem Leben haben möchte. Und davon gibt es doch unendlich viel – nicht wahr? Ein unschuldiges Lämmlein aber entscheidet nicht. Vielleicht weigert es sich, doch was auch immer sein mag: für das Tier ist es so wie es ist. Es nimmt das Leben so wie es kommt, ohne sich zu fragen was es eher und was es weniger will. Auszuwählen zwischen Gut und Böse ist dem Tier gänzlich fremd. So sollte auch ein Sufi sein: er muss sich nicht entscheiden. Er kennt keinen "Plan-B", sondern ist sich vollbewusst ohne entscheiden zu müssen was besser für ihn ist. Was auch immer kommen mag, er wird es als eine Gabe Gottes akzeptieren. Er vertraut nicht seinem Verstand, sondern dem universalen Geist der in seinem Herzen gegenwärtig ist. Das bringt ihm inneren Frieden und Freiheit. Wie ein Tier zu werden ist darum keine Enteignung gegen die menschliche Würde. Im Gegensatz zum Menschen, ordnet sich das Tier der Natur unter.

Wegen seiner Freiheit der Wahl ist der Mensch in seinem Denken künstlich und formbar. Ständig muss er sich entscheiden, wie er auf äußere Eindrücke reagieren soll. Wahnhaft versucht er diese Eigenschaft auch auf Tiere zu übertragen. Die Zuschauer im Zirkus klatschen Beifall wenn ein Löwe durch einen Feuerreifen springt. Dieser Beifall gilt aber nicht etwa dem Löwen, sondern dem Dresseur. Gleicht das nicht einem großen Schwindel? Wie sehr gleichen doch die meisten Menschen den armen Tieren im Zirkus. Schlimmer noch: Sie wissen ja das Zirkus das lateinische Wort für den Kreis ist – die geometrische Form, entlang sich auch die Insassen eines Gefängnisses bewegen. So drehen wir, mehr oder weniger, alle unsere Kreise, in den von uns selbst geschaffenen Eingrenzungen, die aus all den verhärteten Meinungen und Ansichten gemauert sind.

Die Runde der Gefangenen - ewigeweisheit.de

Die Runde der Gefangenen - Gemälde von Vincent van Gogh (1853–1890).

Wir alle tragen unsere individuellen Masken: das ist unsere Persönlichkeit (lat. persona: die Maske). Selbst Liebende verstecken sich in ihren Rolle hinter einer Maske. Vor Gott aber fallen alle Masken. Aller Schwindel hat vor Gott ein Ende. In dieser urtümlichen Unschuld, die hier bereits ausführlich beschrieben wurde, kommen wir Gott näher.

Auch die Religionen bieten den sogenannten Gläubigen allerhand Maskerade, worin sie sich hüllen und womit sie sich von anderen Religionsangehörigen unterscheiden sollen. Ist der Glaube an Gott dann aber nicht viel mehr als nur eine Vermutung? Muss jemand der wirklich gläubig ist einem anderen Menschen vorgeben dass er an Gott glaubt, nur indem er besondere Verhaltensweisen simuliert? Selbst wenn er sich in das Kostüm eines Muslims, eines Juden oder eines Buddhisten wirft, steht er in seinem Glauben und Unglauben vor Gott als nackter Mensch. Doch er meint dies und das zu wissen, sagt zu seinen "Glaubensbrüdern" das eine, zu vermeintlichen "Ungläubigen" was anderes. Er ist im ewigen Widerstreit zwischen dem was er glaubt und dem was man ihm aufgibt glauben zu müssen. Daher die Misere – man ist geteilt und die maskierten Teile der Persönlichkeit gehen in verschiedene Richtungen. Der eine sucht das Gute, der andere wendet sich ab vom Bösen. Leider ist aber manchmal das Gute das Böse der einen und ein andermal das Böse das Gute der anderen. So sind wir dies und das und doch niemand. Ist da nicht ein Tier gesegnet, da es eben nicht unterscheidet!? Ein Tier das in der Natur lebt, sehnt sich nicht nach einem großes Haus in dem es leben kann, braucht keinen Fernseher, kein Smartphone, keine teuren Kleider. Es besitzt einfach garnichts - doch ist dabei voller Frieden und Freude.

