Mystik

Was ist Sufismus?

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Sufis im Garten - ewigeweisheit.de

Mystik zu erfahren ist ein Wunsch, der in jedes Menschen Herz eingetragen ist, ganz gleich, welcher Religion er auch angehört. Eher ginge es jemandem, der solch erhabenen Wunsch hegt, darum, zu dieser Dimension jenseits der materiellen Welt vorzudringen, um da zur Erkenntnis der Essenz aller Spiritualität zu gelangen.

Mit solch Bestreben sind manche gar gesegnet. Andere leider kaum. Einige Menschen haben die Möglichkeit, diesen Drang zu Mystischem Erleben zu entwickeln, um die darin gemachten Erfahrungen darauf in ihr tägliches Leben zu übertragen. Andere tun dies aber gar nicht. Und doch: Diese Tendenz nach Mystischem zu suchen trägt eigentlich jeder in sich, doch scheint bei den meisten Menschen verschüttet zu sein. Doch sie kann erweckt und gelüftet werden. Die Themen und Erfahrungen des Sufismus bilden natürliche Antworten auf dieses sehr alte menschliche Bedürfnis nach mystischer Erfahrung.

Stellt sich die Frage: Was genau ist Sufismus eigentlich? Da ist es ganz wichtig zuerst einmal festzustellen: Die Botschaft der Sufis richtet sich an alle Menschen, nicht nur an die Anhänger eines bestimmten Sufi-Ordens, ja nicht einmal nur an die Mitglieder einer bestimmten Religion. Es ist eben so, dass der Mensch nicht nur aus einem physischen Körper besteht, sondern auch Aspekte besitzt, die gemeinhin »sein Selbst« bezeichnen. Wer eine mystische Erfahrung machte, dessen Selbst trat da vielleicht zum ersten Mal mit etwas höher Geistigem in Resonanz. Was der Erfahrende dabei erlebte, glich da vielleicht einem numinosen feinstofflichen Fließen, das ihn da durchdrang. Auf einmal kamen da ganz starke Potentiale aus ihm zum Vorschein, derer er sich bis dato noch nicht bewusst gewesen war.

Die Folge solch erhabenen Erlebens geht meist einher mit einem gewissen Maß an Bewusstsein und Einsicht, wo jemand zu spüren begann, dass sein »Selbst« ein anders geartetes »Ich« widerspiegelt – ein »Ich seines höchsten Seins«. Er wird sich da bewusst, dass Gott in und durch die Schöpfung handelt, zu der er als lebender Mensch ja zählt.

In Kontakt mit Gott treten zu wollen

Viele Menschen erreichen diese Ebene des Bewusstseins an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben. Eine besondere Begegnung oder ein Ereignis führte sie zu einer Erkenntnis, über die sie dann einen Schlüssel erhielten, mit dem sie zum ersten Mal die Tore einer für sie neuen Realität eröffnen – etwas das größer ist als sie selbst. Für die meisten ist diese erste Ebene des Erwachens ausreichend. Andere jedoch wünschen sich mehr: Sie wollen mit Gott in Kontakt treten, dem Göttlichen entgegensehen, um letztendlich dabei die ultimative Wahrheit des Seins zu erfahren. Nur ein Teil zu sein, reicht ihnen nicht. Sie sehnen sich danach, sich im Ganzen, im Ewigen, im Einen aufzulösen. Nicht aber etwa um ihrem Leben zu entfliehen, als vielmehr dabei einen Glauben zu entwickeln, der lebendig wird wie Wasser, das unaufhörlich aus einer göttlichen Quelle entspringend ihm entgegenfließt. So jemand sehnt sich danach, auf persönliche Weise zu erfahren, was der 16. Vers der 50. Sure mit dem Titel »Qaf« beschreibt:

Wir (Gott) haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was seine Seele einflüstert, und Wir (Gott) sind ihm doch näher als seine Halsschlagader.

Was aber soll und kann solch heilige Sehnsucht erfüllen?

Gott ist der Name für das erhabenste Sein: Allah. Im Vergleich dazu ist der Mensch ganz grobstofflich, dessen Sinne zwar feine materielle Dinge hören, fühlen, berühren, sehen, schmecken oder riechen können. Das Höchste Wesen aber entzieht sich solcher Wahrnehmung, was Menschen seit Anbeginn der Zeit wohl dazu führte, dies eigentliche Dilemma für sich lösen zu wollen. Wem dies gelang fand dabei zur Erkenntnis, dass er es an seine Lieben weitergeben könne.

Lehren des Sufismus erfahren

Hierzu lehren die Meister des Sufismus seit sehr langer Zeit ihre Schüler, das der Weg zur Erfahrung der göttlichen Gegenwart im Inneren eines Menschen beginnt. Es geht dabei erst einmal darum, seinem wahren Selbst auf die Spur zu kommen und daraufhin sich auf eine besondere Weise zu verwirklichen – denn es heißt:

Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn.

Gott der Herr ist gegenwärtig. Doch der Einzelne kann ihn als Allmächtigen nicht empfinden, weil sein Herz ein Schleier der Unwissenheit verhüllt. Es ist die allgemein verbreitete Egozentrik, die seins, wie auch die Herzen so vieler anderer Menschen verdunkelt. Erst wenn sich die Haltung zum Selbst und zu Gott wandelt und damit das Herz quasi »poliert« und dabei die eigene Individualität geläutert wurde, können die genannten Schleier, einer nach dem anderen, gelüftet werden und so das Licht des Selbst zu strahlen beginnen, worin ein wahrer Sufi dann tatsächlich Gott zu schauen und auch andere Menschen auf diesen Weg zu führen vermag.

Da wich der Blick nicht ab, noch überschritt er das Maß. Wahrlich, er (Mohammed) sah einige der größten Wunder seines Herrn!

- Sure 53:17f

Ein Herz der Hingabe

Lange Zeit entwickelten die Sufi-Meister der verschiedenen Tariqas (Sufi-Schulen oder -Bruderschaften) ihre dafür notwendigen Vorgehensweisen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Mensch eben nicht allein einen Verstand, sondern auch noch andere Bewusstseinszentren besitzt. An erster Stelle dabei steht das Herz: Es bildet ein inneres Zentrum des Bewusstseins über das ebenso Wissen erlangt werden kann. Viele Jahre übten die Sufi-Meister von einst, Techniken zu entwickeln die eine Aktivierung des spirituellen Herzens (also quasi seine Wiedererweckung) ermöglichen, um ihre Schüler zu den Pforten tiefer Intuition und Erkenntnis zu führen.

Wenn zuvor die Rede war von einer »Politur des Herzens«, war das eine Metapher für das geistige Zentrum in jedem von uns, dass durch diese Arbeit zu einem Spiegel wird, der das Licht der Wahrheit einzufangen vermag und dabei im eigenen Bewusstsein zu reflektieren. Weniger ist hier aber das physische Herz (Muskel in der Brustmitte) gemeint, als ein inneres, spirituelles Zentrum, dass jenseits der materiellen Phänomene uns als ein größeres Sein zur Verfügung steht, dass sogar Teil eines alles umfassenden universalen Seins ist und darin enthalten Göttlichkeit widerspiegelt – einschließlich des eigenen inneren, göttlichen Selbst.

Wer solcherart oder ähnliche spirituelle Erfahrungen bereits machte, dem gelingt auch in sich ein göttliches Potenzials zu entwickeln, dass in ihm schließlich einen unerschütterlichen Glauben und Gewissheit wachsen lässt, nämlich davon was Wahrheit, ja was letztendlich Göttlichkeit meint. Er unterwirft sich damit ganz der Allmacht Gottes, wie ein Regentropfen der in einen Ozean fallend, mit diesem eins wird und sich ihm damit quasi unterwirft.

Wer zu solch Erkenntnis und spiritueller Erfahrung geführt wurde und dabei für sich entdeckte, in dem steigt ein Bedürfnis danach mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung zu kommen, indem er alle Handlungen allein um Gottes willen ausführt. Eine wahrlich erhabene Haltung, die sich da in jemandem festigt, der dabei eine Selbstlosigkeit entwickelt, wovon er ablässt nur tun zu wollen, um damit zu einem Sein zu finden, dass ihn zuerst empfänglich, dann aber durchlässig macht für ein göttliches Wirken. So jemand erkennt die Gegenwart des Göttlichen in jedem Ereignis und jedem Umstand und wird dabei zu einem aufrichtigen Diener des Allmächtigen. In der Tat basiert das wahre Wesen des Sufismus auf dieserart innerer und äußerer Aufrichtigkeit.

Beschreiten des Sufi-Pfades

Doch Sufismus konzentriert sich nicht allein auf die Läuterung des Einzelnen. Während er nach Selbstlosigkeit strebt, widmet der spirituell Reisende seine gemachten Erkenntnisse auch der Verbesserung der sozialen und kulturellen Bedingungen der Gemeinschaft und damit doch auch der Menschheit als Ganzes. Diese Verpflichtung zum Dienen macht einen wahren Sufi zu einer dynamischen, transformativen Kraft auf allen Ebenen: vom persönlichen Leben bis zum Leben der Menschen in der Gemeinschaft, die ja jeder von uns in der einen oder anderen Form ja zum Überleben braucht. Wahrer Sufismus aber ist dabei nicht darauf ausgerichtet seinen Vertretern, die dabei als Lehrer wirken, ein gutes Auskommen zu verschaffen. Auch hält er seine Schüler nicht absichtlich in einem Zustand der Mystifizierung. Selbst wenn es heute viele verwässerte Ableitungen davon gibt, was Menschen für »Sufismus« halten, bleibt die Essenz dieser Tradition, dank der Gnade des Allmächtigen, dennoch bestehen – auch in unserem modernen, technologischen Zeitalter. Sufismus bietet eben spirituelle Prinzipien, die als Grundlage dienen für die Art und Weise, wie wir zu handeln beabsichtigen, damit sie auch anderen Menschen zu Gute kommen. Ein wahrer Sufi versucht durch das Beschreiten des Pfades seiner Tariqa (spiritueller Weg) die Ereignisse in seinem äußeren Leben mit seinen inneren spirituellen Praktiken ins Gleichgewicht zu bringen, was mit der heute in allen Lebensbereichen zunehmenden Komplexität immer wichtiger werden dürfte.

Während die vielen anderen Formen von Ausbildungen sich nach Verstandesdingen oder den Erscheinungen der materiellen Welt ausrichten, versucht der Sufi sein Herzbewusstsein zu vervollkommnen und dabei die Tiefen dieses Bewusstseins auszuloten. So erlangt der Aspirant tiefe Einsichten, die seinem Leben wichtige Anhaltspunkte zur Orientierung liefern und als Mittel dienen, um sich selbst und Gott besser zu verstehen. Nur ein erwachtes Herz kann Gottesbewusstsein erlangen. Dem menschlichen Verstand bleibt dies verwehrt. Diejenigen aber, die dem Sufi-Pfad folgen, entdecken die Geheimnisse die durch die Erweckung des Herzens gelüftet, zumindest aber allmählich enthüllt werden. Sie erkennen und leben ein Wissen, das dem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) offenbart wurde, wo er einmal sagte:

Die Gefäße deines Herrn sind die Herzen seiner rechtschaffenen Diener, und die, die Ihm am liebsten sind, sind die weichesten und zartesten.

- Gemäß Abu l-Qasim At-Tabarani (Hadithen-Gelehrter)

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Was ist die Kabbala?

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Rembrandt: Alter Gelehrter beim Studium - ewigeweisheit.de

Wer schon einmal das Wort Kabbala gehört hat, kam damit vielleicht in Berührung, als er von den jüdischen Gelehrten im mittelalterlichen Europa hörte: In Schwarz gewandete Rabbiner mit langen weißen Bärten, deren freundliche Augen unter Hutkrempen hervorfunkeln.

In den Legenden über die Kenner der alten Geheimlehre der Kabbala, erfuhr man auch von Magiern, die da in ihren kleinen Studierstuben, im gold-orangenen Licht einer Menora sitzend, in leichtem Wippen die Tora studierten.

Kann sein, dass es gerade Mitte Dezember war, irgendwo in den Gassen Krakaus oder Prags, während einer in seinem kleinen Häuschen vor sich in einem Buch über die Kabbala las, ob seines Inhalts eine Vision erfuhr, als er dabei womöglich einen heiligen Vers murmelte. Die Kerzenflammen der Menora zuckten, draußen breiteten sich graue Nebelschwaden aus, während im Geiste dieses Rabbi sich Raum und Zeit ins Unendliche weiteten, ausgedehnt durch gewaltige, magische Namen des Schem Hamephorasch. Da huschte sodann etwas Schattenhaftes, in der Morgendämmerung an Häuserwänden entlang.

Dieser Rabbi stand vielleicht in der Linie unzähliger Weiser die ihm vorausgingen, bei der geistigen Vollendung eines riesigen Schriftwerks, auf das sich die Lehren der Kabbala an unzähligen Stellen beziehen. Der Name eines Meisters seiner Tradition, schwebte vor ihm da im dunklen Raum, in hebräischen Lettern vorgestellt, womöglich einer der Nachfahren des Propheten Abraham. Vielleicht stand in dieser Ahnenreihe seiner Lehrer auch der große Schimon ben Jochai, der Autor des für die Kabbala so wichtigen Sohar, dem Buch des Strahlenden Glanzes. Sich daran erinnernd, beginnt seine Vision allmählich zu verschwimmen.

Anstelle dessen scheint vor seinem inneren Auge ein Dämmerschein gebildet aus heiligen Namen, die sich zu einer symbolischen Figur verdichten, aus der da plötzlich die zehn Strahlen der heiligen Sefiroth hervorscheinen, worin Name um Name kreisend, zaubervoll erglühen.

In der Vorstellung des Kabbala-Meisters werden aus diesen leuchtenden Elementen Formen und aus diesen Formen Seelen, die sich schließlich in Körper kleiden. Aus einem Licht der Ewigkeit erschienen sie im Geiste des Rabbis und strömten wieder zurück ins unbegreiflich Göttliche. Da verstummte der alte Weise, die Lichter der Menora verlöschten, und friedlich ruhte der alte Herr der heiligen Namen in seinem hölzernen Lehnstuhl, während die ersten roten Sonnenstrahlen sich in einer Weichsel oder einer Moldau reflektierten.

Womöglich saß er dann am nächsten Nachmittag, umgeben von auserwählten Schülern, denen er seine geschauten Geheimnisse enthüllte, während sein alter Zeigefinger vor ihnen deutete, auf einen Vers in der großen, aufgerollten Tora. Dabei wohl führte er sie ein, in das Wesen und Werden des Seins, in den Sinn des Lebens und die Tiefen göttlicher Wahrheit.

Begegnete man jenem Ehrwürdigen aber auf den Gassen der Stadt, sprach er da wohl zu den Gläubigen mancherlei gutes Wort, womit dieser sein Leben zu bessern vermochte. Je mehr er verständigen Menschen begegnete, desto höher erhob sich seine Weisheit.

Wenn nun diese kleine Phantasiegeschichte bestimmt ganz gut trifft, was ein alter Weiser der jüdischen Geheimtradition einst war, dürfte wohl damit auch genügend Vorstellung entstanden sein darüber, was wohl das Wesen der mystischen Kabbala ist. Vielleicht sogar ist Manchem da gelegen, noch mehr darüber erfahren zu wollen.

Vom Empfangen einer heiligen Weisheitslehre

Es ist eben so, das die einsamen Pfade der Mystik seit alter Zeit Menschen angezogen hat, die angetan waren von hohen Geistesdingen. Auch wenn da jeder seine individuelle Art hat, ist sein Geist doch auf ein ähnliches Ziel gerichtet: Er sucht nach dem Einen, nach etwas Geistig-Göttlichem in dem er alles hat!

Da verdienen die Weisheiten der Kabbala nicht allein beim Mystiker Beachtung, sondern bei jedem Gebildeten. Und darunter waren im Wandel der Zeit immer auch Menschen, die an der Entwicklung einer bewussten Geistigkeit Interesse hatten. Dabei ist nicht auszuschließen das wiederum manche unter solchen vermuten, dass die Gedankengänge der Kabbala womöglich tiefer gehen, als die der meisten anderen Weisheitslehren.

In älterer Zeit der jüdischen Geschichte jedoch, besonders im ursprünglichen Mosaismus, waren solch mystische Spekulationen wie man sie in der Kabbala praktiziert, fremd. Man kann darum sagen, dass die Entwicklung der Kabbala, als mündlich überlieferte Lehre, erst im Mittelalter begann und sich zu dem entwickelte, als was man sie heute studiert. Ihre Gelehrten bezogen sich stets auf die Weisen ferner Vergangenheit (insbesondere biblische Propheten), zumindest aber auf solche, wie einen Rabbi Nechunjah ben Hakana (um 75 n. Chr.), Rabbi Ischmael ben Elisa (um 130 n. Chr.) oder auf den oben genannten Rabbi Schimon ben Jochai (um 150 n. Chr.).

Der Name »Kabbala« wird erst seit dem 13. Jahrhundert verwendet. Er steht dabei für die Überlieferung, im Sinne des Empfangens einer Lehre, die sich aus den uralten Weisheitstraditionen des Tanach zu dem verdichtete, was heute zum Inbegriff der mystischen Lehren innerhalb des Judentums wurde – sowohl für darin praktizierte Spekulationen über Theosophie und Metaphysik, wie auch die Beschäftigung mit Naturphilosophie und Magie.

 

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Sieben Tage auf dem Berg Athos

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Wandgemälde auf dem Athos - ewigeweisheit.de

Seit mehr als tausend Jahren leben und beten christlich-orthodoxe Asketen auf dem Heiligen Berg, dem »Agion Oros«, wie ihn die Griechen nennen. Vor langer Zeit entstand hier das, woraus einmal die Mönchsrepublik Athos werden sollte.

Über zweitausend Meter erhebt sich der Berg Athos, auf dem östlichen Finger der griechischen Halbinsel Chalkidikí. Viele Mönche und auch Eremiten leben hier auch heute noch in beschaulicher Praxis meditierend und in praktischem Dienst ihren täglichen Aufgaben nachkommend.

Zu letzterer Praxis der Mönche auf dem Athos gehört das Kochen ebenso, wie die Arbeit im Garten, die jährliche Weinlese, Handwerksarbeiten, doch vor allem die Kunst der Ikonenmalerei und das Verfassen und Bearbeiten spiritueller Texte. Meist ist der Handelnde während dieser Tätigkeiten in seinem Tun allein, wenn dabei auch in Gemeinschaft.

Allein sein und Mönch sein an sich aber bedingen einander. Bereits die etymologische Wurzel des Wortes »Mönch« weist darauf hin: sie stammt vom griechischen »monos«, dem Alleinsein eben. Und doch findet ein besonderes Zusammensein der Mönchsgemeinde statt, im Gottesdienst, den gemeinsamen Speisen und besonderen Unterredungen.

An diesem gemeinschaftlichen Geschehen in einem griechisch-orthodoxen Kloster wollte ich einmal teilnehmen und bat darum einen guten Freund aus Athen, mich auf seine Reise zum Berg Athos mitzunehmen.

Heilige Berge Griechenlands

Auf der seit Langem bestehenden Zuglinie, die den südlich Athens gelegenen Hafen Piräus verbindet mit der thrakischen Stadt Thessaloniki im Norden Griechenlands, begann unsere Pilgertour zum Heiligen Berg. Die Bahn passierte auf der etwa sechsstündigen Fahrt auch zwei andere Berge, die im Alten Griechenland eine wichtige Rolle spielten.

Die Bahnlinie führt an dem im Westen befindlichen heiligen Berg Parnass vorbei, wo sich einst die Pilger zum Orakel von Delphi begaben. Und als wir nach etwa drei Stunden, nördlich Athens, die Tiefebene Larissas durchquert hatten und sich vor uns die Landschaft in den Thermaischen Golf öffnete, begann sich, ebenfalls westlich der Zuglinie, der gigantische Olymp zu erheben. Der Sage nach versammelten sich auf seinem Gipfel die olympischen Götter, von wo aus sie sich auch aufmachten, um gegen die verfeindeten Giganten zu kämpfen.

An der Pforte zum Himmel

Erst als es schon dunkel war kamen wir an in Thessaloniki: der einstigen Heimatstadt Alexanders des Großen. Nachdem wir unsere nächtliche Bleibe bezogen hatten, begaben wir uns zum Abendessen in eine nahe gelegene Taverne.

Am nächsten Morgen um 4:00 Uhr schon ging die Reise weiter. Auf einer etwa dreistündigen Fahrt schlängelte sich unser Bus durch die Serpentinen des Gebirges von Aristotelis, auf der östlichen Chalkidiki. Aus qualmenden Schloten breitete sich ein hölzern duftender Rauch aus über den Häusern der Bergdörfer, die unser Bus durchfuhr. Vom Licht der Morgensonne korallenrot gefärbt, gab der Kaminrauch eine fabelhafte Ergänzung, zu den im bläulich-grauen Morgenlicht erscheinenden Gebäuden der Dörfer.

In meinem noch halbschlafähnlichem Zustand kam mir das vor als verließen wir unser von weltlichen Sorgen geplagtes Diesseits, um bald die »Himmlische Stadt« zu erreichen: Ouranopolis. Von hier nämlich sollte unsere Fähre auf den heiligen Berg Athos starten.

Wir hatten in Ouranopolis noch eine Stunde Aufenthalt, wo wir in einem kleinen Café sitzend auf den fast achthundert Jahre alten, riesigen Wehrturm »Prosphorion« blickten, dem Wahrzeichen von Ouranopolis. Sein großes, moosbedecktes Dach nutzten die Möwen als Treffpunkt, bevor sie abhoben, um die Fähre zum Berg Athos zu flankieren. Ein nahegelegener Platz mit dem Titel »Phosphorion« gab diesem Monument wohl seinen Namen, der aufgrund einer Legende entstand: die Wächterin der Tore zwischen den Welten, die mythische Göttin Hekate, beschien als Lichtträgerin (griech. »Phosphoros«) den Ankömmlingen den Übergang vom Heiligen Berg ins Diesseits, mit dem Licht ihrer magischen Fackel. Nicht zufällig ist darum auch einer der Beinamen Hekates »Ourania«: die Himmlische.

Die Entstehungslegende vom Berg Athos

Den Neuplatonikern galt Hekate als Verkörperung der Weltseele, aus der die Seelen der Menschen entspringen und in die sie mit dem Tod zurückkehren. Sie sahen in ihr die Mittlerin zwischen der Menschenwelt und der Götterwelt. Drum kaum ein Zufall, wenn Hekate eben in jener Legende von Ouranopolis auftaucht, um die Seelen der Reisenden mit ihrer Fackel zu leiten.

Hekate aber kämpfte auch an Seiten der Olympier gegen die Giganten. Einer unter ihren Feinden trug den Namen »Athos«. Während dieser mythischen Schlacht, brach da auf einmal aus den Meerestiefen ein riesiger Berg empor. Der olympische Poseidon griff danach und warf ihn auf den Giganten Athos, der darunter begraben starb. So kam der Heilige Berg zu seinem Namen.

Nun verehrte man in alter, vorpatriarchaler Zeit die Hekate als »Magna Mater«: Sinnbild der großen Muttergöttin. Das dürfte alle aufmerken lassen, die wissen, dass auf dem heiligen Berg Athos ja allein die christliche Mutter Maria verehrt und »sonst keiner anderen Frau Zugang gewährt wird. Als sich nämlich, laut Legende, Maria in Begleitung des Evangelisten Johannes, vor etwa 2000 Jahren, von Jaffa aus nach Zypern begeben wollte, um dort den Lazarus zu besuchen, kam ihr Boot vom Kurs ab und sie landeten auf dem Athos. Es war schon damals ein Ort der von Weisen bewohnt war, die Mitglieder, sagen wir, schamanisch geprägter Kulte waren.

Mutter Maria die heilige Halbinsel betreten, fand so großes Gefallen an der Schönheit dieses Ortes, dass sie den Athos segnete. Darauf sprach sie zum Christus, ihrem himmlischen Sohn, und bat ihn um den riesigen Garten der hier vor ihr blühte. Aus dem Himmel erwiderte eine Stimme:

Sei dieser Ort dein Erbe und dein Garten, ein Paradies und ein Zufluchtsort des Heils für jene die errettet werden wollen.

- Zitiert nach Gregorios Palamas

Drum nennen die Mönche den Heiligen Berg Agion Oros auch »Perivóli tis Panagías«, Garten der Gottgebärerin. Ein Mönch vom Athos, Vater Mitrophan, schrieb dazu:

Die Athoniten verwehren den Frauen den Zutritt zum Heiligen Berg, weil sie die Frauen wahrhaft lieben. Alle Frauen sind auf dem Athos abwesend, und doch wieder, durch die Gottesmutter Maria, sind alle anwesend.

- Pater Mitrophan, in einem Beitrag zum Buch »Athos-Impressionen« von Johann Günther

Es ist aber wohl auch zu vermuten, dass dieser Ort seit 1000 Jahren ein »Männerberg« ist, da die Mönche dort von optischen Reizen unbeeinflusst leben wollen, um sich in Ruhe der Gottesverehrung zu widmen. Das der Ort nur männlichem Leben vorbehalten ist beschränkt sich im Übrigen auch auf die dort lebenden Tiere – mit Ausnahme der Katzen.

Kloster Maroudá auf dem Berg Athos – ewigeweisheit.de

Das kleine Kloster Maroudá auf dem Berg Athos.

Maroudá – Kloster der kleinen Maria

Wartete nun die sagenhafte Göttin Hekate mit ihrer Fackel tatsächlich in Ouranopolis, um den Schiffsführern Orientierung zu geben? Zumindest will es so die Legende. Wahrscheinlich aber brannte auf dem alten Wehrturm Prosphorion ein Feuer, dass jenen leitenden Zweck erfüllte und auf das außerdem auch die Passagiere auf der Fähre zurückblicken konnten, wenn ihr Boot von dort aus auf die Westküste des Athos zusteuerte. Es glich wohl einem Blick zurück ins Diesseits, auf dem Weg in ein symbolisches Jenseits. Einen Zugang zu Lande nämlich gibt es nicht.

Auch unsere Fähre schiffte uns von Ouranopolis aus durch den Singitischen Golf zum Berg Athos, wo sich hinter Wolken verborgen sein zweitausend Meter hoher Gipfel verbarg. Es regnete nämlich in Strömen.

Das kleine Schiff legte pünktlich ab, mit all seinen nasstriefenden Passagieren. Ein internationales Pilger-Publikum wie mir schien, wo sich in schwarze Habite gehüllte, langbärtige Mönche mit fragenden Gläubigen umgaben, mit denen sie mal griechisch, mal russisch, serbisch und wie mir schien auch englisch sprachen.

Der Seegang war gewaltig. Sich auf Deck von hier nach dort zu bewegen war ein echter Balanceakt, denn das Boot schien sich beinahe zu überschlagen. Trotzdem genoss ich die Fahrt, ja vielleicht eben genau wegen des so abenteuerlichen Seegangs.

Nach etwa zweieinhalb Stunden landeten wir schließlich in Dafni, dem winzigen Hafen unweit von Karyes – der Hauptstadt der Mönchsrepublik.

Bis auf den letzten Platz besetzt, brachte uns von Dafni aus ein brummender, schnaubender Bus auf schottrig befestigter Strecke zuerst nach Karyes, von wo aus wir mit einem anderen Bus in unser kleines Kloster kamen, gelegen auf etwa 400 Metern über dem Meet. Auf dem Schild am Eingang des Kloster laß man seinen Titel »Maroudá«. Eigenartig nur, dass sich darüber der echte Totenschädel eines Wildschweins befand: Wie mir schien ein durchaus schamanisch anmutendes Totem, über diesem Eingangschild des Klosters.

Es regnete weiter in Strömen. Blitzend krachte Donner dazwischen und der stürmische Wind machte unseren kleinen Schirm bald über-flüssig. Doch auch in dem neblig-dunstigen Regenstrom, mutete das Kloster wirklich schön an: Seine Mauern und Wände rot und dunkelgrün, seiner Architektur nach gewiss ein Ort, der auch eine Klause chinesischer Taoisten in Fernost hätte sein können. Auch das Arrangement der Treppenaufgänge, und der Rundgang um die im Innern des Kloster gesenkte Kirche, erinnerten wirklich an fernöstlichen Baustil.

Im Gespräch mit dem Abt

Normalerweise halten sich die Pilger auf dem Athos drei Tage und drei Nächte auf, bevor sie die Rückreise antreten. Vater Makarios aber, der Abt des Klosters Maroudá – ein ausgesprochen lebhafter Mann mit schimmernd-grünen Augen – gestattete mir so lange zu bleiben wie ich will. Nie zuvor hatte er mich gesehen und erst eine Woche war vergangen, dass er mir die Einreise auf den Athos gestattete.

An einem der Abende saßen wir nach dem Essen bei einem Glas Tee zusammen, während Vater Makarios seinen dicken schwarzen Kater kraulte, der bei ihm schnurrend auf dem Schoß lag. Ein außergewöhnlich altes Tier mit sonderbarer Ausstrahlung, dessen Blick aus seinen dunklen Augen, so kam es mir vor, tatsächlich in mich hineinsah. Hätte der Kater plötzlich angefangen zu sprechen, es hätte mich kaum überrascht.

Wir redeten zuerst über dies und das. Unweigerlich kamen wir aber zum Thema Glauben und Wissen und als ich dabei Vater Makarios auch meinen besonderen Dank für seine große Gastfreundlichkeit ausdrückte, meinte er:

Mit wahrem Glauben haben Sie alle Freiheit. Denn darin liegt wahre Liebe.

Ich wusste erst nicht genau was er damit erwidern wollte. Doch langsam wurde mir seine ganz und gar einfache, doch tiefgründige Bemerkung bewusst.

In unserem weiteren Dialog bestätigte er mir, dass die meisten Menschen an nichts mehr glauben wollen, als die Nachrichten, die sie über ihre in Händen funkelnden Mobilgeräte wischen. Er teilte mit mir die Einsicht, dass sich die digitale Technologie zunehmend zwischen uns Menschen dränge, wo viele eine Kommunikation über diese »Endgeräte« einer echten Unterhaltung immer mehr zu bevorzugen scheinen. Man sieht häufig Jugendliche, die schweigend nebeneinander sitzend, sich dies und das auf ihren kleinen Taschencomputern zeigen.

Doch selbst wenn das manchen, oberflächlich betrachtet, als ein vielleicht etwas überzogener Einfall vorkommen mag, muss doch jeder zugeben, dass wir uns schon ganz und gar damit abgefunden haben, dass fast alle von uns immer auf dem Laufenden sein wollen, viel schneller Orte finden möchten die wir suchen, sich automatisch erinnern zu lassen gewohnt sind, schönste Eindrücke von hier, dort und anderswo sofort teilen zu wollen, immer weniger an Kassen zu warten bereit sind und so viele andere Bequemlichkeiten, die uns die moderne Technikwelt einräumt, doch irgendwie auch einbläut.

Vor dem Hintergrund aber dass diese pfiffigen Geräte nur leuchtend betätigt werden können, sind die Menschen auch zu Lichtträgern geworden. Nicht aber etwa wie die oben genannte Hekate, die anderen den Weg beleuchtet, damit sie auch ihr Ziel erreichen. Eher scheint die alltäglich gewordene »Selbstbeleuchtung« wie es scheint, jegliche Selbstbeweihräucherung überflüssig zu machen, wo in sozialen Medien oder mit dem blendenden Ding in der Hand, man ja auch ganz selbstverständlich auch zu Bett geht.

Als mir das zum ersten Mal bewusst wurde, kam ich allerdings zu einer ziemlich schaurigen Einsicht. Denn spricht man die lateinische Variante des Wortes »Lichtträger« aus: bleibt da nicht ein bitterer Nachgeschmack?

All die Lichterscheinungen der modernen Technikwelt hinterlassen bei mir den Eindruck, als schmeichelten sie unseren Egos heute so sehr, dass wir sie doch nur aus Gründen einer angenommenen Selbstinszenierung, nur immer noch mehr füttern wollen. Fragt sich: Wo nachdem wir sie eingetippt haben, landen all diese persönlichen, emotional geladenen Informationen eigentlich sonst noch so?

Sehen mit dem Auge des Herzens

Es ist sicher angebracht sich irgendwann vom eigenen Ego zu trennen, auch wenn das manchen unmöglich erscheinen will. Unser Ego erfüllte sicher seinen Zweck, als wir noch Kinder waren. Doch es verhärtete immer mehr, bis es im Erwachsenalter einem festen Mörtel zu ähneln begann, der unsere Seelen allegorisch an unseren Körper kittet. Darum: Erst wenn unser Ego gebrochen wird, kann sich unsere Seele lösen, um sich dem Auftrag unseres wahren Selbst zuzuwenden. Alle unliebsamen Pflichten von einst, könnten damit bald der Vergangenheit angehören.

Vielleicht stimmten Sie der Behauptung zu, dass wir gegenwärtig Teil einer Zivilisation sind, in der sich das Visuelle immer mehr zum ultimativen Erfahren entwickelt. Und es ist genau das, was auch auf unser inneres Leben zurückzuwirken scheint.

Darüber dachte ich an einem der Nachmittag nach, als ich in der kleinen Bibliothek des Klosters Maroudá gerade das neue Testament zur Seite legte. In den Paulusbriefen stieß ich auf diesen Vers:

Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist und wie überschwänglich groß seine Kraft an uns ist, die wir glauben durch die Wirkung seiner mächtigen Stärke.

- Epheser 1:18f

Ich kannte dieses Sinnbild vom Auge des Herzens bereits. Doch es schien mir, als äußerte diese Bibelstelle des Epheserbriefs noch mehr, als nur reine Bildsprache.

Einer der vier lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike, der Heilige Augustinus von Hippo (354-430), wusste um eine Kraft, die eben über jenes Sehen mit dem Auge des Herzens, dem so Sehenden zuteil wird. Aus ihr nämlich wird eine spirituelle Aufnahmefähigkeit befeuert, deren spirituelles Licht den Praktizierenden zu einer »mystischen Schau« leitet. In diesem Erfahren kann er sich dann, des in ihm existierenden göttlichen Ichs gewahr werden. So soll sich der Sehende letztendlich erfreuen dürfen, an einem Finden der Gestalt der Weisheit an sich.

Doch es ist damit kein intellektuell fassbares Sehen gemeint, als eher das Empfinden des Wahrhaftigen, das etwa der selben Tatsache entspricht, wie auch dass unsere Herzen schlagen. Ab einem gewissen Entwicklungsgrad, den jeder Gläubige entwickeln kann, beginnt sein Herz bewusst zu schlagen, ohne dass er sich daran explizit erinnern müsste. Es ist eben keine Kopfsache auf die hier angespielt wird. Vielmehr geht es um einen belebenden, vollkommen gedankenlosen Vorgang, der jedoch die Gabe fördert wahrhaft lebendig zu sein.

Augustinus wusste um diese Tatsache. Und doch wies er seine Glaubensbrüder ebenfalls darauf hin, dass niemand seine äußeren Pflichten dafür vernachlässigen dürfe oder gar, in solch spirituellem Erfahren, sich allmählich vollkommen der Welt entfremde und dabei am Ende noch verwahrlose.

Auf dem Berg Athos – ewigeweisheit.de

Im Kloster Koutloumousiou (Athos)

Kyrie Jesu Christe Eleyson

In einer unentwegten spirituellen Praxis nun haben manche der Mönche auf dem Athos tatsächlich höhere Fähigkeiten entwickelt. Ganz gleich welcher weltlichen Aufgabe sie auch nachgehen: pausenlos befindet sich ihr Geist im Gebet – doch weniger in Gedanken, als dass sie diese Geistigkeit wirklich in ihren Herzen empfindend, als das Kyrie Eleyson, das Herz-Jesu-Gebet wiederholen:

Kyrie eleyson.
Kyrie eleyson me.
Kyrie Jesu Christe eleyson.
Kyrie Jesu Christe eleyson me.
Kyrie Jesu Christe, ye tou theou, eleyson.
Kyrie Jesu Christe, ye tou theou, eleyson me.

Herr erbarme Dich.
Herr erbarme Dich meiner.
Herr Jesus Christus erbarme Dich.
Herr Jesus Christus erbarme Dich meiner.
Herr Jesus Christus, Sohn Gottes erbarme Dich.
Herr Jesus Christus, Sohn Gottes erbarme Dich meiner.

In unentwegtem Beten versuchen die Athos-Mönche dabei eine innere Ruhe zu erlangen, die der Seele vollkommenen Frieden bringen soll. Während sie obige Verse ständig wiederholen, verwenden sie zur Steigerung ihrer Konzentrationsfähigkeit eine besondere Atemtechnik, während sie sich dabei auf ihren Nabel konzentrieren.

Wie mir ein anderer Mönch auf dem Athos erzählte, seien manche seiner Glaubensgefährten gar dazu fähig das Kyrie Eleison in ihrem Herzen selbst dann betend kreisen zu lassen, während sie sich in Unterhaltung mit anderen befinden. Ihrem Gegenüber vermitteln sie dabei jedoch subtil eine tiefe Demut, ja Ergebenheit – etwas, dass sich doch eigentlich jeder wünscht der über sich spricht oder Antworten auf seine Fragen sucht.

Indes zurückgezogen praktiziert, soll der Mönch im Herz-Jesu-Gebet zu einem Erleben göttlicher Gnade gelangen, was ihn zur Wahrnehmung eines mystischen Lichts führt, worin Gott selbst anwesend und sichtbar sein soll. Welche innere, esoterische Bedeutung dieses Licht hat, darauf wollen wir im Folgenden Antworten finden.

Mystisches Tabor-Licht

Seit dem 9. Jahrhundert beten und arbeiten christlich-orthodoxe Mönche auf dem Athos. Unter ihnen befinden sich auch Mitglieder des Hesychasmus, einer Form christlich-orthodoxer Spiritualität, die in ihrer Praxis jemanden zu wahrhaft gottergebener Gelassenheit leiten möchte. Im Mittelalter bildeten die Klöster und Einsiedeleien auf dem Berg Athos das Zentrum des Hesychasmus, von wo aus sich diese spirituelle Tradition in den nördlichen Balkanraum und bis nach Russland ausbreitete.

Die heychastischen Mönche suchen nach einem im Herzen empfundenen inneren Frieden und gelten in dieser Praxis gewissermaßen als »Mystiker der Ostkirche«. Ähnlich ihrer christlichen Zeitgenossen im Westen (darunter etwa Bernhard von Clairvaux oder Hildegard von Bingen) meditierten die ersten Mönche auf dem Athos, um darin einen Zustand vollkommenen Seelenfriedens zu erlangen, was man nun eben »Hesychia« nennt: ein Zustand vollkommenen Glaubens, der in eine Freiheit mündet, woraus sich der meditierende Mensch aus allen störenden Vorstellungen und Begierden erlöst.

Auf ihrem Weg zur inneren Erkenntnis des Göttlichen, üben sich die Heychasten zuerst in Askese, wobei sie ihre Leidenschaften zu überwinden lernen, um schließlich die christlichen Grundtugenden einzuüben. Ihr Ziel ist ihr triebhaftes Leben souverän beherrschen zu lernen, um so ihre Seele zu reinigen. Hernach betrachtet so ein Mönch in Hesychia (griech. auch: »Ruhe«) die Natur der göttlichen Schöpfung und ihren religiösen Symbolgehalt, um so die Welt in neuem Licht zu erkennen.

Auf der höchsten Stufe dieser spirituellen Entwicklung des Selbst, ereignet sich schließlich das Schauen Gottes in jenem zuvor bereits angedeuteten mystischen Licht, was einhergeht mit tief im Innern empfundenem Frieden und vollkommener innerer Ruhe. Das ist ein Erfahren, dass sich jenseits aller rationalen Vorstellungen ereignet – jenseits allen diskursiven Denkens, wo sich ja in unserem Geist, von ständiger Bewegung befangen, ein gedachter Satz an den nächsten heftet. Endet das diskursive Denken jedoch, können seinen Platz Visionen und intuitive Anschauungen einnehmen. Und in eben diesem höheren Zustand der Erkenntnis, gelangt der Mönch in seiner kontemplativen Praxis zur Wahrnehmung dessen, was die Hesychasten die Vision des ungeschaffenen Tabor-Lichts nennen.

»Tabor« steht darin für den Namen eines Berges im Jesreel-Tal (Galiläa), wo der Christus in mystischem Licht verklärt den drei Aposteln Petrus, Jakobus und Johannes erschien. Schon im Altertum war dieser Berg eine wichtige Kultstätte, wo man lange auch den blitzwerfenden Fruchtbarkeitsgott Ba'al verehrte.

Als der wichtigste Gelehrte des Hesychasmus nun gilt der byzantinische Theologe Gregorios Palamas (1296-1359). Er beschrieb die visuell-mystische Erfahrung, die einer im Herz-Jesu-Gebet erfährt, als das »Schauen des Tabor-Lichts«. Es ist dabei aber keineswegs die Wahrnehmung gewöhnlichen, physischen Lichts gemeint. Statt dessen vernimmt der Schauende dies als ein inneres Leuchten, entbunden aus der »ungeschaffenen Energie Gottes«. Dennoch wird auch damit nur beschrieben worum es geht, denn letztendlich muss man jenes mystische Licht selbst geschaut haben, um zu wissen was die dabei gemachte Erfahrung zu Tage bringt.

Wichtig ist, dass Palamas auch der Körper des Menschen zu Gotterkenntnis befähigt galt, nämlich dann wenn der Praktizierende in seinem Herzen das Herz-Jesu-Gebet ausübt. Das Fleisch soll dabei zu einer Würde erhoben werden, die der des Geistes nahe ist, denn unter diesem Eindruck soll der Körper seine Neigung zum Bösen aufgeben. Durch die hesychasitsche Praxis aber strebt einer danach seinen Körper zu heilen und auch dabei zur Vergöttlichung zu führen.

Eine Reinigung allein des Gemüts war für Palamas jedoch unzureichend. Eher sollte durch diese Art spiritueller Reinigung des Körpers, jemand die von ihm ersehnten spezifisch körperlichen Vergnügen vermeiden lernen, die ja die Seele durch angenehme Empfindungen beeinflusst.

Aus Sicht anderer orthodoxer Theologen mag diese Praxis jedoch erscheinen, als versuche jemand spirituelle Ergebnisse herbeiführen zu wollen und so etwa die göttliche Gnade herbeizuzwingen. Palamas und anderen Hesychasten ging es keineswegs darum. Vielmehr war ihnen in ihrer kontemplativen Praxis daran gelegen, die unerlässliche Konzentration auf Gott zu bewahren.

Gregorios Palamas sah im Gebet in erster Linie eine bewusste Geschäftigkeit des Menschen, der damit gegenüber dem Göttlichen seine Dankbarkeit ausdrücke, als etwa nur Gott zu etwas bewegen zu wollen. Vielmehr erhebe sich der Beter durch die hesychastische Form der Kontemplation zu Gott, was er im Sehen des Taborlichts in Wirklichkeit gar nicht erstrebte, als es vielmehr, demütig wahrgenommen, allem Sein ergeben zur Verfügung stellen will.

Vater Makarios (Kloster Maroudá, Athos) und S. Levent Oezkan - Foto: Konstantinos Stavropoulos – ewigeweisheit.de

Vater Makarios, der Abt des Klosters Maroudá, (Berg Athos) und S. Levent Oezkan (Foto: Konstantinos Stavropoulos).

Die eucharistische Liturgie der Ostkirche

Es muss aber keineswegs eine so explizite Form kontemplativer Praxis vorausgesetzt werden, um sich dem zu nähern, was wohl allen gläubigen Menschen als Ziel gelten könnte. Darum wäre es auch falsch anzunehmen es würde hier behauptet, dass nur einer der die hesychastische Praxis des Herz-Jesu-Gebets übe, dazu befähigt sei die Bedeutung dessen zu erkennen, was man eben als Gott beziehungsweise die spirituelle Welt als solche bezeichnet.

Meine eigene Hinwendung zur christlichen Theologie und der in der Ostkirche vollzogenen liturgischen Dienste, war der Versuch solch geartete Erkenntnisse ohne explizite Übungen zu machen. Vielmehr wollte ich das in der orthodoxen Liturgie erfahrbare Christus-Mysterium als solches betrachten. Aus diesem Grund hatte ich täglich an den beiden Gottesdiensten auf dem Kloster Maroudá teilgenommen: Einer begann früh morgens, der zweite vor dem Abendessen. Beide Dienste zogen sich manchmal bis über zwei Stunden.

Die Morgengebete aber unterschieden sich von den abendlichen insofern, als dass sie nur in Anwesenheit des Priesters durchgeführt werden konnten, was für die Abendgebete nicht zwingend notwendig ist, da dort nicht die Eucharistie gefeiert wird – das was man im Westen die heilige Kommunion nennt.

Von byzantischem Gesang begleitet, schienen sich vor mir gleichnishaft Abendmahl, Passion und die Wiederkehr Christi abzuspielen und die als Chorgebet gesungenen Melodien strahlten eine transzendente Kraft aus.

Diese Liturgie feiern die Mönche auf dem Athos an 365 Tagen im Jahr, wenn auch der Ablauf variiert, je nach Wochentag oder entsprechendem Feiertag (im orthodoxen Christentum ist vor allem Ostern von Bedeutung). Was man darin aber erfährt (natürlich auch anderswo) empfand ich als wahrlich wundersames Ereignis, an dem alle Sinne des Körpers miteinbezogen wurden: die Augen durch die Positionen der aufgestellten Kerzen, die die überall aufgestellten Ikonen anstrahlten, die Ohren durch die inspirierenden Melodien der Gesänge, das Gemüt durch die darin formulierten biblischen Erzählungen und Berichte über Christus, die Propheten und die Heiligen, sowie der Geruchssinn durch das vom Abt zubereitete Räucherwerk. Vater Makarios verstand tatsächlich Duftmischungen des Weihrauchs zuzubereiten, die mich und scheinbar auch die anderen Anwesenden in eine vollkommen andere Stimmung versetzten.

Auch die Lippen der Gläubigen werden auf einzigartige Weise in das Geschehen mit einbezogen: Beim Betreten des Gotteshauses, und dann wieder zum Ende des Geschehens, küssen sie die darin, an der Außenwand des Heiligen Altars platzierten Ikonen.

Mit dem Kosten vom eucharistischen Wein und der Einnahme des geteilten Brotes, der gleichnishaften Aufnahme vom Leib und vom Blut Jesu Christi, ist es der Geschmackssinn der der Heiligen Eucharistie einen besonderen Mysteriencharakter verleiht.

Nicht dass sie damit gleichzusetzen wären, doch die Ähnlichkeiten zwischen den alten Riten der Mysterienkulte und der Abendmahlszeremonie sind in vieler Hinsicht vorhanden, wo ja in den Demeter- und den Dionysos-Mysteriuen etwa Getreide und Wein ebenfalls von herausragender Bedeutung waren. Was die Mysten dabei jedoch erfuhren, sollte durch die spätere Darstellung des Kreuzigungsereignisses im Christentum, in quasi abstrahierter Form wiedergegeben werden. Doch sowohl in den alten Mysterien, wie natürlich auch im Christentum, spielt das Erleben der Vorwegnahme der Todeserfahrung, eine zentrale Rolle. Vielen Christen aber ist das gar nicht bekannt, zumal sie sich der darin enthaltenen Symbolik, höchstens mitleidig betrachtend, gar nicht bewusst sind, wo sie doch eigentlich das darin vermittelte Mysterium als Vorbild für ihren eigenen, spirituellen Lebensweg erkennen könnten.

Was ich in den sieben Tagen dort im Kloster Maroudá von dem ziemlich eigenartigen Abt Vater Makarios jedoch vermittelt bekam, ähnelte durchaus einer Einweihung, auch wenn ich doch selbst gar kein Christ bin. Doch der Ort, der Heilige Berg Athos, schien vielleicht von seiner geomantischen Struktur her zu dieser wohl mysterienartigen Erfahrung beigetragen zu haben.

Glauben ohne zu wissen - Gewissheit ohne zu vermuten

Fest steht: insbesondere in den morgendlichen Gottesdiensten hatte ich den Eindruck als verstünde ich allmählich was es so auf sich hat, in Bezug auf das Religiöse, was die Wörter Glauben und Wissen, Vermuten und Verstehen, in ihrem Verhältnis zueinander an sich bedeuten könnten.

Natürlich wird mir hier kein Gottesbeweis gelingen, was im Übrigen auch gar nicht meine Absicht ist. Es gibt aber, so empfand ich es zumindest als Anwesender in den Gottesdiensten des Klosters, eine Urtradition, an deren christlichen, rituellen Handlungen ich dort teilgenommen hatte. Und diese überlieferten, rituellen Handlungen bildet, wenn auch zuerst im Geiste, ein mentales Muster – oder besser, eine spirituelle Struktur.

Wenn die Liturgie von der ich sprach, schon einmal von insgesamt 300 Millionen orthodoxen Christen wahrgenommen wurde, dann kann man davon ausgehen, dass die darin vollzogenen spirituellen Handlungen auch auf die Gläubigen übergehen. Jene Priester und Mönche die für diese Handlungen in der Verantwortung stehen, übertragen ihr religiös-spirituelles Denken natürlich auch im Zwiegespräch auf den Gläubigen.

Als ich an den Gottesdiensten teilnahm (wie eben auch schon im Freitagsgebet in einer Moschee oder auch dem Schabbat-Gottesdienst in einer Synagoge in Israel beiwohnte), empfand ich, wie mich eine mystische Kraft durchdrang. Ganz gleich ob das einer »Wahrheit« entsprach oder im Prinzip »nur eingebildet« war, wusste ich doch, dass es in jedem Gläubigen Christen (oder anders gläubigem Menschen) eben genau das auslösen kann, was auch ich empfand.

Mir dünkte jedoch so, als ob es in der Entscheidung eines jeden Menschen liegt, ob er nun glaubt, also eine spirituelle Form in seinem Herzen als gegeben empfindet oder ob er dazu in der Lage ist logisch zu schlussfolgern, dass je mehr Menschen einen regelmäßigen Ritus erleben, wohl freilich auch gemeinsam ein mental-spirituelles Feld erschaffen, dass durchaus eine Eigendynamik entwickeln kann. Was dabei jedoch entsteht, ereignet sich jenseits allen raum-zeitlichen Darstellungsvermögens, auch wenn man immer wieder versuchte wissenschaftliche Beweise zu finden, um dieses Wirken veranschaulichen zu können.

Da wir nun aber alle gemeinsam auf diesem einen Planeten leben, mischen sich dieses Empfinden und die eben angedeutete Eigendynamik, natürlich immer auch mit materiell erwachsenen Unabdingbarkeiten. Diese konzentrieren sich manchmal, in bestimmten zeitlich überschaubaren Entwicklungsphasen unserer Menschheitskultur. Was daraus jedoch an Ergebnissen resultiert, entwickelt sich manchmal zu einem großen Guten. Doch ebenso mächtig ist das, was sich uns weniger günstig zeigt, ja uns manchmal sogar durch unheilvolle Konsequenzen bedroht.

Immer aber ist das was eine entsprechende Aussicht auf positive oder negative Empfindungen liefert, der wahre Glaube, im aktiven Sinne. Zu glauben ist dabei alles andere als ein Vermuten. Es ist nicht die Annahme gemeint, dass es da vielleicht einen Gott oder einen auf Erden herabgestiegenen Gesandten gibt, der unter uns dessen Wesentlichkeit repräsentierte oder an den göttlichen Kern unserer Seele erinnert. Nein. Worauf ich mit dem Gesagten anspiele, ist, dass es auf unserer Erde Orte gibt, die, sagen wir, einen Zugang eröffnen zur Erkenntnis dieser überall gegenwärtigen, wundersamen Parallelität von religiösem Glauben und spirituell-empfundener Wirklichkeit. Denn diese beiden Größen sind wie zwei Pole, die anscheinend nur durch eine dünne Schicht getrennt sind, wo das unsichtbare vom Sein der sichtbaren Welt unterschieden ist.

Auf dem Athos empfand ich diese Schicht jedoch manchmal als so dünn, als so transparent, dass ich den Eindruck bekam als könnte ich ein Dahinter erkennen, das sich jenseits alles Weltlichen befindet.

Berg Athos – ewigeweisheit.de

Der Heilige Berg Athos, in einer Illustration von John Pentland Mahaffy  (1839–1919).

Reflexionen auf meiner Rückreise

Mein letzter Tag war angebrochen und nach der Morgenmesse und dem gemeinsamen Frühstück – das im Übrigen immer aus Kuchen und Keksen bestand – fuhr ich gemeinsam mit anderen Pilgern zum Anleger in Dafni.

Dort hatte ich noch etwa eine Stunde Aufenthalt, setzte mich in die kleine Taverne, um noch einen Kaffee zu trinken. Als ich dort aber wie gewohnt nach Milch fragte, ließ mich der Servierer abblitzen und es fiel mir wieder ein: Auf dem ganzen Athos gibt es keine Milch, da sie doch weiblich ist; die logische Konsequenz dessen also, was auf dem Athos seit nunmehr 1000 Jahren beharrlich aufrechterhalten wird.

Über das und meine anderen Erlebnisse nachsinnend, bestieg ich dann die kleine Fähre zurück ins »Diesseits« nach Ouranopolis.

Das lange Warten beim Anleger in Dafni hatte mir irgendwie auch gut getan, zumal ich meine Rückreise entsprechend entspannt antrat. Denn gezwungen sein nichts zu tun, kann ein andermal auch schrecklich sein. Zeit wird hier aber anders empfunden, auch wenn es, vielleicht nicht auf dem Athos, trotzdem christliche Mönche waren die das Räderwerk und letztendlich die Uhren erfanden, um danach pünktlich ihre Gebete auszurichten. Trotzdem scheint das Thema Zeitempfinden auf dem Agion Oros ein anderes zu sein.

Der kleine, sehr alte Mönch der allein auf der Fähre seine selbst geknüpften Gebetskränze verkaufte, ihn ließ der Fährkapitän als einzigen vom Boot steigen, an einem winzigen Anleger, wo sich nicht viel mehr als nur seine Zelle zu befinden schien. Wir hatten alle viel Zeit.

Möwen umkreisten die Fähre an diesem strahlend sonnigen Tag meiner Rückreise. Fast schon wie die Glieder eines Gebetskranzes gereiht, eskortierten sie unser Boot über das Meer. Als ich mich nach Dafni umdrehte, war da eine runde Wolke, die den pyramidenförmigen Gipfel des Agios Oros umrang. Es war wohl meine selektive Wahrnehmung, die all das für himmlische Zeichen hielt – doch was immer es war: nicht nur sah ich es, sondern eine Gewissheit gab mir das sichere Gefühl, dass sich die Ereignisse der kommenden Zeit entsprechend fügen werden. Da dachte ich wieder an die Aussage des Abts von Maroudá:

Mit wahrem Glauben haben Sie alle Freiheit.

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Die mythische Ebene: Spiegelungen im Bewusstseinsfeld der Seele...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Mysterien von Eleusis - ewigeweisheit.de

Heute gelten Nachrichten, Ereignisse und Aussagen nur dann als anerkannte Fakten, wenn sie einen Bezug haben zu einem Ort und einem Zeitpunkt, zumindest aber einer dieser beiden Größen. Selbst aber wenn das heute als Voraussetzung gilt, musste sich so etwas wie Raum- und Zeitbewusstsein erst entwickeln. Tausende von Jahren dauerte es, bis sich der Mensch den Mysterien von Raum und Zeit bewusst wurde.

Über das Empfinden der Bewegung seines selbst bewusst gewordenen Körpers durch die Welt, entwickelte der Mensch ein Gefühl für das, was wir heute »Raum« nennen. Dieses räumliche Wahrnehmen entfaltete sich allmählich zu einer geistigen Funktion, die irgendwann im Erleben des unendlichen Raumes gipfeln sollte. Das aber war die Voraussetzung dafür, das der Mensch schließlich ein weiteres, neues Geistesmaß entdeckte: die Zeit.

Wenn die geschichtliche Wissenschaft nun von einer Vorzeit spricht, bezeichnet dieser Ausdruck ganz deutlich das Element der magischen Bewusstseinsstruktur: Eine Vor-Zeit lag vor dem Zeit-Bewusstsein. Hiermit erübrigt sich jedoch eine Nachforschung wann es zu diesem menschlichen Empfinden der Raumzeit kam, zumal es in der Periode der magischen Bewusstseinsstruktur eben noch kein Zeitmaß gab. Womöglich aber ereignete sich diese nächste Bewusstseinsmutation in der nachatlantischen Epoche, also vermutlich vor ungefähr 12.000 Jahren.

In dieser Ära kam es zu verschiedenen, ganz maßgeblichen Veränderungen in der menschlichen Wahrnehmung. Ab einem gewissen Moment, vielleicht am Ende der letzten Eiszeit, begann man in Europa besondere jahreszeitliche Riten zu zelebrieren. Das ging einher damit, dass der Mensch begann die Bewegung der Himmelskörper voraussagen zu wollen. An den Himmelsbewegungen laß er ab, wann der Zeitpunkt für eben solche Feste gekommen war und vermerkte sie in seinen damals entwickelten Kalendern. Er wurde also einer sich verändernden Welt bewusst, worin er sich selbst wiederfand, in einem wohl als Spannungsfeld empfundenen Raum zwischen Irdischem und Himmlischem.

Was den Menschen der magischen Bewusstseinsstruktur noch in seiner Naturverflochtenheit gefangen hielt, daraus sollte er sich nun lösen, mit dem Erkennen der Rhythmen der Natur. In diesem Heraustreten aus den Verflechtungen seines eindimensionalen Empfindens aber, sollte er sich bewegen in ein Empfinden einer zunächst zyklischen Zeit.

In einer Welt sprechender Münder

Immer wieder hatte sich die Menschheit neu erfunden. In archaischer Zeit identifizierte sie sich noch als Einheit mit dem sie Umgebenden, empfand sich als Teil einer ursprünglichen Ganzheit allen Seins.

Die magischen Menschen sahen sich in der Natur verwoben, doch hatten sich darin erkannt, worin sie sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst wurden und begannen sich wahrzunehmen.