Wie das Tier also ist der wahre Sufi jemand der nicht auszuwählen braucht. Wer auswählen muss, wer abwägen muss zwischen diesem und jenem, der täuscht sich über sein wahres Selbst hinweg. Alles wogegen man sich entscheidet, alles was man ablehnt gewinnt an Bedeutung. Der Teufel hat sich dem Höchsten verweigert und wurde vom Himmel gestürzt – so die Bibellegende. Er "fiel zu tiefster Grube" (Jesaja 14:15), war ein Deprimierter und Herabgesetzter. So ist es auch mit den Dingen die wir aus unserem Leben verdrängen: sie gewinnen an Bedeutung je stärker wir sie unterdrücken. Zwar kann der Heuchler eine Zeitlang seine Maske aufbehalten, doch wie uns das Leben zeigt, müssen irgendwann auch die schönsten Masken abgelegt werden.

Es geht darum, so wie das unschuldige Lamm, ein ganz einfaches Leben zu führen, ohne unbedingt wissen zu müssen, was gut und was böse ist. Der Sufi versucht nur zu erfahren was Gott ist. Er handelt nicht um seiner selbst willen. Was immer passieren mag: das Schicksal wird als Gabe Gottes akzeptiert.

Safā: Die Reinheit

Andere wollen das Wort Sufi vom arabischen Al-Safā الصفا ableiten: die Reinheit. Das meint nicht unbedingt eine äußere Reinheit. Vielmehr ist die Reinheit des Herzens gemeint. Wenn man ein Leben lebt, ohne auswählen zu müssen zwischen Passendem und Unpassendem, zwischen Gutem und Bösem, kann die Seele sich auf natürliche Weise selbst reinigen und befreien von allen Ängsten, Hass und Furcht. Wenn hier aber von Reinheit die Rede ist, meint das nicht das moralisch Gute. Es ist ein Hinweis auf göttliche Reinheit. Reinheit bedeutet in diesem Zusammenhang ein Übersteigen aller Vorurteile oder Vorstellungen. Es geht um Transzendenz. Es geht um eine Reinheit, die nur von jemandem erfahren wird der ein tiefes Vertrauen in sein Leben hat. So erübrigen sich bestimmte Überzeugungen und Standpunkte.
Solange für Meinungen und Ansichten Platz in unserem Denken ist, erzeugen sie Unreinheit - so die Lehre der Sufis. Zuweilen schaden uns unsere Meinungen. Wenn wir sie äußern verletzen sie manchmal sogar andere. Zuviele Ansichten und Vorstellungen beschmutzen unsere Gedanken. Wie soll sich damit ein Sufi ein Bild von Gott machen können? Er versucht eher zu vermeiden, viele Ansichten zu sammeln über sich, die Welt und seine Mitmenschen. Er versucht sich nicht in seinen Gedanken Gott und die Engel auszumalen. Nur so bleibt er ein Mensch der tatsächlich in der Realität lebt. Der Sufi weiß dass da nicht einer irgendwo auf dem Thron im Himmel auf uns niederschaut. Nein – er weiß vom hier und jetzt und dass Gott überall zur gleichen Zeit ist, in allen Facetten, Formen, Farben und Erscheinungen, als liebender, zorniger, heilender, strafender, zeugender, tötender Gott – doch gleichzeitig ist Gott nichts von alledem! Wie um Himmels Willen soll man sich Gott dann vorstellen? Welche Ansichten soll man darüber sammeln? Und wenn in jedem von uns die Flamme Gottes flackert: gilt das Selbe dann nicht auch für jeden Menschen? Mit den Augen sehen wir ja nur die Körper unserer Mitmenschen. Sie tragen ihre persönliche Geschichte. Davon bleibt der "göttliche Funke" in ihnen jedoch unberührt, da er unsterblich ist. Doch diesen göttlichen Funken in unseren Mitmenschen zu suchen und zu erkennen: das ist das Ziel. In diesem reinen Seelenlicht erkennen wir nämlich, was der Name "Allah" bezeichnet: die Gesamtheit aller Existenz.

Ich sah meinen Herrn mit dem Auge des Herzens und sagte: Wer bist du? Er antwortete: Du.