Jean Gebser führte nun noch eine weitere Stufe der Bewusstseinsentwicklung ein, die er als die »mythische Ebene« bezeichnete. Hierauf begab sich die Menschheit in einer Zeit, als jemand einen Anderen von Mund zu Ohr, über das Wesen des Seins unterrichtete.

Das diese neu entstandene Bewusstseinsebene, als »mythisch« angesprochen wurde, hatte einen guten Grund: das griechische Wort »Mythos« nämlich bedeutet »Rede«, »Wort« oder »Bericht« und ist auch verwandt mit dem englischen Wort »mouth«, für den Mund. Das man im Deutschen synonym für Mythos das Wort »Sage« verwendet, kommt auch nicht von ungefähr, geht es da doch eben um ein »Sagen«, ein Erzählen.

Wenn wir uns aber der Bedeutung des griechischen Wortes »Mythos« zuwenden, insbesondere der darin enthaltenen Wurzel »my« oder »mu« (Anm.: der griechische Buchstabe »y«, wird sowohl als »i«, »ü« wie auch als »u« ausgesprochen), was »laut werden« oder »ertönen« bedeutet, stoßen wir auf einen interessanten Zusammenhang: denn auch ein anderes griechisches Wort besitzt benannte Wortwurzel »my«: das Wort »myein«, was für ein »Sichschließen« steht, womit eben der geschlossene Mund gemeint ist. Im Sanskrit gibt es ebenfalls ein Wort mit dieser Wurzel, nämlich »mukas«, dass diesen Zusammenhang noch unterstreicht: da bedeutet es »stumm«. Und auch im Lateinischen begegnet man dieser Silbe »mu« mit »mutus«, das ebenfalls »stumm« bedeutet.

Im Griechischen ist die Wurzel »mu« oder »my« überdies enthalten am Anfang dieser Wörter: »Mystos«, dem Mysten, der in die geheimen Mysterien eingeweiht wurde, sowie in »Mysterion«, dem entsprechenden Mysterienkult. Beides sind Ableitungen von »myo«, dass ebenfalls die Wurzel »my« (beziehungsweise »mu«) enthält, und für den eigentlichen Grund eines geschlossenen Menschenmundes steht: Über Geheimnisse wird geschwiegen.

Aus dem griechischen Mystos entwickelte sich später dann das, was man in christlicher Zeit zur Bezeichnung für jemanden verwendete, der sich in wortloser, innerer Versenkung befand: ein Mystiker.

So sind also die Bedeutungen dieser Wortwurzel anscheinend widersprüchlich, wo es doch im Wort Mythos um das Sprechen geht und im Wort Mystos um das Schweigen. Es wäre dabei jedoch falsch sich voreilig für eine der beiden Bedeutungen entscheiden zu wollen, sind doch beide gültig. Hier nämlich kommt eine Polarität zum Vorschein, die den alten Menschen zuerst einmal bewusst werden musste.

Ihr Eingebundensein in der Welt erhielt damit eine neue, zweite Dimension. Der Mensch begann sich von da an als Subjekt zu empfinden, zu den ihn umgebenden Objekten. Und da sich in dieser Umwelt unendlich viele Objekte befanden, ließ sich damit auch die Zweidimensionalität eines Kreises aufspannen, in dem der er seine Welt räumlich wahrzunehmen begann.

Führte die archaische Struktur durch den Verlust der Ganzheit zur Einheit der magischen Struktur, und war damit ein erstes dämmerhaft zunehmendes Bewusstwerden des Menschen als einer Einzelung vorgegeben, so brachte die magische Struktur durch den in ihr sich abspielenden Befreiungskampf gegen die Natur eine Herauslösung aus der Natur und damit die Bewusstwerdung der Außenwelt. Die mythische Struktur nun führt zu einer Bewusstwerdung der Seele, also der Innenwelt. Ihr Symbol ist der Kreis, der stets auch Symbol der Seele war.

- Aus Jean Gebsers Buch »Ursprung und Gegenwart«, Kapitel »Die mythische Struktur«

War das Resultat der magischen Struktur des Menschen die Bewusstwerdung von Erde und Natur, so brachte die mythische Struktur einen Gegenpol zur Erde: den Himmel. Darin wieder taucht die Symbolik des Kreises auf. Denn der Zyklus der Gestirne, vornehmlich der Lauf von Sonne und Mond durch Tag und Nacht, repräsentiert jene angedeutete Polarität von Subjekt und Objekt, in der sich der Menschen als Beobachter befindet und bewegt.

Damit schließt sich auch der Kreis zu dem, was wir zuvor über die besagte Wortwurzel »mu« oder »my« andeuteten: Aus ihr wachsen zwei anscheinende Widersprüche – Mystos und Mythos – Schweigen und Sagen, welche in direktem Zusammenhang stehen mit der dunklen Abwesenheit und der lichtvollen Anwesenheit der Sonne. Was bedeutet das?

Um sich in der Welt zu empfinden, musste der mythische Mensch das polare Verhältnis seines Seelenseins nicht nur zu einem über-erdhaften Himmel (Berg Olymp), sondern ebenso zu einem unter-erdhaften Schattenreich (Fluss Hades) erkennen.

In diesem inneren Gewahrwerden einer neuen Dimension, worin die Pole eines Sternenzelts und einer Unterwelt, eines Himmels und einer Hölle, einen Kreis der Zweidimensionalität aufspannen, dort im Mittelpunkt dieses Kreises lernte der Mensch das Wesen seiner Seele zu empfinden. In ihr nämlich spiegelte sich sein mythisch-mystisches Sein, darin reflektierte die Doppelnatur alles Weltlichen, symbolisch-diabolisch, göttlich-teuflisch, hell-dunkel, licht-finster, gut-schlecht, überweltlich-tiefgründig.

Diese Pole im Kreis, umspannen im Leben eines Menschen den Zyklus von Werden und Vergehen – im Erkennen der Zeit.

Über die Wirksamkeit des Schweigens

Was in der Seele des Menschen zum einen als stummes Bild erscheint, erklingt daraus ein andermal durch den Mund, als tönendes Wort. Das als inneres Bild Vernommene hat seine polare, bewusst gewordene Entsprechung im ausgesagten Wort. Dabei erkennt der Mensch seine Seele, worüber er den in nächtlicher Stummheit geschauten Traum, im Wachbewusstsein sprechend hörbar macht. Indem er darüber spricht, richtet er die sich ent-sprechenden Pole von Traum und Wachheit aufeinander aus.

So ist das Wort stets Spiegel des Schweigens; so ist der Mythos Spiegel der Seele. Erst die blinde Seite ermöglicht die sehende. Und da alles Seelische vor allem auch Spiegelcharakter hat, trägt es nicht nur naturhaften Zeitcharakter, sondern ist stets auf den Himmel bezogen; die Seele ist ein Spiegel des Himmels – und der Hölle. So schließt sich der Kreis von Zeit – Seele – Mythos – Hölle und Himmel – Mythos – Seele – Zeit.

- Aus Jean Gebsers Buch »Ursprung und Gegenwart«, Kapitel »Die mythische Struktur«

Etwas zu sagen oder darüber zu schweigen obliegt die besondere Entscheidung einer Ver-Antwortung. Jemand kann das im Gesagten Geschiedene ent-scheiden und so das darin Scheidende aufheben. Darum ist es nicht notwendig beim Berichten über eine Sache, alles bis aus dem letzten Bedeutungswinkel heraus erklären zu wollen. Vielmehr macht das Nichtgesagte, das im Gesagten mitschwingt, einen Bericht oder eine Rede erst interessant. Damit nämlich erhält das Gesagte seine Tiefe und einen Gegenpol, die es in die Spannung eines wirkenden Lebens bringt.

Von daher bewirkt etwas beim Zuhörer nur anzudeuten, weit mehr als ein vollständiges und bis ins letzte Detail erfolgte Erklären. Klarheit soll sich der Zuhörer durch eben jene, in der Rede tiefer liegende, jedoch unausgesprochene Aussage, selbst verschaffen, durch seine eigene Imagination.

Bloßes Schweigen ist magische Gebanntheit; bloßes Reden ist rationaler Leerlauf.

- Aus Jean Gebsers Buch »Ursprung und Gegenwart«, Kapitel »Die mythische Struktur«

Der Anthroposophische Schulungsweg...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Durch ihren Praxis-Aspekt unterscheidet sich die Anthroposophie Rudolf Steiners von der Theosophie Helena P. Blavatskys. Zwar erforschen auch die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft Phänomene der geistigen und materiellen Welt, doch man verzichtete lange Zeit auf eine tatsächlich praktische Anwendung daraus gewonnener Erkenntnisse. Aber auch wenn die moderne Theosophie viele Jahre nur Geisteswissenschaft blieb, erfüllte auch das seinen Zweck.

Anton Josef Trčka Eurythmische Tänzerinnen – ewigeweisheit.de

Eurythmische Tänzerinnen - Foto aus dem Jahr 1926 von Anton Josef Trčka.

Schließlich baute Rudolf Steiners Anthroposophie auf das auf, was sich über eine gewisse Zeit hinweg erst einmal zu dieser modernen Theosophie entwickeln musste. Dazu später mehr.

In seinem Werk versuchte er auf jeden Fall von solch höherem Wissen direkte Verwendungen abzuleiten. Und wie sich seiner Biografie entnehmen lässt gelang ihm das anscheinend auch in einem weiten Spektrum. Schließlich finden sich Ansätze der Anthroposophie Steiners sowohl in der Kunst, in der Erziehung des Menschen, aber auch in der Landwirtschaft, der Medizin und der Architektur, um einige Anwendungsgebiete genannt zu haben.

Aus Rudolf Steiners Bestreben theosophisches Wissen einem Nutzen zuzuführen, entstand auch seine reformierte Pädagogik. Hieraus gründeten sich die freien Waldorfschulen. Die Zentrale Zielsetzung in Steiners Waldorfpädagogik bestand darin einem Kind in seiner Entwicklung bis ins Erwachsenenalter, eine ganzheitliche Weltsicht zu vermitteln. In diesem Zusammenhang soll auch die anthroposophische Heilpädagogik erwähnt werden, wo eben der ganze Mensch betrachtet wird, mit all seinen Fähigkeiten, Problemen, seinem sozialen Umfeld und den ihm zur Verfügung stehenden, ins Leben mitgebrachten Hilfsmitteln. All das wird mit einbezogen bei der Bearbeitung und Lösung von Problemstellungen in der anthroposophischen Heilkunde. Aus dieser neuen Form des Heilens gründete Rudolf Steiner mit seiner damaligen Geliebten Ita Wegman 1920 in Dornach die Futuram AG, aus der später die Weleda AG hervorgehen sollte, einem internationalen Unternehmen das heute Naturkosmetik und anthroposophische Arzneimittel produziert.

Anders als in älteren Systemen, wie etwa der Magie oder Theurgie, versucht die praktische Anthroposophie allein durch indirekte, geistig-basierte Handlungsweisen Resultate zu erwirken. Es geht wie gesagt darum die Erkenntnisse höherer Wirklichkeiten in eine zweckmäßige Arbeit einfließen zu lassen. Aus der Existenz astraler Einflüsse (aus Gestirnen und Planeten) schlussfolgerte Rudolf Steiner auch, wie sich besondere, darauf bezogene Handlungsabläufe, im landwirtschaftlichen Jahr praktisch einsetzen ließen. Darnach sollte das entstehen was heute bekannt ist als biologisch-dynamische Landwirtschaft. Rudolf Steiner stellte 1924 seine Ideen dazu vor in einer besonderen Vortragsreihe. Darauf basierend gründeten anthroposophisch arbeitende Landwirte im Jahr 1927 die Verwertungsgesellschaft Demeter, deren Namen sich von der griechischen Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter ableitet und eng verbunden ist mit den alt-griechischen Mysterien.

Als eine weitere Form der Verwendung spirituellen Wissens, entwickelte Rudolf Steiner, in Verbindung mit seiner zweiten Ehefrau, der Theosophin und Anthroposophin Marie von Sivers (1867-1948), was heute bekannt ist als »Eurythmie«. Es ist eine Bewegungskunstform, die wirksame Gesetzmäßigkeiten in Sprache und Musik miteinander in Beziehung bringt und durch menschliche Bewegung sichtbar machen will. Die aus der Eurythmie gewonnenen Erkenntnisse sollten später auch einen Teil der alternativen Heilkunde Rudolf Steiners bilden, als bewegungstherapeutische Form anthroposophischer Medizin und Psychotherapie.

Lebenssinn und Spiritualität

Wir sind nun dem Begriff der Anthroposophie bereits in verschiedenen Zusammenhängen begegnet. Gewiss wird das Wort heute verwendet, um die spirituelle und esoterische Weltanschauung Rudolf Steiners einordnen zu können. Er setzte im Prinzip das fort, was im Westen als Rosenkreuzertum und später als die moderne Theosophie (Blavatsky) entstanden war. In diesem geheimwissenschaftlichen Kontext versuchte Steiner die Urform einer neuen Geisteswissenschaft zu entwickeln, in deren Reifung seine Schüler beteiligt wurden, damit sie Mensch und Welt verstehen lernen, als ein voneinander abhängiges, ineinandergreifendes und einheitliches Wesen. Daraus entstanden die Grundzüge von Rudolf Steiners Anthroposophie, einem besonderen Erkenntnisweg, der sich eben mit der Weisheit (griech. »Sophia«) des Menschen (griech. »Anthropos«) befasst.

In dieser vollkommen neuen Schulrichtung flossen Elemente aus dem deutschen Idealismus, der Weltanschauung Goethes, Wissen aus Gnosis und Mystik, aber auch die Weisheiten fernöstlicher Lehren mit zeitgenössischen Beobachtungen aus den Naturwissenschaften zusammen, so dass daraus in verschiedenen Belangen ein tatsächlicher Nutzen zur Anwendung gebracht werden konnte.

Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.

- Aus Rudolf Steiners Aufsatzsammlung »Philosophie und Anthroposophie«

Die Entstehung anthroposophischen Gedankenguts

In seinen Vorträgen und Aufsätzen griff Rudolf Steiner teils auf das zurück was er aus den Lehren seiner Vorläufer zusammensetzte. Während seiner Berliner Jahre brachte er eine Zeitschrift heraus, mit dem Titel »Lucifer-Gnosis«. Der obskure Name dieser Zeitschrift meinte aber nicht den Teufel des Christentums, sondern einen durch das lateinische Wort »Luzifer« beschriebenen »Bringer des Lichts« oder »Bringer der Erleuchtung«. Nur sollte dieses wichtige Detail kaum wahrgenommen werden und schnell war Steiner als Satanist stigmatisiert.

Es ging ihm aber in dieser und seinen anderen Schriften vielmehr darum den Menschen in seiner Bewusstwerdung zu helfen, ihm im wahrsten Sinne des Wortes Erleuchtung zu bringen. Nicht allein auf religiöser Ebene, sondern auch sonst auf geistiger und auch körperlicher Ebene, wollte er seinen Zeitgenossen nicht nur besonderes Wissen sondern auch die Fähigkeit zur Erkenntnis vermitteln. Aus Abhandlungen über den indischen Yoga-Weg oder fernöstliche Meditationstechniken, versuchte er dieses wertvolle Wissen dem europäischen Gemüt zugänglich zu machen, was vor ihm ja auch Helena P. Blavatsky Anliegen gewesen war.

Wenn aber in der modernen Theosophie das Göttliche im Mittelpunkt stand, so hob Rudolf Steiner die Wichtigkeit des Menschseins hervor. Immer befand sich der Mensch im Zentrum der Betrachtungen Steiners. Das zeigen seine beiden Grundlagenwerke »Theosophie« (1904) und »Die Geheimwissenschaft im Umriss« (1910). In beiden Büchern geht er zuerst auf die Natur des Menschen ein, bevor man darin über die kosmische Welt en gros erfährt. Nicht aber so wie es ihm aus der Naturwissenschaft und Biologie, mit der rein quantitativen Einschätzung geläufig war, als vielmehr mit dem Versuch durch seine Werke den Menschen die Qualitäten und das Heilige in der Natur überhaupt bewusst zu machen.

Er versuchte jedoch immer die Erkenntnissysteme in seinem Werk nicht aus fernöstlichen Lehren zu übernehmen, sondern sie auf Grundlage deutschsprachiger Ansätze des Geisteslebens zu entwerfen. Aus diesem Grund tauchen in den Schriften Rudolf Steiners viele Denkweisen auf, die er im Werk Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) fand.

Steiners Jugend- und Studienjahre

Rudolf Steiner kam am 27. Februar 1861 zu Welt. Seine familiäre Vergangenheit lässt nicht direkt auf seine spätere Entwicklung schließen. Anders als etwa Helena Blavatsky, wurde Steiner in eher bescheidene Verhältnisse geboren. Sein Vater war Bahnbeamter und Rudolf Steiner lebte mit seinem gehörlosen Bruder, der immer auf Hilfe angewiesen war, und seiner Schwester, die zeitlebens bei seinen Eltern wohnte, zuerst in einem kleinen Haus in Donji Kraljevec im Norden des heutigen Kroatien, damals Teil des Königreichs Ungarn.

Schon in seiner Kindheit interessierte sich Rudolf Steiner für Spiritualität. Damals soll er bereits eine besondere Hellsichtigkeit besessen haben. Im Alter von sieben Jahren erschien ihm in einer Vision der Geist seiner Tante, von der damals niemand wusste dass sie Selbstmord begangen hatte. Von dieser und anderen eher beklemmenden Visionserfahrungen erschreckt, zog er sich als Junge zurück, wusste er doch nicht mit wem er über seine eigenartigen Erlebnisse sprechen sollte. In dieser Zeit begann auch sein Interesse für Esoterik und Philosophie.

Bis Anfang der 1880er Jahre studierte er an der Technischen Hochschule Wien Mathematik und Naturwissenschaften. Gleichzeitig aber war er häufig anwesend in Vorlesungen zu Literatur, Philosophie und Geschichte. Später siedelte er über in den Norden Ostdeutschlands und promovierte dort dann 1891 zum Dr. phil. an der Universität Rostock.

Wie oben bereits angemerkt sollten in Steiners Leben und Werk die Arbeiten Goethes eine zentrale Rolle einnehmen. Als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Werke Goethes machte er sich einen Namen. Manche Rezensionen dieser Arbeit wurden außerordentlich gelobt und man kann sagen, dass erst durch Rudolf Steiners Beitrag die Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden. Bis dahin hatte man Goethe nur als Dichter wahrgenommen.

In Steiners Wiener Zeit, zwischen 1879 und 1890, pflegte er eine Freundschaft mit dem Theosophen Friedrich Eckstein. Über ihn sollte Rudolf Steiner schließlich auch in Kontakt kommen mit Helena P. Blavatsky.

Befreiung aus dem Körper reiner Sinnlichkeit

1893 publizierte Steiner eines seiner für ihn wichtigsten Werke: »Die Philosophie der Freiheit« – einem Buch dem er bis zu seinem Lebensende größte Bedeutung zumaß. Darin stellte er die Frage ob das Individuum letztendlich nur etwas Allgemeines sei, wo die vielen Persönlichkeitsaspekte der Menschen doch quasi ein gemeinsames Bewusstsein mit anderen Individuen teilten. Sie hatten also eher teil an einem Alltagsdenken, aus dem aber eine tatsächliche Befreiung sich durchaus schwieriger gestaltete, da das allgemeine Welterleben nicht im Einzelnen sondern im Kollektiv lediglich miterlebt wurde. Grundsätzlich ein Zustand der nach wie vor allgegenwärtig zu sein scheint.

Für Rudolf Steiner war es das sinnlichkeitsbezogene Denken der Menschen, dass seinen Geist soweit eintrübt, dass ihm ein Begreifen der Freiheit eigentlich verwehrt bleibt. Nur wer die positive Wirklichkeit eines sinnlichkeitsfreien Denkens erkennt, der sollte laut Steiner sofort zu einem Verstehen gelangen, mit dem er eine individuelle Freiheit verwirklichen kann. Als solch erkennendes Subjekt sollte es einem Menschen gelingen, sein Denken tatsächlich zu beobachten. Wobei das Steiner sogar als allerwichtigste Wahrnehmungsleistung überhaupt galt.

Gut möglich dass ihn zu solchen Auffassungen radikale Denker wie etwa Friedrich Nietzsche (1844-1900) inspirierten, die Steiner wegen seiner wahrheitskritischen Haltung bewunderte.

Der wirklich 'freie Geist' geht noch weiter. Er fragt: 'Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?' Wozu Wahrheit? Alle Wahrheit entsteht doch dadurch, dass der Mensch über die Erscheinungen der Welt nachdenkt, sich Gedanken über die Dinge bildet. Der Mensch selbst ist der Schöpfer der Wahrheit. Der 'freie Geist' kommt zum Bewusstsein seines Schaffens der Wahrheit. Er betrachtet die Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sich unterordnet; er betrachtet sie als sein Geschöpf.

- Aus Rudolf Steiners »Friedrich Nietzsche: Ein Kämpfer gegen seine Zeit«

Nietzsches berühmte Erklärung »Gott ist tot!« bedeutete für Steiner wohl auch, dass was heute noch viele Menschen empfinden: der Gott wie ihn das Christentum Jahrhunderte lang deutete, hat seine kulturprägende Kraft in unserem Zeitalter verloren. Der Mensch hatte Gott als Konzept stets außerhalb seiner irdischen Existenz, in den Himmel projiziert und anscheind einem allein von dort herab wirkenden Willen gehorcht.

Der Mensch hat nicht den Willen eines außer ihm liegenden Wesens in der Welt, sondern seinen eigenen durchzusetzen; er verwirklicht nicht die Ratschlüsse und Intentionen eines andern Wesens, sondern seine eigenen.

- Aus Rudolf Steiners »Essentielle Schriften«, Band 2

Die Ermunternde Kunst spiritueller Dichtung des Angelus Silesius

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Angelus Silesius - ewigeweisheit.de

Im Jahr 1657 erschien in Wien ein Werk, dass man wohl zu den eindrucksvollsten Dichtungen des 17. Jahrhunderts rechnen kann: Der Cherubinische Wandersmann. Alle Liebhaber spiritueller Sinnsprüche und theologischer Geheimlehren, dürften in den darin enthaltenen Versen wirklich Erfreuliches finden. Eine Perle der neuzeitlichen Erbauungsliteratur.

Der Verfasser war in der Tat ein christlicher Weiser, dem es gelang seine Gedanken in eine so edle Form zu bringen, dass sie den Leser nicht nur belehrt, sondern ihn wahrscheinlich sogar erheiternd berührt.

Wie selig ist der Mensch, der alle seine Zeit
Mit anders nichts verbringt als mit der Ewigkeit.
Der jung und alt allein betrachtet und beschaut
Der Weisheit Schloss, das Gott, sein Vater, hat gebaut.
Der sich auf seinen Stab, das ewige Wort, aufstützt,
Und nicht wie mancher Thor in fremdem Sande setzt.
Der nicht nach Haus und Hof, nach Gold und Silber sieht,
Noch feines Lebens Zeit zu zählen sich bemüht.
Ihn wird das blinde Glück nicht hin und her traktieren,
Noch etwa eitler Durst zu fremdem Wasser führen.
Er weiß von keinem Zank, er liebt nicht Krämerei,
Er trachtet nicht danach, dass er gesehen sei.

Gegen das Dogma protestantischer Scholastik

Hinter »Angelus Silesius«, der latinisierten Fassung für den »Schlesischen Boten«, steht der Sohn eines polnischen Adligen protestantischen Glaubens: Johannes Scheffler (1624-1677). Während des Dreißigjährigen Krieges kam er im schlesischen Breslau zur Welt, wo er in einer Zeit großer Unsicherheit aufwuchs. Seine Eltern verstarben bereits, als Silesius noch ein Jugendlicher war. Damals zogen plündernde und mordende Heere durch Europa. Einen Großteil der Überlebenden in Schlesien, tötete schließlich die Pest. Es war auch eine Zeit, wo sich Aberglaube, Magie und Hexerei verbreiteten.

Im 17. Jahrhundert schienen recht wirklichkeitsfremde Tendenzen in der lutherischen Orthodoxie, den christlichen Glauben im Protestantismus immer mehr erstarren zu lassen. So wurde Vernunft zum echten Dogma im Protestantismus. Das aber veranlasste Silesius im Jahr 1653 zum Katholizismus zu konvertieren. Acht Jahre später ließ sich Silesius sogar zum katholischen Priester weihen. Von da an war er ein erbitterter Gegner der Anhänger Luthers. Für ihn waren sie Vasallen Luzifers und, so wörtlich, »Anbeter einer Sau«. Wegen ihrer angeblichen Vergehen gegen Gott, empfand er die Bedrohung des christlichen Abendlandes durch die Osmanen, als Gottes sträfliche Antwort auf ihre Abwendung vom rechten Glauben.

Der Cherubinische Wandersmann

Trotz dass, wie etwa bei Meister Eckhart, die Katholische Kirche große Vorbehalte gegenüber Mystikerinnen und Mystikern hatte, stand sie in dieser Zeit, der Mystik aufgeschlossener gegenüber als die reformierte Kirche der Lutheraner. Es scheint damit, als hätten die Sinnsprüche des Angelus Silesius nicht nur Duldung erfahren, sondern auch Gefallen.

Der Cherubinische Wandersmann aber war nicht etwa systematisch geordnet, wie andere christliche Schriften seiner Zeit. Es scheint als hätte ihr Verfasser das auch so beabsichtigt. Denn manche Aussagen darin finden sich teils hier und dort, wiederholen sich auch in geringer Variation. Silesius wusste, dass sie auf diese Weise besser wirkten. Manchmal auch gibt der Autor in einem Absatz die Lösung zu einem aufgegebenen Rätsel.

Das ewige Ja und Nein.

Gott spricht nur immer Ja, der Teufel saget Nein;
Drum kann er auch mit Gott nicht Ja und Eines sein.

- Cherubinischer Wandersmann 2:4

Natürlich muss man den theologischen Hintergrund kennen, um das in diesen Zeilen verborgene Rätsel zu lösen, was nicht ganz einfach sein dürfte. Doch das »Ja« das hier zweimal auftaucht, damit wohl spielte Silesius auf einen der hebräischen Namen für Gott an: Jah.

Ein Seufzer sagt Alles.

Wenn meine Seele seufzt und Ach und Oh schreit hin,
So rufet sie in sich ihr End und Anbeginn.

- Cherubinischer Wandersmann 2:64

Es ist gewiss nicht gewöhnlich, das Silesius seinen Texten eine, sagen wir, »heilige Scherzhaftigkeit« verlieh. Denn mit dem »Ach und Oh« das er hier schreibt, meint er natürlich jenes biblische Alpha und Omega. In diesem Sinne aber sind diese wenigen Zeilen so aussagekräftig, dass es sich sicherlich lohnt noch etwas darüber nachzusinnen.

A B ist schon genug.

Die Heiden plappern viel; wer geistlich weiß zu beten,
Der kann mit A und B getrost für Gott hintreten.

- Cherubinischer Wandersmann 2:77

Mit A und B ist hier der hebräische »Abba« gemeint – der Vater.

Ist die Lösung schon in Klammern eingefügt:

Iss Butter, iss mein Kind, und Honig (Gott) dabei,
Damit du lernst, wie Bös' und Gut zu scheiden sei.

- Cherubinischer Wandersmann 2:205

Wie auch bei anderen bekannten Mystikern, waren auch die Verse des Angelus Silesius keine Erzeugnisse aus reinen Vermutungen oder angesammeltem Wissen. Wie vor ihm bei Jakob Böhme, flackerte auch in Silesius immer wieder ein flammender Funke göttlicher Inspiration.

Das ich etliche Schriften Jakob Böhme gelesen, […] ist wahr und ich danke Gott dafür, denn sie sind große Ursache gewesen, dass ich zur Erkenntnis der Wahrheit kam.

In seinem Cherubinischen Wandersmann orientierte er sich gewiss an seinem Vorbild Jacob Böhme. Ihn verehrte er er als wirklichen Meister. Er scheint als tauche Silesius immer wieder in die Gedankenwelt Böhmes ein.

Erst später wandte er sich von Böhme immer mehr ab und kam zurück zu den christlichen Mystikern des Mittelalters, darunter etwa der dominikanische Mystiker Johannes Tauler.

Titelkupfer einer Ausgabe des Cherubinischen Wandersmanns (1675) - ewigeweisheit.de

Titelkupfer einer Ausgabe des Cherubinischen Wandersmanns, Buchdruckerei Ignatij Schubarthi (1675).

Geflügelte Diener Gottes

Was den eigenartigen Titel »Cherubinischer Wandersmann« anbelangt, so weist Silesius gewissermaßen hin auf seine Vorgänger der Mystik, speziell auf Meister Eckhart, doch auch auf den Mystiker Dionysius Areopagita († 1. Jhd. n. Chr.), den der Apostel Paulus einst in Athen zum Christentum bekehrt hatte.