- Mansur Al-Halladsch

Mit dem Begriff "Reinheit" sollte man vorsichtig sein. Wenn man das Wort "Sufi" nun tatsächlich von "Safā", Reinheit, ableiten will, dann meint das nicht einen Sufi, der ein Menschen mit einem "gutem Charakter" ist oder ein Frommer, der die zehn Gebote erfüllt. Ebensowenig steht das Wort "Safā" für jemanden, der eine hohe Stellung in der Gesellschaft hat. In Wirklichkeit ist ein Sufi das blanke Gegenteil von alle dem. Sufis waren immer Menschen die man der Respektlosigkeit bezichtigte. Bis heute werden sie darum verfolgt, denn mit ihren universellen Sichtweisen stießen sie Menschen immer wieder vor den Kopf. Sufis machen durch ihre Art andere auf ihre Fehler aufmerksam. Sie entblössen all die Künsteleien der Heuchler. Sie demaskieren und drängen die Leute ihre Masken abzulegen und ein wahrer Mensch zu werden. Damit bleiben die Sufis den Obersten der Gesellschaften immer ein Dorn im Auge.

Einer fragte einmal den Sufi Mansur Al-Halladsch: 'Was ist die letztendliche Erfahrung zu der ein Sufi gelangt?' Darauf antwortete er: 'Komm morgen wieder! Morgen wirst Du der letztendlichen Sufi-Erfahrung gewahr.' Da aber weder der Frager noch einer seiner Begleiter wussten, was morgen geschehen wird, fragte der Mann erneut: 'Wieso nicht heute?' worauf Al-Halladsch antwortete: 'Du musst einfach nur warten. Es wird sich morgen ereignen – das was man das Endziel des Sufismus nennt.' Am nächsten Tag wurde Al-Halladsch gekreuzigt – und dort am Kreuz hängend schrie er laut für seinen Freund der ihm gestern die Frage stellte: 'Wo bist Du, der Du Dich in der Menge versteckst? Los komm her und schau was das Endziel der Sufis ist: das hier! Das hier!'

Al-Halladsch (auch: Al-Hallaj, persischer Sufi, 857-922) wurde die Behauptung "Ana al-haqq", "Ich bin die Wahrheit", zum Verhängnis, da Al-haqq einer der 99 Namen Allahs ist. Im Sinne der Sufi-Tradition könnte diese Behauptung aber als die Eins-Werdung mit Gott interpretiert werden. Doch in der Gesellschaft scheint die Wahrheit unakzeptabel zu sein. Sie ist eben von Scheinheiligkeit und Heuchelei durchdrungen, ist eine Scheinwahrheit. Muss die Wahrheit also erst gekreuzigt werden, bevor man sie als solche erkennt?

Mit all dem Gesagten scheint ein wahrhaft Gottliebender für die Gesellschaft inakzeptabel zu sein. Die Kirche als Institution und ihre Oberhäupter zu lieben geht anscheinend immer in Ordnung. Wer in seiner Gemeinde aber laut äußert dass er Jesus Christus oder Gott liebt, der wird um sich die Augen rollen sehen. Wer sogar wagt zu behaupten er stünde mit Gott in Verbindung oder höre die Stimme Gottes zu sich sprechen, den wird man schnell in die "Obhut" eines Psychiaters geben.

Einst betete der Sufi Abu Yazid. Man sagt damals hätte Gott zu ihm gesprochen: 'nun bist Du Yazid einer meiner Auserwählten. Soll ich es in der Welt verkünden?' Abu Yazid musste lachen und sagte, 'Ja das kannst Du – wenn Du mich am Kreuz hängen sehen willst, verkünde!'

Safā, das „rein sein“ – ist eine Reinheit die besagt, dass der Geist bar jeden Inhalts ist, frei von Konzepten, frei von Gedanken, bar jeder Vernunft. Das ist ein Zustand absoluten Verstehens – was man im Zen das "Satori" nennt.

Die Hinrichtung von Mansur Al-Halladsch - ewigeweisheit.de

Die Hinrichtung des Sufis Mansur Al-Halladsch. Miniatur eines unbekannten Künstlers, um 1600.

Ziel des Sufismus

Zwar haben die Sufis immer ihre Schwierigkeiten mit den Oberhäuptern der verschiedenen Religionen gehabt. Doch durch ihr Streben, Gott in allem zu erkennen, war es für sie auch sehr leicht auch die Wahrheiten in anderen Traditonen zu sehen. Nur so konnten sie sich zwischen den spirituellen Traditionen bewegen und den Kern aller Religionen finden.