In der ihm zugeschriebenen »Himmlischen Hierarchie« (De caelesti hierarchia) beschreibt Dionysius die Seraphim (von Gott erschaffene, ihm untergeordnete Engel) als Sinnbilder für das, was einem widerfährt, dessen Herz sich in göttlicher Liebe entzündet. Die Cherubim aber stehen für das Aufschwingen der Seele in die Sphären göttlicher Beschaulichkeit. Letzteres war das »spirituelle Feld«, woraus auch Silesius die Verse seines Cherubinischen Wandermanns empfing. In seinem Vorwort dazu schreibt er:

Glückselig magst du dich schätzen, wenn du dich beide lässest einnehmen, und noch bei Leibes Leben bald wie ein Seraphim von himmlischer Liebe brennest, bald wie ein Cherubim mit unverwandten Augen Gott anschauest; denn damit wirst du dein ewiges Leben in dieser Sterblichkeit, so viel es sein kann, anfangen und deinen Beruf oder Auserwählung zu derselben gewiss machen.

- Cherubinischer Wandersmann, aus dem Vorwort

Wer hier auf Niemand sieht, als nur auf Gott allein,
Wird dort ein Cherubim bei seinem Throne sein.

- Cherubinischer Wandersmann 2:184

Wo aber ist hier die thematische Verbindung zur Mystik?

Anscheinend vermochte Silesius ein »höheres Licht« zu schauen, worin er aus der Geisteswelt vermittelte Erkenntnisse gewann. Doch war das nicht etwa nur eine dem Ego zuträgliche Schmeichelei oder seine »Freiheit der Wahl«, sondern eine höhere Freiheit, die ihm ein geistiges Wirken vermittelte. Das heißt, jene Erkenntnis, die in die Tiefen der Weisheit führen soll, wird auf dem Wege geistiger Anschauung gewonnen, und nicht etwa in diskursivem, bewusst kontrolliertem Denken.

Von jenem Schauen erfahren wir etwa auch bei der Hildegard von Bingen, die vom »Lebendigen Licht« schrieb, durch das Gott in ihren Visionen zu ihr sprach. Der Mystiker schaut in jene Gefilde also nicht mit seinem physischen Auge, sondern einer Art spirituellem, innerem Auge, das Dionysius Areopagita auch in seinem Werk über die Himmlischen Gefilde beschreibt. Ebenso Silesius. Der schrieb:

Zwei Augen hat die Seele: eins schauet in die Zeit,
Das andere richtet sich hin in die Ewigkeit.

- Cherubinischer Wandersmann 3:228

Das überlichte Licht schaut man in diesem Leben
Nicht besser, als wenn man in's Dunkle sich begeben.

- Cherubinischer Wandersmann 4:23

Wer an den Füßen lahm und am Gesicht ist blind,
Der tue sich dann um, ob er Gott nirgends find't.

- Cherubinischer Wandersmann 1:57

Der nächste Weg zu Gott ist durch der Liebe Tür,
Der Weg der Wissenschaft bringt dich gar langsam für.

- Cherubinischer Wandersmann 5:320

Sicher aber geht dann durch dieses Tor der Liebe nur, der sich von den irdischen Dingen und Begierden zurückzieht, der auch sein eigenes egoistisches, verblendetes und durch die Schwerkraft angezogenes, körperliches Selbst, bereits aufgegeben hat.

Wo Gott ein Feuer ist, so ist mein Herz der Herd,
Auf welchem er das Holz der Eitelkeit verzehrt.

- Cherubinischer Wandersmann 1:66

Mensch, in das Paradies kommt man nicht unbewehrt;
Willst du hinein, du musst durch Feuer und durch Schwert.

- Cherubinischer Wandersmann 1:132

Du bist Babel (Babylon) selbst: gehst du nicht aus dir aus,
So bleibst du ewiglich des Teufels Polterhaus.

- Cherubinischer Wandersmann 1:226

Zwei Wörtlein lieb ich sehr: sie heißen Aus und Ein;
Aus Babel und aus mir, in Gott und Jesum ein.

- Cherubinischer Wandersmann 2:213

Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt,
die dich in dir mit dir so stark gefangen hält.

- Cherubinischer Wandersmann 2:85

Mein bester Freund, mein Leib, der ist mein ärgster Feind:
Er bindet und hält mich auf, wie gut er's immer meint,
Ich hass und lieb ihn auch, und wenn es kommt zum Scheiden,
So reiß ich mich von ihm mit Freuden und mit Leiden.

- Cherubinischer Wandersmann 4:79

Der Mensch, der seinen Geist nicht über sich erhebt,
Der ist nicht wert, dass er im Menschenstande lebt.

- Cherubinischer Wandersmann 2:22

Das größte Wunderding ist doch der Mensch allein:
Er kann, dich dem er's macht, Gott oder Teufel sein.

- Cherubinischer Wandersmann 4:70

Die Überwindung des Leibes

Wer sich aus dem ewigen Triebverlangen entwinden möchte, um sein Sehnen nur zum Geistigen hin aufzurichten, erreicht das durch allmähliche Befreiung aus aller Leiblichkeit. Der Körper ist Instrument der Seele, die Seele aber Instrument einer noch höherer Instanz, die in ihr als heiliger Gottesfunken flackert. Wie eben alle Gelehrten und Weisen der höheren Geistigkeit und religiös-mystischen Spiritualität, so weißt auch Silesius darauf hin, dass das Leibliche ab einem gewissen Entwicklungsgrad überwunden werden sollte.

Wie soll sich die Seele aber dabei aus dem Leib erheben und aufschwingen, um zu Erkennen?
Und was ist damit gemeint, wenn es heißt, dass jemand, der nach obigem Bestreben trachtet, sich in Gott versenken und verlieren soll?

Diese Fragen beantwortet Silesius auf ganz ausgesprochene Weise:

Gott ist ein Wunderding: Er ist das, was er will,
Und will das, was er ist, ohne jedes Maß und Ziel.

- Cherubinischer Wandersmann 1:40

Je mehr du Gott erkennst, je mehr wirst du bekennen,
Dass du je weniger ihn, was er ist, kannst nennen.

- Cherubinischer Wandersmann 5:41

Denkst Du den Namen Gottes zu sprechen in der Zeit?
Du sprichst ihn noch nicht aus in einer Ewigkeit.

- Cherubinischer Wandersmann 2:51

Gott ist ein lauterer Blitz und auch ein dunkles Nicht,
Das keine Kreatur erschaut mit ihrem Licht.

- Cherubinischer Wandersmann 2:146

Gott ist unendlich hoch – Mensch, glaube dies behende!
Er selbst findet ewiglich nicht seiner Gottheit Ende.

- Cherubinischer Wandersmann 1:41

Durch Weisheit ist Gott tief, breit durch Barmherzigkeit,
Durch Allmacht ist er hoch, lang durch die Ewigkeit.

- Cherubinischer Wandersmann 4:35

Gott ist da nichts als gut. Verdammnis, Tod und Pein,
Und was man böse nennt, muss, Mensch, in dir nur sein.

- Cherubinischer Wandersmann 1:129

Du fragst, wie lange Gott gewesen sei, um Bericht:
Ach schweig, es ist so lang, er weiß es selber nicht.

- Cherubinischer Wandersmann 3:180

Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht;
Wer es nicht selber wird, der sieht es ewig nicht.

- Cherubinischer Wandersmann 1:72

Nichts dauert ohne Genuss: Gott muss sich selbst genießen,
Sein Wesen würde sonst wie Gras verdorren müssen.

- Cherubinischer Wandersmann 5:75

Gott kann sich nicht entziehen, er wirket für und für:
Fühlst du nicht seine Kraft, so gib die Schuld nur dir.

- Cherubinischer Wandersmann 5:73

Der christliche Gott aber ist mehr als »der Eine«. Man definiert ihn ja in seiner dreifältigen Relation zu Welt und Mensch.

Gott Vater ist der Punkt; aus ihm fließt Gott der Sohn,
Die Linie, Gott der Geist, ist beider Fläch' und Kron'.

- Cherubinischer Wandersmann 4:62

Gott Vater ist der Brunnen, der Quell der ist der Sohn,
Der heilige Geist der ist der Strom, so fließt davon.

- Cherubinischer Wandersmann 5:123

Es ist kein Vor und Nach; was morgen soll geschehen,
Hat Gott von Ewigkeit schon wesentlich gesehen.

- Cherubinischer Wandersmann 2:182

Weil in Gott kein Vor oder Nach ist, und in diesem Sinne entsprechend Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos sind, drum lässt sich auch keine Zeit bestimmen wo Gott die Welt erschaffen hat. Sie war von Ewigkeit her (als Idee) in ihm. Und so lässt sich sagen, dass Gott die Welt noch immer erschaffe, denn seine Schöpfung ist erst vollbracht am Ende der Zeit. Stellt sich aber die Frage:
Wann endet Zeit, wenn Gott ewig ist?

Dort in der Ewigkeit geschieht alles zugleich,
Es ist kein Vor und Nach, wie hier im Zeitenreich.

- Cherubinischer Wandersmann 5:146

Gott schafft die Welt immer noch; kommt dir das fremde für?
So wisse: Es ist bei ihm kein Vor noch Nach wie hier.

- Cherubinischer Wandersmann 4:165

Abwendung vom Guten – Hinwendung zum Tod

Silesius, wie auch viele vor oder nach ihm, nennen die Abwendung von Gott Sünde. Nur der Mensch kann sie begehen. Zwar wird Gott immer wieder auch den falsch handelnden oder sogar sündigen Menschen aufsuchen, doch er kann ihn nur erretten, wenn der Mensch bereit ist sich helfen zu lassen. Er muss sein »falsches Handeln« erkennen. Errettung ist nur durch »Mitwirken des Sünders« möglich. Wenn er wirklich will, in Erkenntnis der Welt, Gott, doch vor Allem seines Selbst. Unser gutes Handeln nämlich hilft sowohl dem Ich wie auch dem Du. Denn unser Tun und Handeln kann sich ganz und gar auf Gott ausrichten, so dass ein edler Geist durch uns hindurch wirkt – zum Wohle aller.

Das Gute kommt aus Gott; drum ist's auch sein allein;
Das Böse entsteht aus dir – das lass du deine sein.

- Cherubinischer Wandersmann 5:230

Die Sünde ist anders nichts, als dass ein Mensch von Gott
Sein Angesicht abwendet und kehret sich zum Tod.

- Cherubinischer Wandersmann 4:69

Der Sonne tut's nicht weh, wenn du von ihr dich kehrst:
Also auch Gotte nicht, wenn du in Abgrund fährst.

- Cherubinischer Wandersmann 5:56

Ein Fünklein aus dem Feuer, ein Tropfen aus dem Meer:
Was bist du doch, o Mensch, ohne deine Wiederkehr?

- Cherubinischer Wandersmann 5:369

Zwei müssen es vollziehen: Ich kann's nicht ohne Gott,
Und Gott nicht ohne mich, dass ich entgeh' dem Tod.

- Cherubinischer Wandersmann 5:48

Des Menschen größter Schatz ist guter Will auf Erden;
Ist alles gleich verloren, durch ihn kann's wieder werden.

- Cherubinischer Wandersmann 5:62

Du sprichst: das höllische Feuer wird nie verlöscht gesehen –
Und sieh, der Büßer löscht's mit einer Augenträn'!

- Cherubinischer Wandersmann 4:100

Wer sich nun also zum Guten kehrt, der wird notwendigerweise eine Neugeburt erfahren, eine Auferstehung. Als Christ darf man da ruhig glauben, dass der Heiland in der Menschenseele selbst neu geboren wird. Nur aber durch eine erneute Geburt, kann die Menschenwerdung Christi den Gläubigen erlösen.

Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren,
Und nicht in dir: du bleibst doch ewiglich verloren.

Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgerichtet, erlösen.

Ich sag, es hilft dir nicht, dass Christus auferstanden,
Wo du noch liegen bleibst in Sünde und in Todesbanden.

- Cherubinischer Wandersmann 1:61ff

Du musst Maria sein und Gott aus dir gebären,
Soll er dir ewiglich die Seligkeit gewähren.

- Cherubinischer Wandersmann 1:23

Ach Freude! Gott wird Mensch und ist auch schon geboren.
Wo da? In mir: Er hat zur Mutter mich erkoren.

Wie geht das vor sich? Maria ist die Seel',
Das Kripplein mein Herz, der Leib der ist die Höhl',

Die neue Gerechtigkeit sind Windeln und sind Binden,
Der Josef Gottesfurcht die Kräfte des Gemüts

Sind Engel, die sich freuen, die Klarheit ist ihr Blitz,
Die keuschen Sinne sind die Hirten, die ihn finden.

- Cherubinischer Wandersmann 3:238ff

Vernunft versus Glauben

Die Verse des Johannes Scheffler alias Angelus Silesius sollten all jene erreichen, die sich dem Christentum entfremdet haben. Er schrieb sie eben in einer Zeit des Wandels, dämmerte doch bereits damals jenes Zeitalter der Vernunft, das was man heute die »Aufklärung« nennt.

Man musste, um dies zu erreichen, seinen Leser zumindest verwundern, ja manchmal gar zu Missverständnissen Anlass geben. Denn nur so konnte seinerzeit jenes geistige Empfinden wieder geschärft werden, von dem sich die Menschen in den Jahrhunderten nach der Zeit der Kreuzzüge, anscheinend von Christus und vom Gottesglauben entfernt hatten.

Angelus Silesius schrieb dazu im Vorwort zur zweiten Auflage seines Cherubinischen Wandersmanns:

Weil folgende Reime seltsame Paradoxa oder widersinnige Reden, wie auch sehr hohe und nicht jedermann bekannte Schlüsse von der geheimen Gottheit in sich halten, ferner von der Vereinigung mit Gott und dem göttlichem Wesen, welchem man wegen der kurzen Verfassung leicht einen verdammlichen Sinn oder böse Meinung könnte andichten, ist also vonnöten dich deshalb zuvor zu erinnern. Und hierbei ist einmal und für allemal zu wissen, dass des Urhebers Meinung nirgends sei, dass die menschliche Seele ihre Beschaffenheit solle oder könne verlieren, und durch die Vergötterung in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen könne verwandelt werden, welches in alle Einigkeit nicht sein kann. Denn obwohl Gott allmächtig ist, kann er doch dieses nicht machen (und wenn er es könnte, wäre er nicht Gott), dass eine Kreatur wesentlich und natürlich Gott sei.

Silesius weißt also darauf hin, dass seine Reime durchaus »seltsame Paradoxa« enthalten, die eventuell der eine oder andere als widersinnig empfindet. Es ist eben nur schwer möglich die geheimen Zusammenhänge im Reich des Göttlichen in kurzen Versen so wiederzugeben, dass sie jeder ihrem inneren Sinn nach versteht.

Beim »Besprechen von Geheimnissen« lauern eben immer Missverständnisse, die, selbst wenn sie dann mal beigelegt sind, dennoch einen negativen Nachgeschmack hinterlassen. Fragt sich also, wieso man überhaupt über Geheimnisse sprechen soll. Vielleicht eben sind manche Bücher nicht für jeden geeignet. Heute aber, da jedem eigentlich alle Literatur zugänglich ist, lässt sich das nicht mehr vermeiden. Ratsam jedoch ist, dem eigenen Urteil immer Geduld voranzustellen.

Angelus Silesius ging es darum zu zeigen, dass Mensch und Gott nicht getrennt, sondern letzterer in ihm selbst enthalten ist, was auch bewusst gemacht werden kann. Da spricht man dann von der »Unio Mystica«, der Vereinigung von Gott und Mensch. Die engen Grenzen des Ich, werden dabei überschritten, das Ich verschmilzt mit dem Absoluten, dem Ganzen.

Ich bin nicht außer Gott, und Gott nicht außer mir,
Ich bin sein Glanz und Licht und er ist meine Zier.

- Cherubinischer Wandersmann 1:106

Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.

Gott ist in mir das Feuer und ich in ihm der Schein;
Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?

- Cherubinischer Wandersmann 1:10f

Gott ist noch mehr in mir, als wenn das ganze Meer
In einem kleinen Schwamm ganz und beisammen wär.

- Cherubinischer Wandersmann 4:156

Wenn eine würdige Seele zu einer solch nahen Vereinigung mit Gott gelangt, ist sie von ihm ganz und gar durchdrungen, mit ihm eins. Könnte man dann die Seele sehen, so Silesius, würde man an ihr nichts anderes erkennen als Gott selbst, vom Glanz seiner Herrlichkeit absorbiert (eine Vorstellung die etwa auch dem buddhistischen Nirvana ähnelt, dem Erlöschen und Austreten der Seele aus dem Samsara, dem Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten).

Hiermit aber sahen sich die Skeptiker unter den Lesern des Cherubinischen Wandersmannes mit einer wichtigen Frage konfrontiert: Wenn sich die Seele ab einem gewissen Grade in Gott selbst auflöst, gibt es für sie auf dieser Stufe kein Gebet mehr, kein Verlangen mehr nach ewigen Heil. Auch der Glaube an Gott ist dann nicht mehr vonnöten, da die Seele von da ab in Gott ruht, in vollkommener, himmlischer Seligkeit.

Die Schwärmer unter den christlichen Frommen dürften sich mit solch angenommenen Voraussetzungen recht unwohl fühlen. Doch das solche oder andere ihn vielleicht missverstehen, liegt wohl auch daran, dass Silesius Werk in Reimen verfasst ist. Hätte er Prosa geschrieben, wäre seine Ausdrucksweise sicher vorsichtiger, klarer und unzweideutiger ausgefallen. Nur dann hätte er wohl eher Rechenschaft ablegen müssen vor jenen, »die verstanden haben«, als vor denen unter den ungebildeten Träumern.


 

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Visionen eines deutschen Propheten

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Jakob Böhme - ewigeweisheit.de

Zu den größten Mystikern der Neuzeit zählt sicherlich Jakob Böhme. In seinem Werk verbanden sich Prophetie, Vision und eine bis dahin nicht dagewesene Theosophie und Metaphysik. Die Einflüsse der mystischen Betrachtungen aus seinen Visionen sind auch heute noch über die Grenzen Deutschlands hinaus in den Kreisen spirituell Gesinnter gegenwärtig.

Im Ausland nannte man ihn den »Philosophus Teutonicus«. Doch er war ein einfacher Mann, der bekanntlich in Görlitz eine Schusterei unterhielt. Karl Marx sagte einmal über ihn:

Der Schuster Jakob Böhme war ein großer Philosoph. Manche Philosophen von Ruf sind nur große Schuster.

Doch auch wenn Böhme ein recht unscheinbarer Mensch gewesen sein mag, war er doch von großer Geistesmacht erfüllt. Seine Philosophie bestand vor allem in einer »Göttlichen Weisheit«, war eine Theosophie, also etwas, dass weniger aus dem Weltgeist, als eher aus einem Geist des Göttlichen, durch Erkenntnis erlangt werden will. Böhme erlebte die göttliche Offenbarung der Bibel intuitiv, als Vision. Doch ebenso feinfühlig war seine Empfindung für Ereignisse in der Natur.

Das Böhme heute Theosophen, Rosenkreuzer und Philosophen verehren, bedeutet gar nicht, dass das immer so war. Zu seinen Lebzeiten durfte er mit sowas kaum rechnen. Er hatte einen großen Schülerkreis, doch es gab auch Menschen, die seine Lehren als Irrglauben verwerfen wollten und sich ganz und gar gegen sein weiteres Wirken stellten.

Kein Mystiker kommt eben schon fertig auf die Welt. Und was heißt das? Jeder muss seine vornehmen Fähigkeiten eben auch auf weltlicher Ebene begründen lernen. Jakob Böhmes Schriften aber sollten tatsächlich in die Geschichte eingehen. Er war einer der außergewöhnlichsten Weisen der europäischen Geistesgeschichte. Niemals hatte er ein Studium an einer Universität genossen oder gar eine theologische oder wissenschaftliche Ausbildung erhalten. Auf spirituell suchende Menschen, üben seine religiös-esoterischen Schriften eine inspirierende Wirkung aus, ganz unabhängig welche Bildung sie genossen haben oder welcher religiösen Weltanschauung sie folgen. Seit mehr als vier Jahrhunderten hat sich daran nichts geändert. Wer darum meint, dass seine Schriften nur auf Laien Einfluss ausübten irrt! Unter seinen Lesern befanden sich auch einflussreiche Philosophen, darunter etwa so Größen wie Leibniz, Hegel, Schelling, Novalis oder Ernst Bloch. Georg Wilhelm Friedrich Hegel galt Jakob Böhme gar als erster deutscher Philosoph.

Böhmes philosophische Einschätzungen basierten allein auf Glauben und Gottesfurcht. Es muss eine ungewöhnliche Hellsicht gewesen sein, oder nennen wir es, sein »Visionsvermögen«, dass ihn zu dem befähigte, was er in seiner relativ kurzen Lebenszeit zu Papier gebracht hatte.

Wer Jakob Böhmes Schriften liest merkt aber bald, dass ihnen etwas an Form abgeht. Manchmal bewegt man sich beim Lesen der Werke Böhmes, wie durch ein Labyrinth. Nach und nach aber fällt einem auf, dass sich durch den Text doch ein roter Faden zieht, dessen Ende geknüpft zu sein scheint an die Wirkungen höchster Erkenntnis.

Dennoch nimmt Jakob Böhme als Religionsphilosoph eine Sonderrolle ein, da er nicht etwa aus einer Weisheitstradition heraus schrieb und lehrte, sondern alles aus seinem visionären Eingedenken kam. Was er dabei fand, sollte ihn zu einem der einflussreichsten Gestalten der frühen europäischen Neuzeit machen.

Ein praktisches Christentum

Auch wenn Jakob Böhme schon als junger Mann die Heilige Schrift studierte und ein disziplinierter Kirchengänger war, gewann er seine weisen Einsichten doch in außergewöhnlichen Gottesvisionen.

Das reguläre evangelische Christentum, in seiner rein wörtlichen und intellektuellen Form, muss ihm dabei wie erstarrt erschienen sein. Drum versuchte er ein praktischeres Christentum zu entwickeln, das sich über die reine Textkunde des Bibellesens erhob. Doch niemals strebte er an, eine neue christliche Sekte zu gründen. Zeit seines Lebens blieb er Lutheranischer Christ. Eine neue Glaubensgemeinschaft zu gründen war etwas, das ihm ganz und gar nicht entsprach. Und trotzdem: aus Böhme schien aber etwas hervorzudrängen, dass seine Zeitgenossen an ihm wahrnahmen. Er schien tatsächlich tief erfüllt von einem göttlichen Geist, von dem geleitet er seine Schriften zu Papier brachte.

Denn in ihm leben, weben und sind wir

- Apostelgeschichte 17:28

was die Zeilen des großen Angelus Silesius bestätigen:

Im Wasser lebt der Fisch, die Pflanzen in der Erden,
Der Vogel in der Luft, die Sonn im Firmament.
Der Salamander muss im Feuer erhalten werden:
Und Gottes Herz ist Jakob Böhme's Element.

Herz-Symbol Böhmes - ewigeweisheit.de

Das Böhme'sche Herz: Dieses Symbol enthält in seiner Mitte ein weißes Dreieck, worin sich 1 + 2 + 3 + 4 = 10 Positionen zur sogenannten »Tetraktys« formen. Darin lassen sich verschiedene Zeichen unterbringen. In diesem Fall sind es die Buchstaben des Heiligen Namen JHVH, hebräisch יהוה (das sogenannte »Tetragrammaton«).

Da nun in der Mystik Jakob Böhmes das alchemistische Feuer eine zentrale Rolle spielt (siehe unten), fügte er das Schin, hebräisch ש, in diesen hebräischen Namen ein: das geheime Symbol für das Feuer in der Kabbala. Dieser Buchstabe eingefügt, in der Mitte zwischen den vier Buchstaben des Tetragrammaton יהוה, ergibt den hebräischen Namen יהשוה Jehoschua (hebräisch für »JHVH ist Hilfe«), die hebräische Fassung des latinisierten Namen »Jesus«. Den Kreis umringen die Buchstaben des Namen »Christus« und in den Flammen lassen sich außerdem die Namen »Iesus« (lateinische Schreibweise von »Jesus«) und »Immanuel« (hebräisch für »Gott ist mit uns«) entziffern, wobei die Endsilbe dieses Namens, »El«, ein anderes hebräisches Wort ist für »Gott« und im unteren Bereich dieses Symbol bewusst alleinstehend platziert ist. So entsteht also aus der Vierheit des wichtigsten Namen יהוה im jüdischen Glauben, mit dem geheimen Zeichen für das Feuer, ש (Schin), ein fünfbuchstabiger, hebräischer Name, der in diesem Symbol Böhmes, mit den anderen Namen  ein mystisches Emblem bildet: »Immanuel Jesus Christus«.

Der Teutonische Prophet aus Görlitz

Jakob Böhme kam 1575 in Alt-Seidenberg zur Welt, einem kleinen Ort nahe der Stadt Görlitz in der Oberlausitz. Seine Eltern waren Bauern aus ganz einfachen Verhältnissen. Der junge Böhme erhielt darum nur eine einfache religiöse Schulbildung, wo er auch Lesen und Schreiben lernte.

Als kleiner Junge musste er als Hirte arbeiten und war ein stilles, ein introvertiertes Kind mit einem leicht verträumten Blick. Doch schon als junger Mensch besaß er die Fähigkeit zur Vision, die er selbst jedoch als natürlich-real empfand.

Eine Geschichte erzählt über ihn, wie er einst Vieh hütete, zusammen mit anderen Hirtenknaben. Doch er entfernte sich von der Gesellschaft der anderen Jungen und bestieg die Landskrone, einen kleinen Berg in der Nähe seines Heimatortes. Es war Mittag als er dort ein Eingangstor aus vier roten Steinen in den Felsen entdeckte. Er ging hinein und fand dort ein Gefäß, worin sich wirklich reines Gold befand. Nicht aber griff er danach, sondern rannte vor lauter Panik davon, als wäre das, was er dort vorfand, nichts als Teufelswerk. Was er aber damals gesehen hatte blieb ihm als tiefer Eindruck in Erinnerung. In Begleitung seiner Freunde suchte er den Ort erneut auf, doch er war verschwunden. Hatte er das alles nur am helllichten Tag geträumt, in einem Wachtraum oder war er als er das erlebte nicht ganz bei sich?

Es schien, als wäre ganz tief in seiner Seele damals etwas wachgerüttelt worden, was er sonst nicht erfahren hätte. Etwas wurde sozusagen »psychisch aus ihm herausgelöst«. Der junge Böhme war eben jemand, der dazu befähigt war tiefer in die Versenkungen seiner Seelenwelt hinabzusteigen.

In seinen späteren Lehrjahren zum Schuster, hatte er eine weitere überirdische Erscheinung: da kam ein Mann, der ihm Schuhe abkaufen wollte. Doch da er als Lehrling zum Verkauf noch keine Befugnis besaß, ging er auf die Frage erst nach langem Zögern ein. Der Interessent wandte sich erst ab, doch rief dann plötzlich mit lauter Stimme:

Jakob, du bist klein, aber du wirst groß und gar ein anderer Mensch und Mann werden, dass sich die Welt über dir verwundern wird. Darum sei fromm, fürchte Gott und ehre sein Wort. Insbesondere ließ gerne in der Heiligen Schrift, darin du Trost und Unterweisung hast, denn du wirst viel Armut, Not und Verfolgung erleiden müssen, denn du bist Gott lieb und er ist dir gnädig.

Nach diesem Erlebnis wurde Böhme nur noch unsicherer und ernster. Sein ganzes Leben richtete er danach auf Moral, Gebet und Meditation. Er neigte dazu auch andere zu christlicher Frömmigkeit zu ermahnen, wozu natürlich auch Besucher der Schusterei seiner Lehrjahre gehörten. Als ihn aber sein Meister dabei erlebte, ermahnte er ihn »keinen Hauspropheten« zu brauchen. Das nächste Mal das er ihn dabei ertappte warf er ihn raus.

Darauf begab sich der junge Böhme als Geselle auf Wanderschaft. In jener Zeit bemerkte er an den Menschen die er da traf, dass sie mit ihrem Glauben in Konflikt standen, wo sich doch die verschiedenen Parteien der Evangelischen Kirche in den Haaren lagen. Es kam ihm vor, als befände sich die noch junge christliche Konfession in einer Art Babylon, wo jeder seiner Überzeugung nach in fremder Sprache die anderen beeindrucken und bekehren wollte.

Es war das aber auch die Zeit wo er viel in der Bibel las, aber auch astrologische Schriften studierte. Böhme war aber immer ein sehr frommer Mensch, der viel betete und über die erfahrenen Gottesworte meditierte. Einmal geriet er dabei sieben Tage lang in eine tiefe Ekstase, als er gerade Handarbeit ausführte, wo ihm sein spiritueller Meister wie aus dem Nichts begegnete. Da schien er aufzusteigen, seinen »Seelen-Sabbath« erfahrend, in einer Phase spiritueller Entrückung. Wie von göttlichem Licht umfangen, sah er sich selbst in einer Welt größter Stille und Freude. Doch es war ein rein innerliches Erleben, denn um ihn blieb alles so wie es war. Danach aber fühlte er sich wie von den Toten erwacht.

Solche Erlebnisse, die er seit seiner Kindheit hatte, gewährten ihm Einblicke in eine Welt, wie sie vor ihm wohl nur die Propheten der Bibel erlebt hatten.

Morgenröte im Aufgang

1594 kehrte Jakob Böhme zurück nach Görlitz. Ab 1599 eröffnete er dort eine Schusterei und heiratete im selben Jahr die Tochter eines Fleischers, die ihm zwischen 1600 und 1606 vier Söhne gebar. In dieser Zeit erlebte Böhme weitere mystische Visionen. Doch er schwieg darüber. Er wollte sie für sich behalten, um erst zu verstehen, was er dabei eigentlich erfuhr.

Als er eines Tages in seiner Schusterei saß, fiel sein Blick auf einen polierten Zinnbecher der vor ihm auf seinem Arbeitstisch stand. Die Sonnenstrahlen, die sich darin reflektierten, erzeugten eine wundersame Lichterscheinung, die seine Wahrnehmung derart absorbierte, dass er wieder in eine Art ekstatischen Zustand verfiel. Was er da erlebte war einzigartig, denn er fühlte sich wie aus dieser, in eine andere Realität entrückt, worin sich ihm die tiefsten Geheimnisse der Dinge offenbarten und er die ihnen innewohnenden Prinzipien erkannte.

Diese Erfahrung war so eindrucksvoll, dass er nicht länger darüber nachdenken wollte. Vielmehr suchte er Ablenkung und begab sich ins Grüne. Er wollte nicht so recht wahrhaben, was er da erlebt hatte und redete sich ein, dass diese Vision auf einer Einbildung basiert haben müsse. Nur gelang ihm das nicht, denn als er dort im Grünen stand, vermochte er auf einmal ins Innerste der Dinge zu schauen, die um ihn herum zu sehen waren. Alle Pflanzen und Gräser dort, waren in Harmonie damit, was er wie von innen heraus in seiner Vision vernommen hatte. Doch er wusste genau, dass er darüber mit niemandem sprechen konnte. So dankte er Gott für diese Erfahrung und behielt sie im Geheimen für sich.

Ein spirituelles Tagebuch

In den folgenden Jahren arbeitete Böhme als Schuster in seiner Schuhbank, wie man damals die Schustereien nannte. Er ging gewissenhaft seiner Arbeit nach und hatte mit allen Menschen einen guten Umgang.

Im Jahr 1610 erlebte er erneut etwas, dass er nicht durch seine alltägliche Erfahrung erklären konnte. An die prophetisch-visionären Eindrücke, die er als Junge vernahm, erschienen ihm da als recht chaotische und nur bruchstückhafte Vision. Er empfand sie nur als Momentaufnahmen von etwas viel Größerem. Jetzt aber sah er vor seinem inneren Auge ein ganz deutliches Bild. Er vernahm darin die Wirkungen eines Teils von etwas viel Höherem, empfand das in vollkommener Klarheit, als Element einer allumfassenden Ganzheit.

Was er da erlebt hatte schrieb er auf. Doch es war nicht seine Absicht diese Schriften zu veröffentlichen, da er sich als Schuster einem Dasein als Literat nicht gewachsen fühlte. So blieb das was er schrieb ähnlich einem Tagebuch, ein Notizheft, um sich an die gemachten Erfahrungen besser erinnern zu können. Denn es kam vor, dass ihm seine Visionen entglitten.

Jeden Morgen bevor er sich zur Arbeit begab, schrieb er darum auf, was er gesehen und erlebt hatte. Die Zeilen, die aus dieser Schreibtätigkeit entstanden, wurden zu seinem Erstlingswerk: Die »Morgenröte im Aufgang«, der man später den lateinischen Titel Aurora hinzugefügte. Den ursprünglichen Titel gab er dieser Schriftensammlung wohl auch wegen der Tageszeit, in der er sie verfasst hatte.

Für einen einfachen Schuhmacher, der keinerlei akademische Vorkenntnisse besaß, war dieses Werk eine erstaunliche Leistung. Doch wie er meinte, schrieb er die Texte nicht allein. Wie ein heftiger Schauer kamen ihm Erkenntnisse und was er dabei zu Papier brachte, schien wie in einem Fluss aus seiner Hand, recht ungeordnet auf dem Papier (jeder der sich schon mit Böhmes Aurora befasste, vermag das wohl auch nachzuvollziehen).

In der Aurora kommen die Lehren der Alchemisten und Theosophen zur Sprache. Was genau er darin aber veröffentlichte, gab er nur seinen engsten Freunden zu lesen. Viele Ärzte und Adlige waren unter Böhmes Freunden. Wegen der Tragweite, der darin getroffenen Aussagen über seine Erlebnisse, schienen sich die darin enthaltenen Texte, fast schon danach zu sehnen, von einer größeren Leserschaft gelesen zu werden. So kam es tatsächlich dazu, das ohne Böhmes Wissen, ein adeliger Bekannter unter seinen Freunden, tatsächlich Abschriften von seiner Aurora verbreitete.

Böhmes Werk las auch ein Schüler des berühmten Paracelsus. Es war der Arzt und Alchemist Balthasar Walther (1558-1631), der Leiter eines »Geheimen chymischen Laboratoriums« in Dresden. Walther war ein viel bereister Mann, der nach Syrien, Arabien und Ägypten gereist war, um dort nach den wahren Quellen der alten Kabbala und Magie zu forschen. Was er aber in Jakob Böhmes Aurora fand, erkannte er als tiefste Weisheit und jenseits dessen, wovon er bisher erfahren hatte.

Wegen seiner umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit aber, verkaufte er seine Schuhmacherei schon 14 Jahre nach ihrer Eröffnung – ein Zeitraum der uns heute echt lange vorkommt, doch in damaliger Zeit empfanden die Menschen das anders. Von da an auf jeden Fall lebte er von der Unterstützung seiner Freunde. Damit aber kam er immer wieder in große finanzielle Schwierigkeiten. Schließlich hatte er seine Kinder zu ernähren und ein Wohnhaus abzubezahlen, dass er 1599 in Görlitz gekauft hatte.

Jakob-Böhme-Denkmal Görlitz - ewigeweisheit.de

Jakob-Böhme-Denkmal im Görlitzer Park des Friedens (Foto: Ausschnitt aus dem Original von Südstädter; Quelle: Wikimedia; Lizenz CC BY-SA 3.0).

Aufbegehren eines Görlitzer Pfarrers

Die Kopien der Aurora, die sein Freund Carl von Endern anfertigen ließ, verbreiteten sich schnell. Eine davon fiel in die Hände des Görlitzer Oberpfarrers Gregorius Richter (1560-1624). Manchen erschien der Charakter dieses Kirchenmannes wie der eines aufgeblasenen Besserwissers.

Was da nun aber Jakob Böhme geschaffen hatte, war diesem Pfarrer Richter einfach nicht geläufig und vermutlich fehlte ihm das nötige Erkenntnisvermögen, um die Aurora überhaupt zu verstehen. Sicher aber wusste er von Böhmes Bewunderern. Doch er, als Pastor primarius, wollte keinen neben sich haben und empfand Böhme nur als gefährlichen Widersacher, der ihm als Pfarrer nur Konkurrenz machen könnte.

In einer seiner Sonntagspredigten beschuldigte er Jakob Böhme, sich zu brüsten als neuer Prophet – was dieser aber niemals tat. Doch in Wirklichkeit hielten ihn einige seiner Bewunderer tatsächlich für so einen. An jenem Tag jedoch war Böhme selbst unter den Kirchenbesuchern. Nach der Predigt wartete er auf Gregorius Richter am Eingang der Kirche, um von ihm freundlich in Erfahrung zu bringen, worin sein Vergehen eigentlich lag. Doch Richter drohte ihn verhaften zu lassen, wenn er sich nicht sofort aus seiner Gegenwart entferne. Am nächsten Morgen erhielt er vom Amtsgericht der Stadt Görlitz eine Ausweisung aus der Stadt, die aber kurz darauf wieder zurückgezogen wurde. Man verbot Jakob Böhme von da an aber, die weitere Veröffentlichung des Buches Aurora. Auch seine schriftstellerischen Tätigkeiten durfte er nicht weiter ausüben.

Anders als von Richter erhofft, kam aber durch dieses Ereignis die Aurora Böhmes erst noch größere Aufmerksamkeit und verbreitete sich schneller, als sich der Oberpfarrer in seinen schlimmsten Alpträumen auszumalen vermochte. Es sprach sich herum, dass dort in Görlitz ein wahres Genie zu Hause sei, dass man aufsuchen solle. Und so wollten bald möglichst viele unter der damaligen, deutschen Bildungsbürgerschicht wie auch aus Kreisen des Adels, den Meister Jakob Böhme persönlich treffen.

 

Über fünf Jahre befolgte Jakob Böhme das Diktat der Amtsrichter. In dieser Zeit schrieb er nur für sich. Es blieb ihm aber unbegreiflich, dass er nun nicht dem Gebot seiner göttlichen Vision folgend schrieb, sondern dem Zwang der Kirche gehorchen musste.

Drei Göttliche Prinzipien

Nach langer Zeit des Schweigens überredeten ihn im Jahr 1618 Freunde dazu, erneut seiner Berufung nachzugehen und was ihm in seinen Visionen erschien auch aufzuschreiben. Doch in seinem Wirken als Schriftsteller, blieb Böhme stets eine eigene, individuelle Erscheinung in der Geschichte der Mystik. Zwar schienen viele philosophische Strömungen in seinem Werk zusammenzulaufen, doch sie verschmolzen gleichsam im alchemistischen Ofen seines inneren, esoterischen Empfindens. Insbesondere die Zahl Drei nahm in seiner mystischen Philosophie eine zentrale Rolle ein. 1619 erschien in diesem Kontext sein zweites Werk: De tribus principii – »Die Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens«.

Für Jakob Böhme bildete das Universum seinem Wesen nach drei Welten. Aus ihnen entstand alles Sein. Die transzendente Einheit Gottes aber wies ihm den Weg zu seinem Selbstausdruck in der Welt.

Gott ist von Ewigkeit Alles alleine; sein Wesen teilet sich in drei ewige Unterschiede. Einer ist die Feuer-Welt; der Andere die Finstere Welt; und der dritte die Licht-Welt. Und ist doch nur Ein Wesen in einander, aber keines ist das Andere.

[…]

Das rechte Leben stehet im Feuer; dort ist der Angel (die Befestigung) zu Licht und Finsternis. Der Angel ist die Begierde: womit sich die füllet, dessen Feuer ist die Begierde, und dessen Licht scheinet aus dem Feuer; dasselbige Licht ist der Gestalt oder desselben Lebens Sehen, und das eingeführte Wesen in die Begierde ist des Feuers Holz, daraus das Feuer brennet, es sei herbe oder sanft, und das ist auch sein Himmel-oder-Höllen-Reich.

Das menschliche Leben ist der Angel zwischen Licht und Finsternis: welchem es sich aneignet, in demselben brennet es. Gibt es sich in die Begierde der Essenz, so brennt's in der Angst, im Finsternis-Feuer.

- Aus Jakob Böhmes »Sechs Mystischen Punkten«, Punkt 2: »Von der Gnadenwahl, vom Guten und Bösen«

Gewiss ist das jene Trinität, von der auch in den Lehren der Alchemie die Rede ist. Diese Geheimwissenschaft aber verwendet andere Namen für diese Dreiheit, nämlich dem feurig-geistigen Sulphur, dem flüchtigen Mercurius und dem manifestierten Sal. Was aber der daraus bereitete »Weiße Stein« den Alchemisten galt, war für Jakob Böhme jene universale Dreifaltigkeit der göttlichen und sinnlich-wahrnehmbaren Schöpfung, worin wir als Menschen leben und handeln.

Mit der Welt des Feuers bezeichnete Böhme den unbegrenzten Willen Gottes, den er während seiner Schöpfung konzentrierte auf die natürliche Welt, als Inspiration zu werden. Was auch immer werden soll, braucht Feuer. Und aus diesem Urfeuer der göttlichen Schöpfung entstand ein Paar von Gegensätzen:

  • Eine finstere Welt der Konflikte, der Übel, was man als die ewige Natur des Materiellen bezeichnen könnte, und
  • eine lichtvolle Welt, erfüllt von Weisheit und Liebe. Das ist der ewige Geist, der Nous, wie ihn Platon nannte.

Die dunkle Welt ist das Widerspenstige im Leben, alles was den Gegensatz zum Göttlichen bildet – die Welt des Unverbesserlichen, kurz: die Probleme – das was uns in unserem Leben Kopfzerbrechen bereitet. Die Reiche des Lichts aber bildet die Welt des Guten. Es leuchtet aus dem Herzen Gottes, durch sein Wort, dem Logos, der sich jedoch vom feurigen Prinzip seines Willens unterscheidet.

Fest steht: die Finsternis bleibt die Voraussetzung für das Licht, denn alles was in der Welt entsteht, benötigt einen Gegensatz, durch den es sich ja überhaupt erst als kontrastierendes Abbild manifestieren kann. Gewissermaßen ließe sich dieses Axiom auch in der Geschichte von Böhmes Wirken sehen, als prophetischer Schriftsteller. Auch andere Autoren die mit ihren Veröffentlichungen in Konflikt mit der etablierten Geisteselite gerieten, hatten mit den selben Herausforderungen zu kämpfen. Erst nämlich durch die Problematik, die sich aus diesen widerstrebenden, verneinenden Kräften ergab, fand eine neue Lehre das notwendige Licht, um sich aus dem Dunkel überkommener Sichtweisen zu erheben.

Das erkannte Böhme sehr wohl. Für ihn war die äußere, alltägliche Welt sowohl gut und böse zugleich, sowohl grauenhaft wie entzückend, worin Liebe und Zorn gemeinsam bestehen. Doch das nur als die Bestandteile eines selben Ursprungs, die Böhme eben durch seine Definition des Feuers beschreibt. Und in diesem Feuer streben das natürliche und das geistige Leben zum Licht. Ziel aber sollte dem Menschen sein, das Licht aus seinem feurigen Ursprung hervorzubringen, denn was sonst bleibt zurück vom Feuer, als nur Asche und schwarzer Ruß?

Hier sprach Jakob Böhme allegorisch vom »Blühen der Lilie«, die für ihn die Neugeburt des Christus symbolisierte. Wieso? Für Böhme befand sich das Universum scheinbar in einem riesigen alchemistischen Prozess, wo in einem allegorischen Kochtopf (Feuer), unablässig das Unedle (Finsternis) in lauteres Gold (Licht) destilliert wird. Und so wie sich dieser Veredelungsvorgang im Makrokosmos der Welt vollzieht, so auch im Mikrokosmos des Menschen. Auch der Mensch als Erscheinung seiner Spezies, befindet sich in einem Zustand des Werdens. Es ist darum gar nicht zu vermeiden, dass aus diesem Werden, sich aus dieser Veränderung zu etwas Neuem, durchaus Konflikte ergeben, wo sich eben Licht- und Finsterniskräfte empfindlich berühren. Übertragen auf das Leben eines Menschen, sind das die Probleme, die sich in unserem Dasein ergeben und bewältigt werden wollen.

Was die Hermetiker als das »Große Werk« anstreben, darauf soll auch der Mensch hinarbeiten. Der nämlich muss sein weltliches Leid ertragen lernen, um die in ihm wirkenden Gegensätze von Feuer und Licht zu überwinden.

Um dereinst zu den Himmlischen zu zählen, muss sich ein Mensch gegen die finsteren Anteile des Feuers wehren, um dabei das Licht daraus zu erlösen, was natürlich nicht immer einfach ist. Das weiß jeder, der schon ein paar Jahre auf unserer Erde wandelt. Da der Mensch aber alle drei Aspekte der dreifaltigen Welt in sich trägt – Feuer, Licht und Finsternis –, ist, wenn er bereit ist diesen unausweichlichen Kampf mit seinen Problemen auszutragen, ein Sieg über seine Leiden durchaus gewiss.

[...] wenn einer einen rechten Menschen stehen sieht, mag er sagen: Hier sehe ich drei Welten stehen […]

- Aus Jakob Böhmes »Von sechs theosophischen Punkten«, Erster Punkt, 2. Kapitel

Das menschliche Leben ist der Angel (die Befestigung) zwischen Licht und Finsternis: welchem es sich aneignet, in demselben brennt es. Begibt es sich in die Begierde der Essenz, so brennt's in der Angst, im Finsternis-Feuer.

- Aus Jakob Böhmes »Sechs Mystischen Punkten«, Punkt 2: »Von der Gnadenwahl, vom Guten und Bösen«

Unzählige Abenteuer vermag ein Mensch in jenem Urfeuer zu erleben. Seine Flammen schlagen eben aus den Tiefen der Hölle bis in die höchsten Höhen aller Himmel. Feuer ist wie das Leben: Kummer, Mühen und Konflikte ereignen sich unausweichlich. Da sich die Flamme dieses Feuers jedoch zur dunklen wie zur lichten Seite hin ausbreitet, kann man wählen zwischen:

  • dem finsteren Egozentrismus der Sünde oder
  • einem selbstlosen Dasein auf dem lichtvollen Weg zu göttlicher Vervollkommnung.

Alle spirituellen Traditionen lehren uns den Strudel der Egoismen versiegen zu lassen. Man muss die Energie eben so einsetzten, damit was vollbracht wurde, auch zu zu Liebe führt. Dunkle Teile in der Welt und in den Menschen lassen sich so zu Licht transmutieren (symbolisch also zu Gold). Und dabei wird die Furche zwischen den Dingen in der Natur und des Geistes geschlossen.

Böhmes gesamtes Schriftwerk dreht sich allein darum, danach zu streben das Licht Gottes in einem selbst zu entzünden, als eine allumfassende, alles durchdringenden Realität. Wir sind eben das, was wir aus unserem Leben machen.

Himmel und Hölle sind überall

Alles was zählt, ist sich zu entscheiden, zwischen dem Weg zu göttlicher Liebe oder einem Weg hin zum Untergang (wobei letztere Entscheidung eigentlich keine ist, da jemand aus reiner Unwissenheit und Ignoranz, ganz unbewusst auf solche Abwege gerät). Wer ununterbrochen, lebenshungrig und voller Ungeduld, an der Grenze zwischen kosmischem und menschlichem Leben schlittert, der wird niemals das »Rad des Schicksals« verlassen können. Er verfehlt das alchemistische Werk, zielen seine Begierden doch nur auf den dunklen Teil des Urfeuers.

Böhme schreibt, dass so jemand einen Zustand der turba erzeugt, eines »lärmenden Getümmels«, das nirgendwo sonst zu hören ist, als aus den Tiefen der Hölle. Drum dürfte die Aufforderung plausibel erscheinen, wenn es heißt, man solle sich dem hellen Teil des Urfeuers zuwenden, um darin die Impulse göttlichen Lichts zu empfangen – einem Licht, dass all-ein-sam in der Stille der Ewigkeit brennt.

Geduld, Mut, Liebe und Hingabe lassen den Suchenden allmählich erkennen, dass auch seine Seele Teil einer göttlichen Wirklichkeit ist. All die Heiligen und Mystiker bewiesen durch ihre Biografien, dass dies auch tatsächlich als entsprechende Wahrheit vernommen werden kann.

Christ zu sein bedeutete für Jakob Böhme aber nicht, allein »nur an Gott zu glauben«. Es war für ihn ein lebendiger Vorgang echter Arbeit, den nicht etwa Christus am Kreuz der Menschheit abnahm, sondern in seiner Symbolik einen Hinweis auf eben jenes alchemistische Werk einer persönlichen Veredelung gab, in der sich das eigene Dasein in dieser Welt, auf einen Weg führen lässt, hin zur Erlösung und der Ankunft unter den Himmlischen.

Das wahre Christentum war für Böhme also nicht nur Lippenbekenntnis. Es war für ihn ein inneres Erfahren der Manifestationen dessen, was die Evangelien in ihren Lehren für die Menschen vorbereitet hatten.

Eine Frage der Auslegung

Was Jakob Böhme wohl sicherlich beabsichtigt hatte, war gewiss nicht bloß seine Schriften zu lesen oder nur daraus zu zitieren, als vielmehr sein Werk, mit einem gewissen Grad selbst erwogener Freiheit, auf individuelle Weise wiederzugeben. Doch genau da liegt auch der Widerspruch: denn wie soll man die Kernaussagen Jakob Böhmes vermitteln, wenn sie individuelle Auslegungen einfärben? Das lässt sich nicht vermeiden, doch ist wohl ebenso gut. Denn je mehr Eindrücke durch verschiedene Interpretationen beim Dritten entstehen, desto wahrscheinlicher zeichnet sich ein tatsächliches Bild dessen ab, was in diesem Falle Jakob Böhme durch sein Schriftwerk der Nachwelt überbringen wollte.

Es wäre also falsch, von einer Auslegung ausgehend zu sagen, dass ihr an Objektivität mangelt. Nur jeder kann für sich selbst eine Sichtweise entwickeln. Denn wenn er verstehen will was er liest, bei Böhme, aber auch anderswo, ist er gezwungen es nach seinem eigenen Ermessen und Verstehen wiederzugeben, ganz im Sinne des Apostels Paulus, wenn er sagte:

Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet.

- 1. Thessalonicher 5:20f

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Isaak Luria: Der Heilige Löwe von Safed

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Isaak Luria - ewigeweisheit.de

Ende des 16. Jahrhunderts wurde im palästinischen Galiläa, die kleine Stadt Safed zu einem Zentrum spiritueller Gelehrsamkeit. Hier formulierte man die wesentlichen Glaubenslehren der Kabbala und von hier aus breiteten sie sich schließlich aus, in der gesamten jüdischen Welt.

Die Kabbala-Mystiker Safeds übten großen Einfluss aus, auf das religiöse Denken der Juden ihrer Zeit. Dabei war Safed nicht einmal von historischer Bedeutung, da es weder in biblischem noch talmudischem Kontext auftaucht. Das sich die politische Rolle dieser kleinen Stadt jedoch änderte, lag an den eher ungünstigen Verhältnissen, die damals in Jerusalem herrschten. Denn während der osmanischen Herrschaft über die heilige Stadt, war man sich uneinig in der Haltung gegenüber den Rabbinern.

Zu den Söhnen der Stadt Safed aber zählten die Koryphäen der Kabbala: unter ihnen Moses Cordovero, Chaim Vital und vor allem Isaak Luria. Er nämlich sollte die Vorstellungen über das Judentum nachhaltig verändern.

Isaak Luria kam 1534 in Jerusalem zur Welt und der Legende nach, erschien seinem Vater noch vor seiner Geburt der Prophet Elija, der zu ihm sprach:

Du sollst wissen, dass der Alleinige Herr, Segen sei auf ihm, mich zu dir sandte, um dir die Nachricht zu überbringen, dass deine Frau einen Sohn zur Welt bringen wird. Du sollst ihn Isaak nennen. Er wird Israel aus der Gewalt der Schalen befreien (das Wort »Schale« wird in der Kabbala auch an anderer Stelle als Synonym für die Kräfte des Bösen verwendet, wie sie etwa in Zeiten des Krieges die Kräfte des Guten verhüllen). Er wird viele Seelen erlösen, aus ihren leidvollen Wanderungen. Durch ihn werden die Lehren der Kabbala der Welt enthüllt.

Sein Vater sollte schließlich erkennen, dass sich seine Vision im Wesen seines Sohnes bewahrheiten sollte, zeigte der sich ihm doch als außergewöhnlich kluges Kind. Doch Isaak Luria war gerade acht Jahre alt, als sein Vater plötzlich verstarb. Seine Mutter ging darauf mit ihm nach Kairo, wo er im Hause seines Onkels David ben Zimra aufwuchs. Der war oberster Rabbiner Ägyptens. Im Alter von fünfzehn Jahren verheiratete ihn sein Onkel mit seiner Tochter. Er erkannte Lurias wirkliche Größe und unterstützte ihn in den kommenden Jahren in seinen Studien.

In dieser Ausbildung lernte Luria alles was er als Rabbiner wissen musste. Auch eignete er sich in dieser Zeit die alten Symbole der Kabbalisten an, um daraus neue Denkweisen herzuleiten.

Isaak Luria befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten. Drum wollte er sein Wirken nicht nur auf den Talmud beschränken. Vor allem die Lehre der Kabbala interessierte ihn – die man »Wissenschaft der Wahrheit« nannte. Das Anliegen dieser Geheimlehre war die Tora ins genaueste zu untersuchen und die größten Geheimnisse der fünf Bücher Mose in ihr zu enthüllen. Unwiderstehlich schien Luria die Anziehungskraft dieser Geheimlehre. Doch auch jeder, der sich mit den Inhalten der Kabbala-Lehre zum ersten Mal befasst, dürfte Ähnliches verspüren. Dabei ist das Studium der Kabbala durchaus ein Lebenswerk und könnte, wenn möglich, über viele Menschenleben hinweg studiert werden.

Das Buch Sohar

So also kam Luria dazu, sein Leben ganz dieser Geheimlehre zu widmen. Seinem Eifer geschuldet, konnte er damit aber nicht mehr am alltäglichen Leben teilnehmen. Er zog sich vollkommen zurück und begab sich in eine kleine Einsiedelei am Ufer des Nils. Nur an Schabbat war er bei seiner Familie. Den Rest der Woche verbrachte er fastend in Gebet, Meditation und Studium der heiligen Schriften. Dieser völlige Rückzug in Askese begann, als er sich mit dem wohl wichtigsten Werk der Kabbala befasste: dem Sohar – Buch des Glanzes, das der sagenhafte Rabbi Schimon ben Jochai im 2. Jahrundert n. Chr. verfasste.

Luria begegnete einmal einem Händler. Der führte mit sich den Sohar, dieses eigenartige Buch jüdischer Esoterik. Er fragte den Mann, ob er ihm das Buch verkaufe. Doch der Mann meinte nur, dass er kein Gelehrter sei und in die Hände dieser Schrift eher zufällig kam und er es ihm einfach so überlassen könne. Erst damit, meinen Manche, begann Luria sich für die Mystik des Göttlichen zu interessieren. Sicherlich aber würden manche unterstellen, dass das tatsächlich untertrieben ist, denn Luria hatte fast schon einen fanatischen Enthusiasmus entwickelt, der ihn befähigte, in den kommenden acht Jahren sich voll und ganz dem Studium dieses Buches zu widmen, auch wenn er in den ersten Jahren nicht wirklich alles darin vollkommen verstand. Doch es heißt, Isaak Luria schaute direkt in die Ränge der Engel, wodurch sich ihm die Geheimnisse des Sohar immer mehr erhellten.

In der biografischen Literatur findet man keine Erwähnung über einen spirituellen Lehrer oder Meister, den Luria hatte, während seines zurückgezogenen Lebens am Nil. Anscheinend war so ein menschlicher Lehrer für ihn nicht vonnöten. Denn in jenen Tagen, so die Legende, trat er in Kommunikation mit dem Heiligen Propheten Elija – der ja Isaak Lurias Vater noch vor seiner Geburt erschienen war. Durch den Propheten löste sich seine Seele von allen körperlichen Banden und stieg auf, bis an die Wohnstatt des Himmlischen. Dort wurde ihm die göttliche Gegenwart gewahr, im Beisein all der vielen Seelen der Verstorbenen, der Heiligen und Schutzengel. Nach sechs Jahren schließlich träumte Luria von einer geheimnisvollen, himmlischen Stimme die zu ihm sprach und ihn aufforderte Ägypten zu verlassen. So also war Luria seinem asketischen Leben, auf Geheiß des Himmels gefolgt, was dazu führte, dass er dereinst Ägypten verlassen und sich ins palästinische Safed begeben sollte.

Eine spirituelle Bewegung in Galiläa

Bei alle diesen fast schon fantastisch anmutenden Beschreibungen, von Isaak Lurias göttlichen Eingebungen, dürfte es recht wahrscheinlich sein, dass er in seiner Zelle, neben dem Buch Sohar, auch eine kleine Bibliothek besaß, worin sich neben der Heiligen Schrift auch die Werke verschiedener anderer jüdischer Mystiker reihten. Schließlich verwies er immer wieder auf jene Rabbis, die sich in der geschichtlich langen Kette der mystischen Tradition im Judentum bilden.

Auf Geheiß jener mystischen Stimme, kehrte 1569 Isaak Luria zurück nach Palästina und ließ sich dort im galiläischen Safed nieder. Dort traf er auf seinen zukünftigen Lehrer Rabbi Moses Cordovero (1522-1570) – einem Nachkommen sephardischer Juden, die einst auf der iberischen Halbinsel lebten, von dort aber 1492 nach Galiläa fliehen mussten. Über einen Zeitraum von drei Monaten nun, begab sich Luria in die Lehre seines neuen Meisters. Doch Cordovero verstarb bereits nach relativ kurzer Zeit. In der Prozession zu seinem Grab erhielt Luria dann Kunde über seine zukünftige Rolle in Safed, als Lehrer der Kabbala.

Ein ergebener Schüler Isaak Lurias

Als Isaak Luria dann als Nachfolger Cordoveros seine Berufung als Kabbala-Lehrer in Safed begann, war sein Ansehen noch sehr gering. Seine Schüler waren eben den rationalen Stil Cordoveros gewohnt. Luria aber sah im spirituellen System des Sohar ein eher dynamisches Zusammenspiel in der Beschreibung der kosmischen Urarchetypen. Nur wenige aber wollten damals seiner Lehre folgen.