Bis heute versuchen die Sufis religiöses Gedankengut aus Ost und West zu verbinden. Man kann nicht von einer direkten Absicht sprechen, da Sufis niemanden durch bestimmte Glaubensvorstellungen oder Dogmas überzeugen wollen. Eher ist es ihr Wunsch den wahren Kern aller spirituellen Traditionen als gemeinsame Einheit in allen Religionen zu finden und mit ihren Lehren zu verschmelzen. Sicher tragen viele Sufis zu diesem Vorgang ganz unbewusst bei. Doch es waren die Sufis, die die Berührungspunkte zwischen den Weisheitslehren fanden und dieses Wissen, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen, in Rede und Schrift mit ihren Mitmenschen teilten.

Nur das gegenseitige Verstehen ermöglicht eine Rückkehr zum wahren Ursprung aller Religionen. Diese ursprüngliche Einheit zu finden und zu beweisen, war und ist Ziel des Sufitums. Bis dieses Ziel erreicht ist werden sich aber noch viele Sufis als Nomaden Gottes auf diesem Planeten auf den Weg machen - im Austausch mit anderen, auf der Suche nach Wahrheit.

Weiterlesen ...

Der Sufi-Mystiker Mevlana Rumi - Derwisch und Dichter

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Mevlana Rumi - ewigeweisheit.de

In den USA am meisten zitiert: der Sufi-Poet Mevlana Rumi – Verfasser des berühmten Mathnawi. Das 25.000 Verse mächtige Meisterwerk ist ein Gebetbuch der drehenden Derwische und ein Werk persischer Dichtkunst, von unübertroffener Schönheit. Rumi verehrend pilgern jährlich riesige Scharen seiner Bewunderer an sein Mausoleum im türkischen Konya.

Dschallaladin Rumi wurde am 30. September 1207 in der heute afghanischen Stadt Balkh geboren. Sein Vater Bahaudin war ein Mann großer Gelehrsamkeit. Er machte sich aber unbeliebt, da er öffentlich die Erneuerungen des damals amtierenden Königs in Frage stellte, was Folgen hatte. Schon bald sah sich Bahaudin und seine Familie in Balkh nicht mehr sicher. 
Sie flohen also nach Nishapur im heutigen Iran, wo dereinst Dschallaladin dem großen Sufi-Mystiker Fareduddin Attar begegnen sollte - dem Dichter des berühmten Mantiq ut-tair - "Das Parlaments der Vögel".

Dschallaladin und seine Familie zogen später nach Ikonium, einst eine römische Provinz, heute eine Stadt in der südlichen Türkei: Konya. Dort erhielt Dschallaladin seinen besonderen Namen: Rumi - "der Römer".

Nach dem Tod seines Vaters war Rumi bereits ein anerkannter Gelehrter, der an der konyaer Madrassa (Universität) den Lehrstuhl für Philosophie inne hatte.

Komm! Komm! Du bist die Seele, die liebe Seele, die sich unentwegt dreht!
Komm! Komm! Du bist die Zeder, der Speer aus Zedernholz, der sich unentwegt dreht!
Oh komm doch! Brunnen des Lichts sprudelnder Quellen.
Und Morgensterne frohlocken, in reiner Freude drehen sie sich unentwegt.

Rumis Mystik war aber auch von anderen großen Dichtern seiner Zeit beeinflusst. Darunter Attar und Mystiker wie Sanai, Saadi und Nizami.

Zentrale Figur in Rumis Leben war sein geliebter Freund Shamsuddin Tabrizi. Dieser mysteriöse Weise tauchte plötzlich auf und übte einen großen Einfluss auf Rumi aus. Sie verbrachten Tag und Nacht an einsamen Orten, diskutierten das Sein der Dinge und die Liebesmystik all dessen, was die menschliche Seele im Austausch mit ihrem Geliebten, d. h. mit Gott, zu dem machte was sie für den Menschen ist.

Sufi Derwische Drehtanz (Sema)

Sema: Der Drehtanz der Sufi Derwische

Doch sein enger Kontakt zu dem sagenhaften Schamsuddin beäugten Rumis Schüler mit Argwohn. Sie hielten Schamsuddin für einen gefährlichen Verführer den es auszutilgen galt. So kam es dass Schamsuddin nach Tabriz floh, da es sonst wohl zu Tätlichkeiten gekommen wäre. Viele seiner Verse schrieb Rumi als er von Schamsuddin getrennt war. Die erste Trennung von seinem geliebten Lehrer sollte aber nur vorübergehend sein. Dschallaladin folgte ihm nach und brachte ihn schließlich zurück nach Konya.
Damit waren seine Anhänger, insbesondere seine Sohn, überhaupt nicht einverstanden. Schamsuddin floh erneut. Diesmal wohl nach Damaskus. Man kann nicht sagen ob sein Leben ein gewaltsames Ende nahm, sicher aber sah ihn Rumi niemals wieder.

Das Angesicht von Shamsuddin, der Glanz von Tabriz, seine Sonne,
in deren Spuren sich wolkengleiche Herzen bewegen.
Oh Schamsuddin Tabrizi, Schönheit und Glanz des Horizonts,
Welch König ist mit Herz und Seele Dein Bettler?

Es heißt Rumi schrieb am Mathnawi mehr als 43 Jahre. Oft saß er ohne zu schlafen auch Nachts, um neue Verse zu komponieren. Er rezitierte oder sang sie und sein Freund "der schöne Hasan" schrieb sie nieder.

Rumi und Schamsuddin begegnen sich

Rumi (zu Pferde) und Schamsuddin (in schwarzem Gewand)  begegnen sich

Die Verse des Mathnawi sind von tiefgründiger Mystik. Es ist darum auch kein Zufall das das Mathnawi zu den wichtigsten Werken im Studium des Sufismus gehört. Viele der Zeilen sind einzig und allein der Fähigkeit zur Einsicht des Lesers überlassen. Liebe, so Rumi, ist still.

Nur in der Stille können wir uns die Wahrheit über das große Mysterium der Liebe vergegenwärtigen. Immer wieder taucht in Rumis Versen das Sehnen der menschlichen Seele auf. Ein Sehnen nach der Vereinigung mit Gott.

Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
Von einem Herzen zum andern;
Doch wo es keine Mauer gibt,
Wo soll dann eine Türe sein?

Ohne die Liebe
ist jedes Opfer Last,
jede Musik nur Geräusch,
und jeder Tanz macht Mühe.

Ihr sagt, er scheint verrückt zu sein -
Das kommt daher, weil die Musik,
zu der er tanzt,
für eure Ohren nicht geschaffen ist.

Mevlana Rumi erkannte in allen menschlichen Aktivitäten einen ständigen Aufstieg zu immer höheren Ebenen, wo der Suchende seinen Seelenführern begegnet. Das Prinzip dieses Aufstiegs ist die universelle Liebe und Grundlage aller kosmischen Ereignisse. Er wusste, dass Freude in Zeiten des Kummers nur im Herzen gefunden werden konnte.

Wenn die Nacht der Sinne
Von der Sonne der göttlichen Liebe erleuchtet wird,
Was braucht man noch den Wächter?
In diesem Moment wird der Verstand verschwinden
Wie die Kerze vor der Sonne;
Denn wenn man versucht ihn an Gottes Tor zu bringen,
Ist der Verstand niedriger als Staub.

Intellekt ist manchmal wie ein einsamer, stinkender Esel der einen Stapel Bücher auf seinem Rücken trägt. Was nützt ihm all das Wissen ohne einen Gefährten auf Erden?

Leibliche Freuden waren für Mevlana Rumi nur der Wunsch der körperlichen Hülle der Seele und darum ohne tiefere Bedeutung. Die Triebseele, die eng mit den Wünschen des Körpers in Verbindung steht, die Nafs (entspr. Nefesh, Triebseele in der Kabbala) sollte man erziehen, denn sie war der Seelenteil, der den Menschen zu niederen und bösen Handlungen veranlasst. Zwar ist der Verstand eine lehrende Kraft im Leben und absolut notwendig, um die triebhaften Wünsche der Nafs zu überwinden, verliert vor der Liebe aber völlig an Bedeutung.

Wie für seine Vorgänger war für Rumi die weltliche Liebe nur eine Vorstufe für die wirkliche, himmlische Liebe. Deshalb beschreiben die Sufis die Liebe der Menschen auf Erden auch als die "metaphorische" Liebe. Das bedeutet, dass derjenige welcher mit Gott in Liebe ist, sich in der höchsten Stufe des Seins befindet.