Auf einmal gewann ein anderer Rabbi in Safed Einfluss, der in den Reihen der Schülerschaft Isaak Lurias stand. Auf seinen Namen hatten wir bereits oben hingedeutet: Rabbi Chaim Vital (das »Ch« im Vornamen »Chaim« wird ausgesprochen wie das »ch« im deutschen »Nacht«). Der führte eine komplett neue Form ein, wie das Buch Sohar zu studieren sei.

Eines Tages nun bat Chaim Vital seinen Lehrer Isaak Luria, eine bestimmte Passage aus dem Sohar zu erklären. Lurias Interpretation des Textes war aber so außergewöhnlich, das Vital und alle anderen Anwesenden, damit auf einen völlig neuen Weg geführt wurden, um die Geheimnisse des Sohar nun tatsächlich auch zu begreifen. Auch nachdem Vital ihn nach einem weiteren Vers im Sohar fragte, gab ihm Luria eine Erklärung, die dem Frager wiederum völlig neue Perspektiven eröffnete. Vital begriff auf einmal die tiefer liegenden Geheimnisse dieses heiligen Buches, etwas das er bisher nicht erkannt hatte.

Dies musste auf Chaim Vital einen ganz enormen Einfluss ausgeübt haben und er erkannte, dass in Wirklichkeit doch Isaak Luria sein Meister war. Als er ihm ein andermal wieder eine Frage stellte, wies Luria diese zurück. Anscheinend wollte er Chaim Vital sogar aus den Lehrveranstaltungen ausschließen. Doch dieser fiel vor Luria auf die Knie und erflehte bei ihm weiter studieren zu dürfen. Schließlich gewährte im Luria die weitere Teilnahme.

Geistiges Erbe des Weisen Moses Cordovero

Was an Lehren über das biblische Schriftwerk und den Sohar in Safed geschaffen wurde, ist bis heute in der Welt der Kabbala von höchster Relevanz. Denn es scheint, als ergeben sich beim Studium der Lehren von Moses Cordovero und Isaak Luria, sich gegenseitig ergänzende Glaubenssätze. Cordovero neigte eher zur Rationalität und versuchte seine Lehre auf bestimmte Weise zu systematisieren, wozu ihm insbesondere der Sohar als wichtiges Hilfmittel diente. Das gab ihm die Chance zu neuen Erkenntnissen. Fest steht, dass Moses Cordovero zu den größten Theoretikern der jüdischen Mystik zählt. Gleichzeitig aber wäre falsch anzunehmen, dass er selbst ein reiner Vernunftmensch gewesen sei. Nie fehlte es Cordovero an mystischen Gewahrsein. Er war es nämlich der die verschiedenen Stufen der göttlichen Emanationen, wie wir sie im Lebensbaum sehen, auf ganz einzigartige Weise erklärte, als einen Vorgang visionären, göttlichen Denkens.

Moses Cordovero erklärte das Verhältnis des unendlichen Ayn Soph (auch: En Sof) zum instrumentalen Organismus der Kelim – den Gefäßen der Sefiroth. Immer wieder, so Cordovero, stoßen auf diese Kelim, aus der Unendlichkeit die Kräfte des göttliche Werkes. Danach ziehen sich diese Wirkungen wieder zurück, um aber dereinst erneut auf die Schöpfung einzuwirken. Und in dieser Wechselwirkung steht Gott zu seiner Schöpfung, in einem ihr innewohnenden Konflikt, denn er ist sowohl ihr Lenker als auch das Gelenkte selbst, womit also Gott und seine Schöpfung eins sind. Cordovero aber gelang es diesen eigentlichen Widerspruch aufzulösen und auf gekonnte Weise so zu systematisieren, das sich aus der problematischen Frage nach dem Unterschied zwischen Schöpfer und Schöpfung, ein verständliches System entwickeln ließ. Cordovero meinte eben, dass alle Realität mit Gott identisch sei, nicht aber alle Realität Gott selbst ist. Für ihn war der Begriff Ayn Soph damit gleichbedeutend mit einem »Weltdenken«, einer geistig-göttlichen Substanz, worin alles Seiende existiert. Damit sind der Schöpfer und seine Schöpfung im Erschaffenen eins – Gott ist Alles und nichts existiert außerhalb seines Seins.

Das außergewöhnliche Werk, das Cordovero seiner Nachwelt hinterließ, schuf er in verhältnismäßig kurzer Zeit, denn er starb bereits im Alter von 48 Jahren. Moses Cordovero aber hatte die Gabe, die spirituell-mystischen Inhalte der Kabbala in eine einfache, verständliche Form zu bringen, die den Leser befähigten, die hinter dem Inhalt seiner Schriften wirkende Weisheit, auch tatsächlich in ihrer Kernaussage zu erfassen und zu verinnerlichen.

Isaak Lurias Grab - ewigeweisheit.de

Verehrer an Isaak Lurias Grab im galiläischen Safed.

Was Luria hinterließ

Im Wirken Isaak Lurias sollte sich alles spätere reflektieren, was in der Kabbala Bedeutung hatte. Gewiss ließe er sich als größter Gelehrter der gesamten spirituellen Kabbala-Bewegung Safeds bezeichnen. Sein Wirken, in diesem kleinen Ort Galiläas, entfachte nach seinem Tod eine regelrechte Heiligenverehrung. Auf seinen Spuren bewegen sich noch heute Kabbala-Schüler, entlang unzähliger Wegweiser, die an die mit diesem Meister zusammenhängenden Legenden erinnern.

Nicht etwa aber hinterließ Isaak Luria, in seiner recht kurzen Lebenszeit von gerade einmal 38 Jahren, ein Schriftwerk. Es heißt, er war ganz und gar kein Literat. Alles was man über Luria weiß, erhielt sich über seine Schüler, die ihn jedoch wie ein übernatürliches Wesen verehrten. Einer von ihnen fragte ihn einst, wieso er keine seiner außergewöhnlichen Lehrreden in Buchform brachte, worauf ihm Luria antwortete:

Es ist gänzlich unmöglich, stehen doch alle Dinge miteinander in Wechselbeziehung. Ich kann kaum meinen Mund zum Sprechen öffnen, ohne dabei das Gefühl eines brechenden Dammes zu verspüren, von dessen Wassern alles überspült wird. Wie soll ich das denn in einem Buch niederschreiben, um damit auszudrücken was meine Seele tatsächlich empfängt?

Und doch versuchte Luria, während seiner drei Jahre in Safed, seine Gedanken in einem Buch niederzulegen, was seine Verehrer unter dem Titel Kithve Ha-Ari führen: »Die Schriften des Heiligen Löwen«. Darin schrieb er Kommentare zum Buch Sohar, was sicherlich nur einen kleinen Ausschnitt seines eigentlichen Wissens und seiner Weisheiten zusammenfasst.

Seine mystischen Hymnen zum Schabbat aber, sollten selbst in die jüdische Religionstradition übergehen. Bis heute findet man sie in fast jedem jüdischen Gebetbuch.

In Gegenwart der Schekinah

An jedem Vorabend zum Schabbat wird die Heilige Schekinah – die Göttliche Gegenwart in ihrer weiblichen Dimension – von den Gläubigen eingeladen, diese Welt auf Erden weitere sechs Tage zu bewohnen. Mit dem Singen der Hymnen Lurias, zelebrieren die Gläubigen die Heilige Hochzeit des Himmlischen und des Irdischen, von Gott und seinem Volk Israel, das »der paradiesische Fall« ja vor sehr langer Zeit trennte.

Hierzu wird ein Tisch mit dem Schabbat-Mahl gedeckt, den einstigen Tempel symbolisierend, worin Gott als Gast gebeten wird, sich eben dort, im Kreis der Familie niederzulassen. Der Schabbat-Tisch wird damit zum »Landefeld«, wo sich Gott vergegenwärtigt in dem darauf befindlichen siebenarmigen Leuchter (Menora), im Salz, im Brot, im Fleisch, im Wein und im Fisch. Der Fisch aber ist das Symbol des Schabbat.

Hymnen singend
Trete ich ein durch die Tore,
Zu den Feldern
Der Heiligen Äpfel.

Einen neuen Tisch
Decken wir für sie
Ein hübscher Kandelaber
Ergießt sein Licht über uns.

Zwischen rechts und links
Nähert sich die Braut,
Geschmückt mit heiligen Juwelen
Und festlichen Gewändern.

Ihr Ehemann umarmt
Ihr ganzes Dasein,
Ihr Freude spendend,
Seine Kraft zu ihr hinausdrängend.

Marter und Mühen
Sind beendet.
Jetzt sind die Gesichter,
Sinne und Seelen fröhlich.

Große Freude ist da
In zweifältigem Maße.
Licht scheint auf die Braut
Und Ströme des Segens.

Brautführer, geht hin
Und bereitet vor die Zierde der Braut,
Essen verschiedener Arten
Alle Arten von Fisch.

Um Seelen
Und neue Geisteswesen zu zeugen
Auf den zweiunddreißig Zweigen
Und drei Ästen.

Sie trägt siebzig Kronen
Und den überirdischen König
Damit alle gekrönt werden
Im Allerheiligsten.

Alle Welten sind in ihr eingraviert
Und in ihr verborgen,
Doch sie strahlen fort
Vom »Alten der Tage«.

Möge es Sein Wille sein
Unter Seinem Volke zu verweilen
Das sich Seinetwillen erfreut
Mit Süßigkeit und Honig.

Im Süden stelle ich auf
Den verborgenen Kandelaber,
Im Norden mache ich Platz
Für den Tisch der Brote.

Mit Weinbechern
Und Myrtenzweigen
Die Verlobten beschütze,
Die Schwachen stärke.

Wir flechten ihnen Zöpfe
Aus kostbaren Worten
Die Siebzig zu krönen
In fünfzig Toren.

Die Schekinah sei geschmückt
Mit sechs Sabbat-Laibern
An jeder Seite verbunden
Mit dem himmlischen Heiligtum.

Geschwächt und ausgestoßen
Die unreinen Mächte,
Die bedrohlichen Dämonen
Sind nun gefesselt.

Grundkonzepte der Lurianischen Kabbala

Den größten Teil dessen, was Isaak Luria seinen Schülern lehrte ist uns durch Chaim Vitals Arbeit erhalten geblieben. Er nämlich war es, der alles genau dokumentierte und niederschrieb, was Luria mit seinen Schülern besprach. Vital schrieb außerdem über Isaak Lurias besondere Charakterzüge, womit er der Lehre seines Meister auch eine authentische Note verlieh. Das Wichtigste dieser Notizen ist zusammengefasst in dem kabbalistischen Buch Etz Chaim – zu deutsch: »Baum des Lebens«. Doch auch zu Lebzeiten Vitals, blieben die Lehren Lurias Geheimwissen. Wer Kopien seiner Texte herstellte, dem drohte der Ausschluss aus der Gemeinde, was zu damaliger Zeit einen erheblichen, sozialen Einschnitt im Leben eines Juden bedeutete. So also blieb die Lurianische Kabbala lange Zeit eine verborgene Lehre, in Safed aufbewahrt und nur besprochen im engen Kreise seiner Schüler.

Die Entstehung der Seele im Angesicht des Göttlichen

Charakteristisch für Lurias System der Kabbala, sind die sogenannten »Partzufim«, die Gesichter der Schöpfung, die als Vermittler zwischen Gott und seiner Schöpfung fungieren.Sefer Yetzirah (hebr. ספר יצירה).Kabbala Lebensbaum nach Rodurago

Vor der Erschaffung der Welt, erfüllte das Ayn Soph einen unendlichen Raum des Nichts und war damit identisch, doch es barg in sich das Potential des Entstehens. Denn die Leere nimmt alles auf, was sich in sie begibt. So auch kam es laut Lurianischer Kabbala zu Gottes Entschluss zur Schöpfung. Auf einmal zog sich dieser unendliche Raum des Ayn Soph, in sich selbst zurück. Das heißt also, das in der ewigen Unendlichkeit dieser Leere, sich alles auf einen Punkt zusammenzog und darin konzentrierte, was eben dem Zustand entspricht, den die moderne Kosmologie »Urknall« nennt, wo sich in einem unendlich kleinen Punkt, die Masse des gesamten heute existierenden Universums konzentrierte und worin Raum und Zeit noch eins waren – doch im nächsten Augenblick das Nichtsein in ein Sein überführt wurde. Aus der Konzentration des universalen Seins, vor dem Schöpfungsakt, brach das hervor, was die Kabbala Ayn Soph Aur nennt: »Das unendliche Licht«. Um dieses Licht aber bildeten sich zehn kreisförmige Schalen oder Behältnisse, hebräisch Kelim, die die Kabbala Sefiroth nennt – die »Sphären der Schöpfung«. Durch sie entstand das Universum in seiner Einheit, aus der sich dieses unendliche Licht ausbreitete, doch sein Zentrum nie ganz verließ.

Vom Rande dieser kreisförmigen Schöpfung nun durchbrach ein Licht die einzelnen Schalen, und drang vor bis ins innerste Zentrum. Von den zehn Sphären jedoch, hielten dem Andruck dieses Lichtstroms nur die äußersten, die obersten Sefiroth (Sphären) stand, da sie sich am nächsten zum Ayn Soph befanden. Die inneren sechs Sefiroth konnten dem Lichtstrom nicht standhalten und zerplatzen. Darum war es wichtig sie aus dem Lichtstrom zu entfernen. Und das war der Moment, als die Partzufim entstanden – die »Gesichter der Schöpfung«.

So transformierten sich die zehn Sefiroth in die göttlichen Gesichter der Partzufim. Aus der Sefirah Kether (Sefirah ist der Singular von Sefiroth) formte sich Arik Anpin, das »Große Gesicht« aus dem wiederum die zweite Sefirah Chokmah hervorging, die Luria Abba nennt, den »Vater«, was das aktive Prinzip der Schöpfung repräsentiert. Hierzu formte sich das Gesicht der Imma, der »Mutter«, als entsprechend passives Prinzip der Schöpfung.

Das verbliebene Licht der »zerplatzten Hüllen« der unteren sechs Sefiroth, formte Zeir Anpin, den »göttlichen Sohn«. Zu ihm, und abschließend, steht Nukvah, die »Tochter« oder Schekinah, jenes »weibliche Prinzip«, das sich in der Natur unserer Welt, aus der zehnten Sefirah Malkuth manifestierte.

Es muss nun aber unterschieden werden zwischen dem Licht der Sefiroth und den Scherben, die aus den zerplatzen Kelim (Schalen) in die Finsternis stürzten und dort das bilden, was in der Kabbala als die Klipoth bezeichnet wird. Sie sind die Ursache für die Entstehung des Bösen. Als Konsequenz daraus entstand eine Welt deren Gesetze auf Lohn und Strafe beruhen. Hätte Gott jedoch die Partzufim zuvor geschaffen, wäre es nicht zum Bruch der Kelim (Gefäße) der Sefiroth gekommen, wo doch aus ihren Scherben das Böse hervorgeht, dass die in diesem Schöpfungskontext entstandenen Seelen, seit Anbeginn ihrer Existenz, überwinden sollten.

Aus diesen fünf Göttlichen Gesichtern nun (also Arik Anpin, Abba, Imma, Zeir Anpin und Nukvah) gestaltete sich eine Metaphysik der Seele zu dem, was sich etwa als Lurianisches System der Psyche bezeichnen lässt. Gemäß dieser fünf metaphysischen Strukturen, gingen dabei die fünf Teile der Seele hervor: Jechida, Chaja, Neschama, Ruach und Nefesch (das »ch« in diesen hebräischen Begriffen wird ausgesprochen wie das »ch« im Wort »Nacht«, während das »j« wie beim deutschen Wort »Jahr« ausgesprochen wird). Die erste Seele gilt als die spirituell höchste, die letzte in dieser Reihe als die spirituell niedrigste, wobei die Verantwortung der menschlichen Seele als solche, ein Bindeglied bildet zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, worin sich Göttliches und Weltliches konzentrieren.

Aus diesem spirituellen Seelenleib, ging als geistiger Mensch hervor Adam Kadmon – Urbild des Menschen, aus dem der irdische Adam hervorging. Mit seiner Versündigung am Baum der Erkenntnis aber, fiel der irdische Adam in die materielle Welt, worauf er sich mit dem menschlichen Körper unserer Spezies bekleidete. Doch sich aus den geistigen Gefilden des Zeir Anpin lösend, riss er mit sich jene Splitter der sechs unteren Sefiroth (siehe oben), die seit jeher auch in jedem Menschen veranlagt sind, doch gleichzeitig von jedem Individuum überwunden werden können und sollen, und zwar durch seine Hinwendung zum höchsten und reinsten Teil seiner Seele, die dem reinen Urlicht der Schöpfung am nähsten ist – jenem Licht das aus Arik Anpin hervorstrahlt.

Adam Kadmon Baum - ewigeweisheit.de

Die zehn göttlichen Attribute der Sefiroth bilden den Urtypus Mensch: Adam Kadmon. Illustration von Isaak Meyer in einem Buch von Christian Ginsburg: »The Kabbalah - its Doctrines, Development and Literature«, aus dem Jahre 1888.

Rückkehr der Seele

Zu dieser Lehre der Seelenwanderung, fügte Isaak Luria den Begriff des Ibbur hinzu – der »Schwängerung der Seele«. Was ist damit gemeint?

Verstarb ein guter Mensch, kann es manchmal vorkommen, das seine Seele zeitweilig die Seele eines auf Erden verkörperten, lebenden Menschen durchdringt und dabei sozusagen mit positiven, geistigen Impulsen »schwängert«. Im Gegensatz dazu steht der Dibbuk, der Seele eines Toten, die sich aufgrund ihrer Verfehlungen nicht von der irdischen Existenz trennen konnte und darum seither verzweifelt nach einem lebenden Körper sucht, um diesen zu besetzen und für seine widergeistigen Zwecke zu missbrauchen.

Ziel des Ibbur allerdings ist, seine religiösen Verpflichtungen auf Erden nachzuholen, wobei sich die Seele des Verstobenen mit der eines Lebenden verbindet, um Gutes zu vollbringen. Jene wiederkehrende Seele erscheint auf Erden erneut, um einer schwachen Seele bei ihrem Fortkommen behilflich zu sein. Bei alle dem aber geschieht dies nur für Seelen homogenen Charakters. Laut Isaak Luria trägt ein Mensch auf seiner Stirn ein Zeichen, was dem Kenner erlaubt daran die Seelennatur ihres Trägers abzulesen (ausführlicher beschrieben im Buch Sohar, Stichwort »Stirnfalten«).

Die rituelle Praxis

Für Luria besaß jedes der Zehn Gebote auch eine mystische Dimension. Und vor diesem Hintergrund galt ihm der Schabbat als der Tag, an dem sich die Gottheit im alltäglichen Leben, in Gegenwart der Menschen manifestiert. Jede rituelle Handlung, die am Schabbat vollzogen wird, soll im Umkehrschluss darum auch auf die obere Welt zurückwirken. Voraussetzung dafür aber ist, dass man die Silben der heiligen Namen im Gebet, in Meditation und vollkommener Ergebenheit rezitiere.

Isaak Luria versuchte damit das mystische Judentum stellvertretend für das rabbinische Judentum einzutauschen. Gut möglich, dass nach seinem Tod darum die oben zitierten Hymnen zum Schabbat so weite Verbreitung fanden, eben auch unter Gläubigen, die sich weniger der Kabbala zugewandt haben. Sein spirituelles Erbe sollte dereinst aber den Weg ebnen für die Lehren des asketischen Sabbatianismus.

Wenn man sich auf die Spuren der Geschichte der Lurianischen Kabbala begibt, findet man an ihr aber doch auch recht dramatische Züge. Allerdings waren es weniger seine Schüler, die zu so etwas beigetragen hatten. Was Chaim Vital an Lurias Lehren systematisierte, behandelte er, wie gesagt als strenge Geheimlehre. Allein seinen Mitschülern gab er die theosophische Lehre ihres Meister Isaak Luria weiter, und verlieh ihr dabei sogar einen recht akademischen Beiklang. Lurias Kabbala wurde also nur im Kreise seiner Schüler in Safed weiter gelehrt und kommentiert. Bis zu Vitals Tode im Jahr 1620 in Damaskus, wurde nicht ein einziges seiner Bücher über Lurias Kabbala vervielfältigt. Gut möglich jedoch, dass manche seiner Texte im Geheimen kopiert wurden und sich so auch über die Grenzen seiner Schülerschaft aus Safed hinausbewegten – sicher aber auch, weil er Schüler unterrichtete, die eben nicht zum direkten Kreise Lurias gehört hatten.

Die Lurianische Kabbala fand also, wenn man so will, erst durch andere Kabbalisten zu ihrer Verbreitung. Doch über sie gelangten die darin besprochenen Lehren Ende des 18. Jahrhunderts auch nach Europa – im sogenannten »Zeitalter der Aufklärung«, während der großen Reformbewegungen in der Geschichte des Westens. Alles was damals jedoch nicht an die Öffentlichkeit gelangt war, das ist auch heute noch im Verborgenen.

 

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Ein Lebemeister und Lehrmeister der Spiritualität: Meister Eckhart

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Meister Eckhart - ewigeweisheit.de

Man nannte ihn das Genie der deutschen Mystik: Meister Eckhart von Hochheim. Er erfüllte tatsächlich seine Rolle im Leben, der er in seinen berühmten Reden der Unterweisung auch entspricht. Wer zum ersten Mal mit ihm in Berührung kommt, wird schnell Feuer fangen. Kein Wunder, stillte er doch die Bedürfnisse seiner Zeitgenossen, die sich nach Lebensweisheit und Erkenntnis sehnten.

Zu Meister Eckharts Lebzeiten, befand sich Deutschland in einer Zeit des Umbruchs. Die Kirche bedrohten sektiererische Bestrebungen. Vielerorts riefen die Menschen nach Reformen. Eckharts Zeitgenossen waren den reinen Dogmen- und Moralpredigten der Kirche, längst überdrüssig. Das alte Glaubenssystem der Kirche galt im Spätmittelalter als überholt. Eher wünschte man sich eine vielmehr unmittelbare religiöse Erfahrung des Gotteswortes – etwas, dass sich auch im alltäglichen Umgang mit sich selbst, den Anderen und der Welt, direkt und trefflich anwenden ließe.

In dieser Zeit erfuhr auch die deutsche Mystik eine neue Blüte. Breite Schichten des Volkes sehnten sich nach göttlichem Heil, nach einem »Innewerden Gottes in der eigenen Brust«, im Erlebnis der Unio Mystica – der spirituellen Einswerdung, wo sich, in einer »Mystischen Hochzeit«, die menschliche Seele gleichsam mit Gott vermähle.

Besonders Frauen der höheren Gesellschaftsschicht, besaßen eine regelrechte Sucht nach religiös-mystischer Unterweisung und spiritueller Vision. Ihr fast unstillbarer Bildungshunger, ließ dominikanische Frauenklöster darum wie Pilze aus dem Boden schießen.

Die bezaubernde Mystik eines beinahe Unbekannten

Wenn Meister Eckhart dieses Begehren der Menschen, aber so gekonnt zu stillen vermochte, wer dann war dieser sagenhafte Mann?

Dazu existieren heute nur wenig äußere Daten, noch sind Bilder von ihm bekannt (das im Internet am weitesten verbreitete Bild, das angeblich Meister Eckhart in schwarzer Robe, Mütze und weißer Lilie haltend darstellt, ist in Wirklichkeit ein Gemälde von Giovanni Bellini, auf dem man Teodoro von Urbino sieht). Sein Leben lässt sich darum nur mit dürftigen Strichen zeichnen. Wenn man über sein äußeres Leben erfahren will, ist man darum auf nur spärliche Notizen angewiesen.

Eckhart kam um 1260 in der Nähe von Gotha in Thüringen, als Sohn des Rittergeschlechts von Hochheim zur Welt. Schon früh trat er dem Erfurter dominikanischen Predigerorden bei. Bald schon erkannten die Mitglieder seine außergewöhnliche Begabung zur Rede. Und so entsandte man ihn um 1300 schließlich an die Universität Paris – in jene Stadt, die einst die geistige Metropole des damaligen Abendlandes war.

Schon 1303 kehrte Eckhart mit einem Magister-Titel nach Erfurt zurück, wo man ihn nun zum »Meister« wählte – einem Titel, mit dem man ihn seither ansprach. In den Folgejahren wurde Meister Eckhart mit hohen Ämtern betraut, die in den kommenden beiden Jahrzehnten seine Verantwortlichkeiten über die Geografie Böhmens, bis in den Elsaß hin ausdehnten.

Mit den Schriften, die Meister Eckhart hinterlassen hat, gelingt es ihm, ganz deutlich das Verhältnis von Denken, Sein und Leben zu bestimmen. Fragen nach dem, was nun Wirklichkeit sei, beantwortete Eckhart damit, dass das Sein keine besondere Weise benötige, um zu existieren. Das galt für ihn auch für das Leben im Allgemeinen. Es mag manchen sicherlich wie eine Unterstellung oder gar als Widerspruch erscheinen, doch ich fragte mich, ob wohl auch die französischen Existenzialisten Eckharts Schriften lasen? Selbst wenn sich ihre Vertreter als Atheisten bezeichneten, klingt bei ihnen eine ähnliche Selbstverständlichkeit an, die schon Jahrhunderte zuvor, Meister Eckhart für das Leben eines Menschen voraussetzte.

Auch wenn er heute zu den wohl am meisten zitierten »christlichen Mystikern« zählt, lässt sich nicht vermeiden, den Begriff »Mystik« an sich, sogar von Meister Eckhart her abzuleiten - war er doch nicht etwa irgendein Mystiker gewesen, sondern selbst das (deutsche) Original.

Zentraler Sinn seines Werkes, war die Wahrheit des Evangeliums hervorzutreiben und in diesem Sinne, seinen Mitmenschen praktisch fruchtbar zu machen. Das bedeutet, dass Eckhart die christliche Mystik aus den Formen der Aristokratie herausführte, die ja noch etwa bei Bernhard von Clairvaux (1090–1153) so hoch gepriesen wurde. Eckhart hingegen richtete seine Predigten und Traktate an jedermann, bot jedem an der dazu bereit war, geglaubte Wahrheit in sich Wirklichkeit werden zu lassen.

Ein Freigeist

Es schien das, fast schon eine Grunderwartung der Menschen in Deutschland gewesen zu sein, denn nicht zufällig rumorte es im dortigen Christentum gewaltig. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts, wimmelte es in Deutschland von »ketzerischen« Bewegungen und Sekten. Was als Religion empfunden wurde, war nicht mehr allein das, was die Prediger von den Kirchenkanzeln riefen. Religion wurde als etwas erkannt, das vielmehr in jedem Menschen als Christentum lebendig ist. In dieser Zeit entstanden etwa die Lehren von einem inneren Himmel, der im ewigen Leben in der Zeit, aus einem reinen, wesenseigenen Gott heraus existiert.

In diesem Zusammenhang stand auch das Werk Meister Eckharts. Man könnte sogar sagen, dass er in dieser Zeit zum geistigen Brennpunkt wurde, wo alle Strahlen diesen neuen, mystischen, doch von der Kirche als häretisch eingestuften, christlichen Strömungen, in seinem Wirken zusammenliefen.

Es war auch die Zeit, wo in mehreren europäischen Ländern die Glaubensgruppe der »Brüder und Schwestern vom freien Geiste« eine pantheistische Theologie verbreitete. Grundlage ihrer theologischen Ideale war, dass der Mensch eben nicht von Gott isoliert im Exil auf Erden lebte, sondern man wusste, dass Gott in allen Dingen der Welt entdeckt werden kann, und damit Gott und Kosmos auch identisch sind.

Diese Glaubensgruppe bezog ihren Namen aus dem Bibelwort:

Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit

- 2. Korinther 3:17

Allerdings kann man bei den Brüdern und Schwestern vom freien Geiste, nicht von einer einheitlich organisierten Sekte ausgehen. Eher war es ein lockerer Verband rechtgläubiger Menschen, die vielmehr versuchte, die Individualisierung der Beziehung von Mensch zu Gott in ihren Lehren zu intensivieren.

Welche Rolle aber spielte dann noch die katholische Kirche? Diese Fragen dürften sich im 14. Jahrhundert wohl etliche deutsche Geistliche gestellt haben. Darum scheint es wohl kein Zufall gewesen zu sein, dass sich solche Gruppierungen wie die Brüder und Schwestern vom freien Geiste, der Verfolgung ausgesetzt sahen. Schon ab dem 15. Jahrhundert war diese spirituelle Bewegung wie vom Erdboden verschwunden.

Im Fadenkreuz der Inquisition

Die Katholische Kirche verdächtigte natürlich auch Meister Eckhart wegen »häretischer Überzeugungen«. Doch er selbst bestritt immer jede Nähe zu unkirchlichen Häresien. Das man ihn verdächtigte war wohl insbesondere dem Umstand geschuldet, dass seine Lehren immer tiefer ins gläubige Volk drangen. Erst beobachtete man ihn aus dem Verborgenen, bis sich die Kirchenoberhäupter in ihrer Feindseligkeit öffentlich gegen ihn wandten.