Abdul-Hassan Sumnun, ein bekannter Mystiker des 9. Jhd. aus Bagdad, sagte einmal:

Man kann ein Ding nur beschreiben,
Das subtiler als das betreffende Ding ist.
Nun gibt es aber nichts, dass subtiler als die Liebe ist.
Wie also sollte man sie beschreiben?

Weiterlesen ...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

Autor und Mentor

Alles in der Welt dreht und bewegt sich, von den Atomen bis zum Sonnensystem und dem Blut im Körper. Sema, die Tanz- bzw. Kulturübung der Mevlana-Derwische ist eine Reise des Menschen ins Innerste der Seele. Diese Seele reift dadurch und gelangt damit zu einer Einheit mit Gott. Ein konzentriert auf die Göttlichkeit ausgerichtetes Bewusstsein wird so geschaffen.

Dies wird durch den Verzicht auf Begierden und Leidenschaften, durch das Hören der Musik gesucht, indem sich der Körper in sich wiederholenden Kreisen dreht. Dies ist eine symbolische Nachahmung und stellt die Bewegung der Himmelskörper dar. Ganz so wie die Sterne und die Planeten um die Sonne kreisen, drehen sich die Derwische gegen den Uhrzeigersinn, sowohl um sich selbst und um den Kreis.
Der Tanz der Derwische wurde von Dschellaladin Rumi, einem persischen Dichter als Meditationstanz entdeckt. Seine Schüler drehten sich hingebungsvoll um ihre eigene Achse und sanken so in den Raum der Wachsamkeit.
Auch heute noch wird der Tanz der Derwische praktiziert. Dabei dreht sich der Sufitänzer zunächst mit gekreuzten Armen, dann allmählich öffnet er seine Arme und hält dabei die rechte Hand nach oben und den linken Arm nach unten.

Eine Hand ist zum Himmel hin geöffnet, die andere zur Erde. Während des Drehens sehen die Augen des Tänzers auf die Finger seiner rechten Hand. Durch das Drehen wird ein Zustand innerer Ruhe durch die Bewegung im Außen gefunden. Damit offenbart sich dem Derwisch das Leben als ein Leben des Herzens. Er lernt loszulassen statt gedanklich an etwas festzuhalten, ganz einfach, indem man sich dreht. So wird sein Ego geläutert und er wird zu einem transparenten Gefäß, welches sich mit dem göttlichen Licht der Spiritualität füllt. Über diese Meditation, werden die göttlichen Segnungen ausgesendet und durchdringen so als Schwingungen den Weltraum im Gedenken an die allumfassenden, göttlichen Emanationen. Durch die stillen Gesänge der 99 heiligen Namen Gottes, Allahs, werden die Herzen aller beim Tanz Anwesenden angerufen. Es ist wie das Eintauchen in einen Fluss der göttlichen Liebe, der zu einem Strom anschwillt und das Herz in Freude wiegt. Das Herz wird so zum Zentrum der Liebe zur Welt. Es wird das Herz der Liebe im eigenen Dasein.

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

Autor und Mentor

Tel.: +49 (0)176 - 542 19736

Jeden Freitag ab 20:00 Uhr Sufi-Meditation (Sikr), danach Lesung aus dem Masnavi von Jalal al-Din Rumi.

Adresse: Hamdi Alkonavi, Eylauer Str. 14, 10965 Berlin

Der Sufi-Weg des Naqshibandi-Ordens soll den Suchenden zu Selbsterkenntnis und höherem Bewusstsein führen. Im 14. Jahrhundert wurde dieser Orden (Tariqa) von dem ehrenwerten Bahauddin Naqshband von Buchara (Usbekistan) gegründet.

Es scheint jedoch auch ein innerer Kreis von Weisheitslehrern mit der Naqshbandiyya in Verbindung zu stehen, der sich in verborgenen, sehr schwer zugänglichen Regionen Zentralasiens befindet. Im 20. Jahrhundert suchte nach diesen Orten der griechisch-armenischer Esoteriker Georges Gurdjieff.

Mit dem Sufi Hamdi Alkonavi spreche ich über diese verborgenen Orte und wie jene dort lebenden Weisheitslehrer auf die Geschicke der Menschheit Einfluss nahmen und welche Bedeutung das für unsere heutige Zeit hat.

Interview hier im Player anhören

Download ▼   37.8 MB

BITTE BEWERTEN  

Provenexpert