Er wusste allerdings ganz genau, dass er keinem Forum als nur der Pariser Universität und dem Papst zur Rechenschaft verpflichtet war. Trotzdem erklärte sich Meister Eckhart dazu bereit, Rede und Antwort zu stehen. Er wusste ganz genau, und sprach das auch an, dass man ihn wohl kaum zu seiner Verteidigung einberufen hätte, wenn sein Ruf beim Volk nicht so gut gewesen wäre. Es war ihm natürlich klar, dass er damit ganz kühn ansprach, was der katholische Klerus stets berechnend vermied. Fast schon wahnwitzig, doch eben darum, wenn offiziell auch aus fadenscheinig anderen Gründen, verdüsterte ihm die Heilige Inquisition seinen Lebensabend.

Der Erzbischof von Köln, Heinrich von Virneburg, der auch der Verfolgung der Brüder und Schwestern vom freien Geiste mit energischer Hingabe nachging, eröffnete gegen Meister Eckhart im Jahre 1326 ein Inquisitionsverfahren. Der Grund der Anklage lautete: »Verbreitung glaubensgefährlicher Lehren in deutschsprachigen Predigten vor dem Volke«.

Ehe also Eckharts Saaten aufgehen konnten und im Volk Früchte tragen, wurden sie von der Kirche auf diese Weise niedergetreten. Solch übles Bestreben, scheint bis heute in unserem Geistesleben nachzuwirken. Denn was den Menschen eine direkte, innere Gotterfahrung näherbringt und sie mit wahrer Lebensweisheit sättigen würde, scheint in der verweltlichten Form des Christentums immer tiefer zu versickern. Dumm nur, wenn verweltlichter Glaube oder sogar Atheismus, das Christentum gleichsetzen, mit diesen alten Verfehlungen der Inquisition.

Doch vielleicht gerade deshalb, geht ein Suchen durch unsere Zeit, wo immer mehr Menschen das reine Vernunftdenken einfach nicht mehr reicht. Man versucht sich wieder an tiefere Quellen anzuschließen - etwas, dass die katholische Kirche anscheinend schon lange nicht mehr bedienen kann, da sie nach wie vor ihre Rolle, nur als moralische Anstalt erfüllt. Von der Vermittlertätigkeit eines wahren, mystischen Gotterfahrens, scheint sie sich damit aber immer weiter zu entfernen.

Von der Betrachtung der Wirklichkeit

Fast siebenhundert Jahre nach Eckharts Tod, bleibt sein Werk noch immer eine Quelle wahrer Weisheit. Was sich verändert hat natürlich, ist das äußere Weltbild. Denn die Menschen seinerzeit sahen sich noch im Mittelpunkt der Welt, wo himmlische Körper in ätherischen Schalen, eine Erde im Zentrum umkreisten, umgeben von einem herrlichen, ewig reinen Feuerhimmel.

Letztendlich aber spielen die Unterschiede der Vorstellungsweisen vom kosmischen Weltbild, für den Einzelnen eine wohl eher nebensächliche Rolle, insbesondere dann, wenn es um Lebensfragen geht. Engel und Teufel und all die himmlischen Heerscharen sind eben »nur« symbolische Größen und Mittel der Veranschaulichung. Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch tatsächlich existieren.

Wie sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen neuerer Zeit entnehmen lässt, dehnen sich die Größenordnungen des Kosmos weit über die menschliche Auffassungsgabe aus. Vielleicht war das den Alten bereits bewusst, wenn sie etwa sagten:

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.

- Exodus 20:4

Da Eckharts Gedanken im Grunde aber ganz auf die Ewigkeit ausgerichtet waren, galt ihm alles Gleichnishafte als vergänglich. Alle Wirklichkeit der Natur und Geschichte befand sich für Meister Eckhart in der höheren Wirklichkeit der Seele aufgelöst. Es war ein ausgesprochen mächtiges Lebensgefühl, dass sich jenseits aller Dinglichkeit bewegt. Nur in Demut darum, bewährte sich für ihn die Göttlichkeit, da erst durch sie sich zeigt, dass sich im Endlichen das Ewige und im Sterblichen das Unbegrenzte regt.

Philosoph der Christus-Religion

Sein religiöses Erleben versuchte Eckhart auszugleichen mit weltlichen Erfahrungen. Er brachte sie in seinen Schriften so zusammen, dass sie dem Leser eine einheitliche Schau widerspiegelten: im Himmlischen und Weltlichen, nicht getrennt voneinander existierend, sollte sie der Einzelne in sich selbst finden und darin auch erkennen können. Er war eben nicht allein nur ein Mann der Religion sondern auch ein Philosoph des Christentums. Weniger sollte man ihn aber als Seher wahrnehmen, als vielmehr einen Meister der Begriffsformung. Sein intellektuelles Werkzeug war das der klassischen Scholastiker, wo platonisch-aristotelische Begriffe zu einer Einheit verschmolzen und woraus die christliche Dogmatik entstand.

Es wäre jedoch zu einfach, Meister Eckharts Werk auf dieser Stufe zu belassen. Im Unterschied zu seinen spirituellen Vorgängern nämlich, verwendete er auch die monistische Seinslehre des Arabers Avicenna (Ibn Sina) und die Emanationslehre des Plotinus. Darin geht die Welt hervor, aus einem stufenweisen Fall des höchsten seienden Einen. Dabei ist es gar nicht notwendig, besonders viele neue Begriffe und philosophische Vorstellungen zu erfinden oder einzuführen. Eher kommt es auf die Fähigkeit an, diese so zu vereinfachen, dass sie einem tatsächlich im Leben helfen – was Meister Eckhart in seinem Werk allemal gelang.

Je älter die Grundkonzepte sind, derer sich ein Philosoph in seinen Ableitungen bedient, um so besser. Denn selbst jene Wirklichkeitsempfindungen, die sich auf die Gegenwart beziehen, können durchaus durch Hilfe älterer Begriffe so beschrieben werden, dass sie die Sichtweise auf das Beschriebene sogar noch konzentrieren und auf diese Weise verfeinern. Alles was Meister Eckhart in seinem Werk vollbrachte, war, einer transzendenten Geisteswelt einen neuen Mittelpunkt zu verleihen – und damit einen neuen Sinn.

Wege in den einigen Urgrund

Willst Du den Kern haben, so musst du die Schale zerbrechen.

In diesem simplen, doch aussagekräftigen Zitat, bezieht sich Meister Eckhart auf das Denken. Für ihn war es wie eine Schale, die sich zwischen uns und unsere eigentliche Wirklichkeit drängt. Die Begriffe in unserem Denken verwenden wir als »zugerichtete« Wörter, den eigentlichen Sinn der dahinter liegenden Wahrheit aber, umschließen sie wie ein Gefäß. Das begriffliche Denken ist etwas, wie der Name des Wortes schon sagt: wir begreifen, erfassen etwas, wie ein Gefäß das wir berühren, anfassen, etwas nach dem wir greifen.

Auf das Gefäß aber kommt es nicht an. Einzig der Inhalt zählt und auf ihn muss jeder in seinem Leben eigene Antworten finden. Erst damit kann er die Grundlagen schaffen, um seine Persönlichkeit zu dem zu formen, was seiner Lebensaufgabe entspricht.

Das genau war auch Meister Eckharts Ziel. Er versuchte in seinen Predigten »Religion« zu lehren und zwar ihrem wortwörtlichen Sinne entsprechend: als Rückverbindung unseres so weitläufigen Weltbewusstseins, an den ewigen Urgrund der Einigkeit allen Seins. Dieser »Ewigkeitsgrund« aber darf nirgends sonst gesucht werden, als im Kern unseres eigenen Wesens. Für Meister Eckhart bildet er die schöpferische Einheit, aus der die ganze Individualität des sinnlichen und geistigen Daseins stammt.

Wenn Religion also meint, zu jenem Urgrund zurückzuführen, begibt man sich als religiöser Mensch (andere nennen das heute vielleicht »spirituell«), auf die Suche nach einem Weg dorthin. Es ist ein Weg aus der Zerstreutheit all der vielen Willens(ab)gründe, zurück in die eigentliche Wesenseinheit des Lebens. Nur in ihr kann man zu wahrem Menschsein erwachen.

Für Eckhart sieht sich der Mensch im Ich getrennt von anderen Seelendingen oder von anderen »Ichen«. Wer sich diesem Drang aber dereinst zu entziehen vermag, der wird auch zur Stille seines ungeteilten Wesens zurückfinden – etwas, worin echter Segen liegt. Erst aber wenn alles Wünschen und Sehnen, alles Wissen- und Sehenwollen verschwunden sind, wird dieser einige Urgrund als wahrer Kern unseres Wesens erlebt.

Was dieser einige Urgrund ist, lässt sich letztendlich nicht beschreiben, ist die Beschreibung einer Sache doch immer weniger, als das Beschriebene selbst. Was dieser Urgrund aber sein könnte, das ließe sich höchstens herleiten aus dem, was er nicht ist. Denn als Einheit, kann er nicht das sein, was unsere Seelen als die Welt des Daseins empfinden. Sie nämlich ist die Vielfalt und Mannigfaltigkeit, aller gezeitigten Dinge, die voneinander unterschieden und daher immer getrennt existieren. Wenn jener einige Urgrund aber all das nicht ist, so ist er wohl ein grenzenloses, unbeschränktes, zeitloses und darum ewiges Sein. Was aber räumlich und zeitlich begrenzt ist, ist letztendlich auch dem Leid unterworfen. Das unbegrenzt Ewige aber kann darum nur als vollkommene Seligkeit erfahren werden.

Sobald wir uns durch solche Beschreibungen ein Bild von dem machen, was wir hier als den einigen Urgrund allen Seins bezeichnen: haben wir uns da nicht bereits aus ihm herausbewegt? Doch auch das würde seinen Zweck erfüllen. Schließlich ereignet sich mit diesem Ausgang, ja die Befreiung einer Daseinsform. Und so etwas ließe sich durchaus auch als Wiedergeburt deuten.

Der einige Urgrund, von dem oben die Rede war, kann hierdurch als Quell unseres Daseins erfahren werden, im Wunsch ihn zu erkennen können wir uns ihm nähern, indem wir auf unser Lebensziel zuschreiten. Sobald wir dann diesen Urgrund in uns, als unsere letztendliche Wirklichkeit finden, haben wir das Sein seiner Wirklichkeit, als Grund der Welt gefunden und erfahren. Sein ist Eins.

Zwischen Wagemut und Genialität

So wie der Leser das vielleicht als recht wagemutige Behauptungen empfinden könnte, so muss es auch schon den Zuhörern Meister Eckharts Predigten ergangen sein. Der deutsche Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (1401-1464) hielt Eckhart darum »nicht für jedes Gemüt zuträglich«. Der Meister aber war sich immer der Kühnheit seiner Worte bewusst. Niemand brauchte ihm sagen, dass er in den Köpfen des gemeinen Volkes allenfalls Verwirrung stiftete. Und jene Wahrheiten über die Meister Eckhart schrieb und predigte, schienen höchstens einige kongenialen Geister erfassen zu können.

Könntet ihr mit meinem Herzen erkennen, so verstündet ihr wohl, was ich sage; denn es ist wahr, und die Wahrheit spricht es selbst. […]

Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.

- Aus Predigt 2, Predigt 32

Diese Wahrheit brach schon fast aus seinem Inneren hervor. Nicht aber war sie vielfältig, wie man meinen könnte. Wer das riesige Schriftwerk Meister Eckharts kennt, weiß, das er immer wieder aus einem zentralen Kerngedanken, alle übrigen Sinnzusammenhänge entwickelte, die als Worte, wie aus seiner Seele geboren wurden. Wer diesen Grundgedanken in Meister Eckharts Lehre nicht erkannte, fand sich wohl leicht verstrickt, in einem schier unentwirrbaren Durcheinander von Unklarheiten. In Wirklichkeit aber sah Eckhart, durch seinen tiefen Blick in die Geheimnisse des Göttlichen, alle Vielfalt im all-einigen, unendlichen Sein aufgehoben und zur Einheit zusammengefasst.

Im Wesenskern der menschlichen Seele und dem göttlichen Seinsgrund, erkannte er eine Gleichartigkeit, worin Gott und Mensch einander verbunden sind – wenn auch auf unbeschreibliche, unerfassbare Weise. In jenem Kern fließen Menschsein und Gottsein zusammen. Und so wie sich vom wesentlichen Urgrund, dem Wesenskern allen Seins, eine Ausbreitung der Existenzen ergibt, so wiederum ergibt sich aus ihnen eine einzigartige Mannigfaltigkeit unzähliger Daseinskerne. Sie gleichen Saatkorn und Frucht zugleich, sind Urbilder der werdenden und der entstandenen Dinge. Diese Dinge aber existieren nicht etwa voneinander abgetrennt, sondern bilden gemeinsam ein System. Auch darin bestätigt sich das einige Sein, seine Einheitsnatur.

Die Vielheit aller Wesen sammelt sich somit als Einheit im Universum der geschaffenen Welt, in der sich all die unzähligen Urbilder in der Einheit einer ewigen Welt wiederfinden.

Sein als reines Erkennen

Nicht davon bin ich selig, dass Gott gut ist. Ich will auch niemals danach begehren, dass Gott mich selig mache mit seiner Gutheit, denn das vermöchte er gar nicht zu tun. Davon allein bin ich selig, dass Gott vernünftig ist und ich dies erkenne. Ein Meister sagt: Gottes Vernunft ist es, woran des Engels Sein gänzlich hängt. […] Des Engels Sein hängt daran, dass ihm die göttliche Vernunft gegenwärtig ist, worin er sich erkennt. […] Wenn wir Gott im Sein nehmen, so nehmen wir ihn in seinem Vorhof (des Tempels), denn das Sein ist sein Vorhof, in dem er wohnt. Wo ist er denn aber in seinem Tempel, in dem er als heilig erglänzt?

- Aus Predigt 10

Meister Eckhart bestimmte hieraus zugleich die Zuordnung des Wesen Gottes und des Menschen. Das Sein in Gott, ist reines Erkennen. Und so ruft dieser eine Gott durch sein Erkennen die Dinge ins Sein. Logischer Schluss wäre damit ja, dass je nach Erkenntnisvermögen, etwas oder jemand, entsprechend viel von Gott, vom Einen und vom Einssein mit Gott besitzen würde.

Im absoluten Erkennen ist damit die Einheit Gottes erfasst, aus dem das Sein ausströmt. Was dieses Erkennen erkennt, ist sein eigenes Sein, was es in seinem Spiegelbild erschaut. Darin erkennt das absolute göttliche »Vernunft-Sein« die Urbilder der Schöpfung – das, was der griechische Philosoph Platon die »Ideen« nannte.

Doch bei alle dem, war für Meister Eckhart Gott nicht ein jenseitiges Ideal einer alles bewegenden, tragenden und schöpfenden Weltsubstanz. Vielmehr waren alle Dinge für ihn Gott, aus denen er sich aber auch wieder, bis zum ausdehnungslosen Punkte, jederzeit zurück- und zusammenziehen kann, so dass Gott eben nicht mehr das ist, als was er darin gegenwärtig war. Damit verwendete Eckhart den Gottesbegriff stellvertretend für das eine und reine Sein, worin sich ein ewiger Vorgang von Werden und Entwerden vollzieht. »Gott« ist damit nicht mehr, als ein Name, der allein der religiös-philosophischen Anschauung seines Seins dient.

Dieser eine, ewige Weltprozess aber, bleibt immer nur die eine Seite des »Einen Seins«. Es gibt damit notwendiger Weise auch eine andere Seite. Das ist die ewige Stille, die Eckhart die »Gottheit« nannte – ein in sich ruhendes, kosmisches Potential, aus dem Gott wirkend hervortritt und in dessen Stille »Er« sich auch wieder zurückzieht. Aus der »gottgebärenden Gottheit« geht »Gott« also hervor und fließt auch wieder in sie ein.

So wie aus Gott die Dinge entstehen und aus ihrem Sein wieder in ihn zurückkehren, so wird auch Gott selbst und vergeht wieder, durchläuft eine Entwicklung und hat damit seine Geschichte. Die »Gottheit« hingegen, verharrt in ungetrübter Stille. Darin ist alles eins und daraus werden alle Entwicklungsbewegungen stetig neu hervorgebracht. Der Name »Gottheit« steht damit also für die schöpferische Einheit die den (be)wirkenden, schöpferischen Gott gebiert und in die er sich wieder zurückzieht.

Das Leben, das darum lebt, dass es lebt

Solche feinen Unterschiede, im sprachlichen Kontext zu schaffen, gelang Meister Eckhart anscheinend zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen. Nicht ohne Grund nennt man ihn daher den Begründer der deutschen Prosa. Es war wohl die Klarheit und Einfachheit seiner Sprache, die ihm ermöglichte, solche doch ganz einleuchtenden Schemata zu finden, woraus sich das Göttliche erklären ließ.

Eckharts Theologie war immer experimentell und auch spekulativ. Seine Weisheitslehren aber sind aktuell geblieben und auch heute noch für seine Leser erlebbar. Wer sich daher um eine weltoffene christliche Spiritualität bemüht, ist bei Meister Eckhart an der richtigen Adresse. Er wird ihn begeistern und wird ihn verwirren – doch weder langweilt, noch enttäuscht er den Leser. Der deutsche Mystiker Johannes Tauler (1300-1361) schrieb über ihn:

Er sprach nach der Ewigkeit und ihr nehmt es nach der Zeit

Diese »Zeitigung des Ewigen« erlebt jeder Mensch, immer wieder in seinem Leben. Zuerst zeigt er, sich selbst gegenüber, Bereitschaft, sich von Gewesenem zu lösen. Das setzt aber eine temporäre Abgeschiedenheit voraus, die aber keinen Zwang darstellen darf, sondern einen freiwilligen Rückzug, voll Gelassenheit und Annehmen des Seins, wie es eben gerade ist.

Nicht zu vermeiden ist der Schmerz, denn jeden Wachstumsprozess begleiten bekanntlich individuelle Leiden. Und zwar so lange, bis von allem Unbrauchbaren abgelassen wurde, alte Verkrustungen abgeworfen und aus den Schalen alter Ängste entledigt, ein Mensch das Wesentliche im eigenen Leben erhält. Erst dann kann er in ein neues Leben »geboren werden«, durch eine Transformation, wo er vom Dunkel zurück ins Licht schreitet. Dann erlangt er eine Fruchtbarkeit, aus der Neues hervorgeht und sich die Wirkungen des Handelns auf erwünschte Art und auch zum Wohle anderer manifestieren: Voraussetzung für jeden Erfolg im Leben.

Niemals aber behauptete Meister Eckhart, seine Schriften und predigten könnten jedem Sucher tatsächlich den Weg zu Gott weisen – weniger noch wolle er das!

Es gibt keine Anleitung zur Erkenntnis, zur Erleuchtung und weniger noch zum Gottfinden. Vielmehr lag ihm daran, den Zuhörern und Lesern seiner Predigten und Traktate, zum Durchbruch zu verhelfen, das heißt, jemandem, der einen langen Weg der Selbstfindung hinter sich hat, zur Entscheidung zu verhelfen. Es lag ihm aber daran, die Menschen aus dem Starrsinn ihres Alltagsbewusstseins hinauszustoßen.

Meister Eckhart wollte das Wesentliche im Menschen in eine Welt des freien Geistes entbinden, auf das jemand zu einem tätig-nützlichen Diener der Gemeinschaft werde.

Das alles war, in unbeirrbarer, leidenschaftlicher Entschlossenheit, Meister Eckharts beständiges Bemühen.

 


 

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Eine Chimäre in der Geschichte der Mystik: Bernhard von Clairvaux

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Bernhard von Clairvaux - ewigeweisheit.de

Um sich ein Bild zu machen, von dem französischen Mystiker und Heiligen Bernhard von Clairvaux, muss man ihn im geschichtlichen Kontext des 12. Jahrhunderts sehen. Europa befand sich damals in einer Phase gewaltiger Umbrüche. Wer in jenen Tagen an der Spitze der theologischen Geistesschulen stand, dessen Denken reflektierte unweigerlich die Verstimmtheit seiner Zeit.

Bernhard von Clairvaux setzte als Mönch und Prediger wichtige Zeichen, die auf die Geschicke der abendländischen Kultur direkten Einfluss ausübten. Viele schicksalhafte Fügungen, über die wir aus den Chroniken dieser Zeit erfahren, schienen auf sonderbare Weise mit Bernhard und den ihm nahestehenden Personen verquickt gewesen zu sein.

Es war die Zeit, als Nachrichten nach Europa kamen, über die Blüte einer fremden Hochkultur im Morgenland. Mathematik, Philosophie, Physik, Metaphysik, Medizin, Architektur und die schönen Künste, erlebten dort gerade ihr Goldenes Zeitalter und waren dem abendländischen Geistesleben in vielen Dingen überlegen. In Europa aber schien man davon nur zu ahnen – vielleicht aber auch nichts wissen zu wollen, denn die christlichen Heiligtümer von einst, bewachten jetzt die Fürsten jener unbekannten Religion, wo man angeblich einen Götzen Namens Mahomet anbetete. Das gemeine Volk wusste nicht, dass das kein falscher Gott, sondern der Prophet einer noch jungen Religion war, des Islam – in dem Juden und Christen das »Volk des Buches« genannt werden und die, wie auch Muslime, die spirituellen Nachkommen des Propheten Abraham sind. Sehr wahrscheinlich jedoch wusste Bernhard von Clairvaux sehr wohl wie es um diese Religion stand.

Zwischen Geistlichem und Weltlichem

Bernhard war ein frommer Mönch mit außergewöhnlichen spirituellen Fähigkeiten. Immer aber beschäftigten ihn auch weltliche Belange. Unzählige Widersprüche zankten offenbar im Verborgenen seiner Persönlichkeit. Als eigentlicher Verkünder des Friedens, führte er nicht nur die Christen seiner Zeit näher an ihren Glauben, sondern außerdem tausende Ritter, die wenn nötig, auch im Namen ihres Herrn sterben würden.

Bernhard wurde 1090 als Sohn burgundischer Adeliger geboren. Als er mit 22 Jahren seiner Familie erklärte Mönch zu werden, erstarrte sie in Fassungslosigkeit. Doch es kam noch besser, denn mit ihm zogen vier seiner Brüder ins nahegelegene Zisterzienserkloster Cîteaux ein. Auch viele seiner Freunde folgten ihm 1112 dorthin nach und wurden ebenfalls Mönche. Bernhard verstand es seine Mitmenschen ihrem wahren Wesen nach zu erkennen, sie so zu sehen wie sie wirklich sind, mit all ihren Anfälligkeiten und Versuchungen. Das schienen seine Zeitgenossen an ihm zu lieben und sich darum auch für seine spirituellen Ideen zu begeistern.

1115 entsandte der Abt des Klosters Cîteaux, Stephen Harding (1060-1134), Bernhard im Gefolge 12 anderer Mönche, nach Vallée d'Absinthe. Dort sollte er ein neues Kloster gründen, dem Bernhard den Namen Claire Vallée gab, woraus schließlich »Clairvaux« wurde.

Als Abt dieses neu gegründeten Klosters, verfasste Bernhard dort seine inspirierenden Schriften. Man könnte sagen, dass die Geschichte der Christlichen Mystik mit diesem Abt von Clairvaux begann. Seine persönliche Anziehungskraft, wegen der ihm schon seine Geschwister und Freunde gefolgt waren, sollte noch über größere Kreise hinweg wirken. Denn um den begnadeten Prediger von Clairvaux zu hören, besuchten Menschen aus ganz Europa sein Kloster. Wegen seiner bemerkenswerten Kenntnis der Heiligen Schrift, die er so wundervoll zu predigen vermochte, nennt man ihn auch den Doctor Mellifluus – den »honigfließenden Lehrer«.

Bernhard war im Stande auch die innere Bedeutung der Heiligen Schrift zu enthüllen, ihr Flügel zu verleihen und zum Leben zu erwecken. Er konnte auch in Anderen, die seine Predigten hörten oder lasen, ein wirkliches Empfinden der Bibeltexte entfachen. Doch dies gelang ihm nur, da das der echte Ausdruck seiner persönlichen Empfindung war – etwas, dass er an mystischer Erfahrung selbst erlebt hatte.

Im Mittelpunkt abendländischer Geisteskultur

Die Klöster Clairvaux und Cîteaux gediehen im 12. Jahrhundert zu einem spirituellen Zentrum, in dem die geistigen Kräfte des abendländischen Zeitalters zusammenliefen. Von hier aus prägte Bernhard von Clairvaux in seinem Wirken, ein halbes Jahrhundert europäischer Geschichte.

Sein gewaltiger Einfluss reichte in die Ränge des Vatikan und die Politik seiner Zeit. Er war Mentor von Päpsten und diente den Fürsten seines Landes als Berater. Aus dem Kreise seiner Familie stammte auch der Adlige Hugo von Payens (1070-1136) – der dann der erste Großmeister des Ordens der Templer sein sollte – für den Bernhard noch eine sehr wichtige Rolle spielte.

Die große Wirkung seiner spirituellen Betätigung, hinterlies ihre Spuren in den Gemütern ganz Europas. Dereinst sollte sogar der Papst ihn bitten, die Bildung eines der einflussreichsten Ritterorden der Geschichte voran zu treiben: Der Orden der Tempelritter. Seine Lobreden auf diesen christlichen Ritterorden und das Regelwerk das er für seine Mitglieder erschuf, sollte bald zum Ideal der abendländischen Aristokratie werden. Unter Bernhards Einfluss, gewannen die Templer immer mehr Mitglieder. Durch seine Predigt-Reisen rekrutierte er überall in Europa junge Adlige, die sich diesem neuartigen ritterlichen Mönchsorden anschlossen. Doch dazu später mehr.

Mystik des Heiligen Bernhard

Wenn man sich heute an Bernhard von Clairvaux erinnert, denkt man nicht zuerst an seine Kreuzzugspredigten, als eher an seine Spiritualität.

Bernhards Begabung als Mystiker war bemerkenswert. In 120 Predigten, die auch schriftlich niedergelegt wurden, schuf er einen Schriftkorpus, mit dem er die Angehörigen seines Ordens in das christliche Mysterium einweihte. Den wichtigster Teil seines Werkes bildet wohl das De Diligendo Deo – Über die Gottesliebe – und die Sermones super Cantica Canticorum – die Predigten über das Hohelied Salomos.

Seine Spiritualität stellte allerdings auch einen Gegenpol zur wissenschaftlichen Rationalität dar, die in der scholastischen Theologie, zu seiner Zeit viel Zustimmung fand.

Der Glaube der Frommen vertraut, er diskutiert nicht.

- Bernhard von Clairvaux

Statt das Wesen Gottes in einer Dialektik zu entzweien, versuchte Bernhard seinen Schülern das zu vermitteln, was man die Unio Mystica nennt, die mystische Liebesvereinigung der menschlichen Seele mit Gott. Dies gelang ihm in der sogenannten Brautmystik, die er aus den Versen des Hohelied Salomos entwickelte.

Für Bernhard bildete die menschliche Seele ein Ebenbild zu Gott. Dadurch war sie – und somit auch jeder Mensch – zur Unio Mystica mit Gott befähigt. Dank dieses angeborenen Seelenadels, bestand für jeden Menschen Zuversicht, durch seine Gottesliebe, den Wunsch nach Erlösung aus weltlichem Schmerz, letztendlich sich auch selbst erfüllen zu können.

Doch nicht jedem war diese hohe Form der Spiritualität zugänglich. Die in seinen Predigten verwendeten Gleichnisse, konnten darum den meisten seiner Zuhörer, nur eine erste Ahnung vom esoterischen Gehalt seiner Lehre vermitteln.

Hochzeit von Christus und der Kirche – ewigeweisheit.de

Die Mystische Hochzeit zwischen dem Christus und den Menschen der Gemeinde. Aus einem Buch des Herzogs von Berry (15. Jahrhundert).

Menschliche Seele - Göttliche Braut

In der wundervollen, liebeslyrischen Sprache des Hohelieds Salomos, erlebt der Leser einen erotischen Wechselgesang, wo es um die leidenschaftliche Hingabe eines Liebespaares geht: der jungen Königin von Saba und dem König Salomo. Der heilige Bernhard fand im Hohelied eine höhere Erzählebene, auf der er die ultimative Liebe zwischen Gott und seinem auserwählten Volk erfährt, was er letztendlich übertrug auf die Liebe zwischen Christus und seiner bräutlichen Kirchengemeinde.

Diese sogenannte Brautmystik, ist jedoch keineswegs nur allegorisch zu verstehen, sondern meint das betont körperbezogene Erleben des Lesers, während seiner Meditation über die Zeilen des Hohelieds. Es befähigt den Betenden, die darin verdichtete Weisheit in seinem Verstand so aufzunehmen, dass sie sich mit seinem emotionalen Empfinden auch tatsächlich begreifen lässt. Denn Bernhard galt Theologie nicht etwa nur als abstrakter Versuch die Wahrheit zu finden. Eher versuchte er durch seine Predigten tatsächlich seine Zuhörer auf einen spirituellen Pfad zu führen, wobei er durch seine mystische Sprache, in den Seelen aller Anwesenden, eine Liebe zu entfachen vermochte die ihnen gar das Empfinden einer heiligen Kommunion mit Gott vermittelte.

Inmitten seines Gebets träumt er (der Betende) von Gott. Was er da sieht ist (zwar nur) eine schummrige Spiegelung, kein Traumbild Auge in Auge. Doch selbst wenn es nur eine vage Ahnung ist, und kein echtes Sehen, vernimmt er den flüchtigen Anblick einer funkelnden Pracht vollkommenster Vorzüglichkeit, wobei er in Liebe entflammt und spricht: 'Von Herzen begehre ich dein des Nachts; dazu mit meinem Geist in mir wache ich früh zu dir (Jesaja 26:9).'

Eine Liebe wie diese ist voller Leidenschaft. Es ist eine Liebe, die die Freundin des Bräutigams wird, Liebe, die die treu ergebene und kluge Dienerin inspiriert, die der Herr für seine Familie (die Gemeinde der Kirche) bestimmt. […]

Letztendlich ist Gott selbst Liebe, und nichts Erschaffene kann befriedigen, den in Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen, außer dem, nur ein Gott der Liebe ist, der alleinig über allem Geschaffenen steht.

- Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied) 18:6

Wie die erotische Kraft eines sehnsüchtig Liebenden, schirrte er in Anderen eine Fähigkeit an, die sie zur spirituellen Reflexion führte. Immer schon war die erotische Allegorie ein Mittel der Initiation durch das Wort, was etwa auch im Buch Genesis erfolgte, wo spirituelles Erkennen und der Akt körperlicher Liebe, als synonyme Ausdrücke verwendet werden (Genesis 4:1).

Lectio Divina: Gebet in Meditation

Einer der rituellen Bestandteile des täglichen Klosterlebens ist die meditative Gebetspraxis. Mönche lesen dabei aufmerksam bestimmte Abschnitte aus der Bibel, worüber sie dann meditieren. Hierzu wählt ein Mönch einen bestimmten Vers aus der Heiligen Schrift, zum Beispiel einen Psalm, den er beständig wiederholt und leise vor sich hinmurmelt. Während dieses Lesens vernimmt der Betende das Wort Gottes, über das er dabei meditierend nachsinnt und aus dem gelesenen Bibelvers eine Antwort auf diese Anrede Gottes erhält.

Die Aufgabe der Mönche besteht nun darin, während ihrer geflüsterten Bibellektüre, dem Klang ihrer Stimme nachzuspüren. Damit machen sie aus der Heiligen Schrift etwas Lebendiges. In der Kontemplation über das biblische Wort, bewegt sich die Seele des Meditierenden dabei in geistigen Dialog mit Gott.

In dieser intensiven Beschäftigung mit den Versen der Heiligen Schrift, werden sich die Mönche der tieferen Bedeutung des Wortes gewahr. Allmählich beginnt der Betende, der im Bibelwort enthaltenen Weisheit voll bewusst zu werden, fängt an, eine Art Süße aus dem Text herauszulesen. Er beginnt sozusagen zu schmecken, was er in der Heiligen Schrift liest, löst er in seiner Lektüre der Zeilen doch ein Mysterium.

Zu lesen, bedeutet auch einer Spur zu folgen. Einer Spur folgt auch der Winzer beim Lesen der Trauben vom Rebstock. Auch die Bienen in den Weinbergen folgen ihren Spuren, wenn sie die Blüten beehren. Ihre Lust ist es deren Nektar auszulösen, während sie sie bestäubt, damit in Zukunft auch die Nachkommen ihres Volkes wieder blüten aufsuchen werden.

Ein »Honigsammler« war auch der Heilige Bernhard, der den Spuren der Wörter der Heiligen Schrift folgte. Immer wieder sucht er ihre Buchstaben auf, um die darin enthaltene Süße auszulesen.

So wie Speise dem Gaumen süß ist, so schmeckt der Gesang der Psalmen dem Herzen. Doch die Seele, die inniglich weise ist, darf nicht unterlassen, ihn (den Psalm) sozusagen mit den Zähnen der Einsicht zu zerkleinern, denn wenn sie ihn in einem Brocken herunterschlingt, würde der Gaumen um den köstlichen Wohlgeschmack betrogen werden, der süßer ist als Honig der aus der Wabe fließt. Drum lasst uns beim himmlischen Gastmahle mit den Aposteln Honigwaben darbringen, auf die Festtafel des Herrn. Denn so wie Honig aus der Wabe fließt, soll aus der Schrift Ehrerbietung fließen (Hohelied 4:10f). Sonst nämlich, wenn du die Schrift ohne die Würze des Geistes hinunterschlingst, bleiben da nur Buchstaben toter Schrift zurück.

- Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied) 7:5

Vom Schweigen über die Geheimnisse

Dem Heiligen Bernhard war bewusst, dass er in seinen Interpretationen gewiss Zurückhaltung wahren musste. Denn nicht jeder war mit dem angemessenen Bewusstsein ausgestattet, so großen spirituellen Themen wie der Heiligen Hochzeit, überhaupt gewachsen zu sein. Er wusste, dass das im Hohelied Salomos beschriebene Mysterium, durchaus vor Missverständnissen und Missdeutungen geschützt bleiben musste.

Bernhards in lateinischer Sprache verfassten Predigten über das Hohelied, waren nur jenen vorbehalten, die das nötige Bewusstsein besaßen, um seine Worte auch wirklich zu begreifen. Dazu gehörten wohl zuerst die Mönche des Klosters Clairvaux. Wen dann die Praxis der Lectio Divina, zu einem wahren spirituellen Leben befähigte, der brachte wohl auch die notwendige Verantwortung mit, die Bernhards Schriften ihren Lesern abverlangen.

Die Anweisungen, mit denen ich mich an euch wende, meine lieben Brüder, sollten sich von denen unterscheiden, die ich den Menschen in der Welt überliefere, zumindest die Art und Weise ist eine andere. Wer als Priester der Methode des Heiligen Paulus folgen will, gibt ihnen eher Milch zu trinken, als dass er ihnen feste Nahrung serviert (die sie nämlich nicht verdauen können) und serviert nahrhaftere Kost jenen, die spirituelle Erleuchtung erlangten: 'Und davon reden wir', so sprach er (der Heilige Paulus), 'auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen (1. Korinther 2:13).' Und wieder: 'Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen (1. Korinther 2:6)', in deren Gemeinschaft, davon bin ich überzeugt, man euch findet, es sei den, dass euere Studien der göttlichen Lehren nicht anhielten, euere Sinne verendet sind, und ihr Tag und Nacht im Sinnen über das Gesetz Gottes verbrachtet. Daher seid bereit dazu euch eher vom Brot zu nähren, als von der Milch. Salomon hat vortreffliches Brot für euch, dass gar köstlich ist. Es ist das Brot eines Buches, dass man das 'Hohelied' nennt. Lasst es uns brechen, wenn ich bitten darf, und so verkünden.

- Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied) 1:1

Rosen vor die Säue – ewigeweisheit.de

Ausschnitt aus einem Gemälde Pieter Brueghel des Älteren: Die niederländischen Sprichwörter (1559). Hier wirft einer Rosen vor die Säue - verschwendet etwas Kostbares an Unwürdige.

Worauf sich Bernhard hier bezieht ist die Arkandisziplin: der Grundsatz, nur im Kreise Eingeweihter über Geheimnisse zu sprechen. Denn Esoterik darf nichts Profanes werden, nicht zu Allerweltlichem verkommen und

die Perlen nicht vor die Säue geworfen werden.

- Matthäus 7:6

Und doch kann der, der Geheimnisse durch Allegorien und Metaphern verkündet, sich einer möglichen Auskunft nicht ganz versagen. Doch was er weiß, sind die ihm gesetzten Grenzen, die ein Uneingeweihter nicht kennt. Der spricht was ihm sein Wunsch nach Wichtigkeit gebietet.

Auf der anderen Seite, ist die Wissbegierde der meisten Menschen doch eher oberflächlich. Ein Wissender sollte also zuerst versuchen, neugierige Fragen in ihrer Bedeutungslosigkeit zu entlarven. Denn je wissensdurstiger jemand auf esoterisches Wissen ist, desto mehr zeigt das seine spirituelle Unreife.

Jesus ließ die meisten Menschen über die Bedeutung seiner Gleichnisse im Unklaren. Nur im Kreise der Zwölf, machte er den Grund dafür bekannt:

Euch ist's gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Himmelreichs, diesen aber ist's nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht. Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt (Jesaja 6,9-10): 'Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit ihren Ohren hören sie schwer, und ihre Augen haben sie geschlossen, auf dass sie nicht mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, dass ich sie heile.' Aber selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören.

- Matthäus 13:11-1

Es bedarf einer gewissen Seelenhygiene, die ein Mensch erst im Laufe seines Lebens entwickeln muss – vorausgesetzt, er befasste sich über lange Zeit damit, was seinem Seelenleben gut tut. Erst dann ist einer dazu befähigt, aus seinem esoterischen Wissen anderen mitzuteilen. Es kann einer eben nur so weit andere führen, wie er schon selbst fortgeschritten ist. Was darüber hinausgeht, ist gefährlich – besonders dann, wenn einer zur Masse spricht. Wer ohne die entsprechende Erfahrung über die Bedeutung der Geheimnisse spricht, setzt damit nicht unbedingt seine eigene, gewiss aber die Sicherheit anderer aufs Spiel.

Du könntest alle Geheimnisse kennen, du könntest die Größe der Erde kennen, die Höhen des Himmels und die Tiefen des Meeres: Doch wenn du dich selbst nicht kennst, würdest du jemandem gleichen, der ohne Fundamente eine Ruine, statt eines Gebäudes errichtete. Alles was du außerhalb deiner selbst aufrichtest, wird wie ein Staubhaufen sein, der dem Wind preisgegeben ist. Keiner ist also weise, der nicht über sich selbst Bescheid weiß. Ein Weiser wird in Weisheit über sich selbst informiert sein, und er trinkt auch als Erster aus der Quelle seiner eigenen Wasserfülle.

- De Consideratione (Über das Nachdenken) II:3:6

Das schrieb Bernhard circa 50 Jahre nach dem ersten Kreuzzug. Papst Urban II. jedoch schien solchen Nachdenkens zu entbehren, als er 1095 zum Ersten Kreuzzug aufrief. Denn was sich damit von Frankreich in Richtung Palästina aufmachte, war ein unorganisierter Mob, gemeinen, ungebildeten Volkes.
Bereits in Ostfrankreich kam es zu Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung. Solcher Art Pogrome zogen sich entlang der Kreuzfahrerroute bis in Heilige Land. Im syrischen Maarat an-Numan, sollte der Erste Kreuzzug seinen Höhepunkt an Grausamkeit annehmen, wo die barbarischen Kreuzfahrer in ihrer Hungersnot, sogenannte Ungläubige aufspießten und geröstet fraßen. Das berichtete der normannische Radulf von Caen (1080-1120) in seiner Kreuzfahrer-Chronik.

Ob der Heilige Bernhard von diesen Schreckenstaten wusste? Ignorierte er die Grausamkeiten und die unzähligen Menschen die auf dem Kreuzzug umkamen, auch die vielen Christen die aus Unwissenheit der Kreuzfahrer einen so erbärmlichen Tod fanden?

Abaelard und Heloise – ewigeweisheit.de

Abaelard und Heloise in einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert.

Wozu Bernhard außerdem fähig war

Die Äbtissin Heloise (1095-1164) vom französischen Frauenkloster Le Paraclet, könnte sehr wohl in Bernhards Werken und Wirken eine nicht unbedeutende Rolle eingenommen haben. Zu der nur fünf Jahre jüngeren Nonne, hatte Bernhard über lange Zeit Kontakt gepflegt und die beiden standen wohl auch in spirituellem Austausch.

Zwischen 1116-1118 traf Heloise den Mönch Pierre Abaelard (1079-1142). Er war zuerst ihr Lehrer, doch die beiden verliebten sich. Heloise wurde schwanger. Als Nonne aber war sie nun gezwungen ihr Kind im Geheimen zur Welt zu bringen. Abaelard wurde heftig bestraft. Viele Texte der Literatur des Hochmittelalters schrieben über diese verbotene, tragische Romanze.

In Briefen an Abaelard sprach Heloise interessanterweise auch das Hohelied Salomos an. Und da sie immer auch in Verbindung stand zu Bernhard von Clairvaux, liegt die Vermutung nahe, dass die Inspiration zu seinem Kommentar zum Hohelied, vielleicht auch mit ihr zu tun hatte. Dafür gibt es bisher keine genauen historischen Belege. Es bleibt also eine Vermutung. Bestätigt aber ist, dass Bernhard von der Liebesaffäre zwischen Heloise und Abaelard wusste. Doch nie sprach er darüber öffentlich.

Es scheint Bernhard aber gequält zu haben, von dieser Liebschaft zu wissen. Denn es war fast absurd, wie vehement er sich gegen die Lehren Peter Abaelards wandte. Der nämlich vertrat eine Philosophie der Vernunft, wo nicht-religiöse philosophische Techniken, zur Erklärung des Glaubensbegriffes zur Anwendung kamen. Das galt Bernhard als vollkommenes Absurdum. Denn jene mystische Liebe, die ein Gläubiger gegenüber Gott in der Unio Mystica erfährt, sei auch durch wissenschaftliches Hinterfragen nicht zu erklären. Abaelards Rationalismus und seine Mittel zur methodischen Wahrheitsfindung erschienen Bernhard darum einfach zwecklos. Für ihn war christlicher Glaube nur im Herzen zu erfahren. Bernhard glaubte, dass wer durch Verstandesdenken einen Beweis für die Existenz Gottes logisch herzuleiten gesuchte, nichts als nur den Teufel fand.

Bernhard erschien Abaelars Philosophie aber sogar als Angriff auf seinen christlichen Glauben. Und durch sein Drängen, verwarf die Katholische Kirche Abaelards Lehren sogar als Häresie, für die dieser vor dem Konzil von Sens (1141) der Ketzerei angeklagt wurde. Ein Gerücht behauptet, Bernhard hätte die Anwesenden trunken gemacht, um sie leichter zu ihrem Urteil gegen Abaelard zu bewegen. Schließlich verurteilte man Abaelard später zu einer Klosterhaft und ewigem Schweigen. Seine philosophischen Schriften wurden sogar öffentlich in Rom verbrannt!

Nach Abaelards Tod in 1142, führte Heloise als Äbtissin, noch für 20 Jahre das Kloster Paraclet. Trotz der Tragödie um Abaelard, hielt sie in dieser Zeit weiter Kontakt zu Bernhard von Clairvaux. Auf Heloisas Bitten hin wurde Abaelards Leichnam in ihr Kloster überführt, wo sie dann auf eigenen Wunsch, nach ihrem Tod neben Abaelard bestattet wurde.

Aufruf zum Zweiten Kreuzzug

Während all dieser Jahre schien das Heilige Land in sicherer Hand des dort residierenden christlichen Adels. Doch im Jahr 1144 wurde die Kreuzfahrerstadt Edessa erobert und fiel an die Türken. Der Emir Imad ad-Din Zengi (1087-1146) stürmte die Festungsstadt im Gefolge von 30.000 Soldaten. Er war der Legende nach ein Sohn der Markgräfin Ida von Österreich. Zengis Truppen mordeten alle Bewohner der Stadt in einem grausamen Gemetzel.

Die Nachricht von der Einnahme Edessas durch die Ungläubigen, zwang die Könige und Fürsten der anderen vier Kreuzfahrerstaaten (Königreich Jerusalem, Fürstentum Antiochia und die Grafschaft Tripolis) zum Handeln. Darum entsandte Prinz Raimund von Antiochien seinen Bischof Hugo von Jabala nach Rom, wo er 1145 Papst Eugen III. vom Fall Edessas berichtete. Einer der Anwesenden dabei war auch der deutsche Chronist Otto von Freising. Ihm erzählte Bischof Hugo in Gegenwart des Papstes, von einem nestorianischen Christen, der im fernen Osten als mächtiger Herrscher regiere: Priesterkönig Johannes von Indien. Er sollte ein Nachfahre eines der Heiligen drei Könige sein, der sich anscheinend mit einem riesigen Heer nach Jerusalem aufmachte, »vor nicht all zu langer Zeit« wie es hieß, um das Heilige Land vor der Hand der Ungläubigen zu erretten.

In diesem Jahr noch, rief Papst Eugen III. zum Zweiten Kreuzzug auf. Doch diesem Aufruf schienen nur wenige der europäischen Fürsten überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. Darum wandte er sich an Bernhard von Clairvaux, seinen einstigen Lehrer: Er sollte den Kreuzzug predigen. Das weltliche Gepränge am päpstlichen Hof und all die politischen Machenschaften des Vatikan waren Bernhard allerdings zutiefst zu wider. Es muss ihn dennoch gedrängt haben, seine geistlichen Nachkommen, vor einem aus der Ferne bedrohenden Unbekannten zu schützen – vor einem fremden Gottesglauben, von dem keiner ahnte, wofür er eigentlich stand. Und so wurde Bernhard von Clairvaux auf einmal zum Organ des Vatikan und zum Prediger eines weiteren Kreuzzugs berufen. Er sollte den Eifer einer neuen Ritterschaft anschirren, durch seine Predigten und die von ihm verordneten Ordensregeln.

Bernhard wandte sich mit seinen Predigten aber gezielt an den Adel, um eine Wiederholung eines neuen Volkskreuzzuges zu vermeiden. Auf den Ritter-Haudegen von einst, sollten nun Tugenden und christliche Pflichten angewendet werden, um aus diesen alten Kämpen des Ersten Kreuzzugs, nun wahre Edelleute zu machen. Vor allem aber, und das hatte es bisher nicht gegeben, sollte dieser neue Orden in sich Rittertum und Mönchtum vereinigen.

Aus den Kreisen der Aristokratie, rekrutierte Bernhard die Mitglieder dieses neuen geistlichen Ordens, der vermutlich von Mitgliedern seiner Familie 1118 in Jerusalem ins Leben gerufen wurde. Denn einer der neun Gründungsmitglieder war Andreas von Montbard (1103-1156), ein Onkel Bernhards.

Tempelritter – ewigeweisheit.de

Der Orden der Templer: Mönchsritterschaft der Katholischen Kirche.

Bernhard von Clairvaux: Mentor des Templerordens

Unter den Heimkehrern vom Ersten Kreuzzug befand sich der französische Adlige Hugo von Payens, den man in Frankreich als Helden feierte. Er sollte erster Großmeister einer Gruppe von Edelleuten sein, die sich als Wächter des Jerusalemer Tempelbergs, zu einem außergewöhnlichen Orden organisierten. Sie nannten sich die »Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem«.

Für diesen neu gegründeten Orden sollte Bernhard von Clairvaux schon bald eine ganz bedeutende Rolle spielen. Denn auf Bitten von Hugo von Payens, verfasste Bernhard seine berühmte Mahnrede an die Templer.

Es ist gut möglich, dass sich Bernhard und Hugo von Payens schon begegnet waren, als Bernhard noch ein Kind war. Denn sowohl die Gründungsmitglieder der Templer als auch Bernhard von Clairvaux, stammten aus den selben Kreisen des mittelalterlichen Adels in Frankreich.


Alles was Bernhard in seinem Leben tat, geschah immer aus vollem Herzen. Wenn er nun also den Zweiten Kreuzzug predigte, schwelgte er dabei in der selben christlichen Überzeugung, wie in seinen Predigten vor seinen Klostergenossen. Er meinte sogar, dass im Namen Christi zu töten, keine Sünde sei.

Vielleicht wäre ihm zuerst lieber gewesen, dass sich durch seine Predigten mehr Menschen einem christlichen Klosterleben verschrieben hätten, doch naheliegender schien ihm in dieser Zeit, jene Vereinigung von Mönch- und Rittertum, was er in seiner Mahnrede an den Orden der Templer addressierte:

Aber wenn beide Menschen (Mönch und Ritter) in einer Person, ein jeder sich kraftvoll mit dem Schwert umgürten […], wer würde einen solchen nicht aller Bewunderung für höchst würdig erachten, zumal es sich ja um Außergewöhnliches handelt? Ein solcher ist jedenfalls ein unerschrockener Ritter, allenthalben gefeit; er umgibt seinen Leib mit der Rüstung aus Eisen, seine Seele aber mit der des Glaubens. Da er nun durch beiderlei Waffen geschützt ist, fürchtet er weder Teufel noch Menschen. Nicht einmal vor dem Tode fürchtet sich der, der sich zu sterben sehnt. Denn was könnte der im Leben oder im Tode fürchten, dem Christus Leben und Sterben Gewinn ist? […] Schreitet also sicher voran, ihr Ritter, und vertreibt unerschrocken die Feinde des Kreuzes Christi in der Gewissheit, dass weder Tod noch Leben euch von der Liebe Gottes trennen kann, die sich in Christus Jesus offenbart. In jeder Gefahr wiederholt für euch das Wort: 'Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn (Römer 14:8)'

- Aus dem Buch an die Tempelritter von Bernhard an Clairvaux

Unter der Führung Bernhards von Clairvaux fand am 13. Januar 1129 die Synode von Troyes statt, bei der auch Hugo von Payens und Andreas von Montbard anwesend waren. Hierbei erhielt der Templerorden seine offizielle Anerkennung durch die Katholische Kirche und bekam feste Ordensregeln. Zu diesen Regeln lieferte Bernhard einen ganz wesentlichen Beitrag. In der damit verfassten Urkunde wurde auch explizit auf die Anwesenheit von Payens und Montbard hingewiesen.

Nach dem Aufruf zum Zweiten Kreuzzug durch Papst Eugen III. begann dann nach 1145 Bernhards kirchenpolitische Vermittlertätigkeit. Dank seiner Unterstützung bei der Rekrutierung neuer Mitglieder, wurde aus dem erst winzigen Templerorden von gerade mal neun Mitgliedern, in nur kurzer Zeit eine ganze Armee! Es dürfte darum kaum verwundern, dass das großes Gefallen fand – sowohl im Vatikan als auch im europäischen Adel.

Ein versiegeltes Geheimnis

Mit dem bisher Gesagten, scheint Bernhard weit mehr als nur Mönch gewesen zu sein. Fast könnte man ihn als Vorboten eines neuen Zeitalters bezeichnen. Dann aber war er sicher eine Doppelgestalt – ein Prophet sowohl des Lichts wie auch der Finsternis.

Diese chimärenhafte Erscheinung Bernhards und sein Einfluss auf den Templerorden, führte in zeitgenössischer Literatur auf eine Unmenge an Verschwörungstheorien. Doch zu solchen Vermutungen kommt ohnehin sehr schnell, wer von den vielen Querverbindungen zu Kirche, Adel und Mysteriengeschichte erfährt, die einem gemeinsam mit dem Namen »Templer« begegnen.

Das liegt wohl daran, dass der Einfluss der Templer über zwei Jahrhunderte eine ganz wesentliche Rolle spielte, in der spirituellen und politischen Entwicklung der damals bekannten Welt. Auch die vielen Widersprüche, für die der Templerorden steht, gab manchem Anlass viel über die Geheimnisse dieser Bruderschaft zu spekulieren.

Eines der wichtigsten Themen die einem bei der Recherche immer wieder begegnet, ist die Frage, ob die Kreuzzüge, neben ihrem offiziellen Grund, auch eine okkulte Bedeutung hatten. Weit verbreitet ist eine Annahme, dass diese »Arme Ritterschaft Christi« Ausgrabungen im Tempelberg durchführte, um nach etwas zu suchen, dass sich einst unter dem Salomonische Tempel befunden haben soll. Worum es sich dabei handelte ist nicht endgültig klar.

Wie uns aus den Büchern der hebräischen Bibel überliefert wurde, stand im Heiligtum des Salomonischen Tempels eine heilige Lade, worin sich besondere Gegenstände befanden. Sie soll die Israeliten einst mit großer Macht ausgestattet haben. Damit nämlich teilten sie das im Buch Exodus beschriebene Schilfmeer und ließen mit der Kraft die aus dieser Lade strömte, die Mauern von Jerichon einstürzen.

Von Jerusalem aus, so wollen es manche Schriftsteller, sollte die Lade dann von Hugo von Payens nach Chartres in Frankreich gebracht worden sein, wo sie im Fundament der dortigen, neu gebauten gotischen Kathedrale integriert wurde. Dazu sandte sie angeblich Bernhard von Clairvaux aus, um das heilige Reliquium aus dem Heiligen Land nach Frankreich zu bringen. Sicher aber sollten die Templer im Heiligen Land von den Muslimen überhaupt die Bildung erhalten, solch umfangreichen Unternehmens überhaupt fähig zu sein.

Das die Templer tatsächlich sehr mächtig waren, bleibt unbezweifelt. Schließlich gründet sich auf ihrem bargeldlosen Zahlungsverkehr das moderne Bankenwesen. Das machte sie zur reichsten Organisation der gesamten damals bekannten Welt. Ihr Einfluss und ihr Vermögen war so groß, dass manch Monarch ihren Besitz neidisch beäugte. Da sie außerdem im Geheimen Rituale praktizierten, die nicht dem Regelwerk der katholischen Kirche entsprach, sollte das jenen Neidern dienen, sie dereinst wegen ketzerischer Machenschaften zu überführen. In Wirklichkeit aber waren diese nur auf den Besitz der Templer aus.

Seltsam nun, dass dieser Order ja überhaupt nur entstand, da die Katholische Kirche ihren Gläubigen einen Pilgerweg ins heilige Land schaffen wollte, worauf sie von den Mitgliedern der Templer beschützt wurden.

Einer der Hauptgründe für spätere Ahndungen gegen den Orden, war ihre Verehrung für einen Kopf mir zwei Gesichtern: das Janushaupt. In diesem Symbol blicken zwei Gesichter sinnbildlich in die Vergangenheit und in die Zukunft. Daher auch der Name des Monats Januar, der ja mit dem neuen Jahr beginnt, wo um den Jahreswechsel, Menschen quasi gleichzeitig auf das vergangene und auf das neue Jahr schauen.

Das Janushaupt nannten die Templer anscheinend auch Baphomet – ein Name, mit dem heute eine ganz und gar zwielichtige, teuflische Gestalt assoziiert wird. Baphomet entspricht »dem Tier« aus der Offenbarung Johanni, einer Chimäre aus gehörntem Engel, Mensch, Ziege oder Steinbock. Anscheinend galt den Templern dieses Wesen, wie auch das Janushaupt, als esoterisches Symbol für den Dualismus aller Dinge in der Welt, die immer als gemeinsames Ganzes betrachtet werden sollten. Wohl nicht zufällig, ist der Ziegenfisch, den die moderne Astrologie den »Steinbock« nennt, jenes Tierkreiszeichen, durch das sich die Sonne eben genau durch den Jahreswechsel zwischen Ende Dezember und Anfang Januar bewegt.

Nun ist auch bekannt, dass sich mit weißer und schwarzer Magie auch König Salomon befasste – jener König und Prophet, dessen Hohelied ja auch den Bernhard von Clairvaux in seinen Predigten verzückte. Wie die »Arme Ritterschaft vom salomonischen Tempel«, war auch Salomon laut Bibelurkunde, der reichste Mann seiner Zeit. Darüber lesen wir in der Bibel, im Ersten Buch der Könige. Darin ist die Rede von Salomos Goldbesitz der durch eine eigenartige Zahl beziffert wird (1. Könige 10:14), auf die auch das Buch der Offenbarung des Johannes (Offenbarung 13:18) hinweist, wo sie sowohl die »Zahl eines Menschen«, wie auch die »Zahl eines Tieres« ist. Und dieses Tier eben scheint eigenartiger Weise, jenem, oben erwähnten Ziegenfisch verblüffend zu ähneln (Offenbarung 13:1).

Das solche Geheimnisse zu damaliger Zeit aber gegen die Templer verwendet wurden, wissen alle, die sich mit dem Ende dieser einstigen Mönchsritter befassen. Denn wie konnte es sein, dass ein Katholischer Ritterorden Christi, sich mit solchen Dingen beschäftigt? Nach außen hin waren sie die frommen Ritter Christi, doch im inneren Kreise vollzogen sie anscheinend genau das Gegenteil. Liegt hinter solchem Handeln ein höherer, okkulter Sinn?

Es scheint als wussten die Mitglieder des Templerordens ein Geheimnis in der Welt, dass den Gläubigen der weltlichen Christenheit nicht bekannt war. Sicher war es kein Zufall, wieso sich, schon in ihrer Erscheinung in der Geschichte, etwas abzeichnete, dass offensichtlich widersprüchlich war. Mindestens so widersprüchlich wie die Erscheinung Bernhards von Clairvaux – der als Abt die Liebe zu Gott predigte, dem Ritterorden der Templer aber überhaupt erst ermöglichte, so viele neue Mitglieder zu gewinnen, die auf einem neuen Kreuzzug im Namen Jesu Christi, vermeintlich Ungläubige im Heiligen Land töten sollten.

Anscheinend zeichnete sich der Templerorden aber eben genau durch solche Widersprüchlichkeiten aus. Denn um in den Orden aufgenommen zu werden, musste ein Ritter zuerst ein Armutsgelübde ablegen, doch schloss sich damit einem Orden an, der wegen seines immensen Reichtums berühmt war. Die Templer waren nach außen hin mit weltlichen Belangen beschäftigt, pflegten im Geheimen aber okkulte, diabolische Rituale. Sie waren zum einen asketische Mönche, zum anderen gehörten sie zu den gefürchtetsten Rittern ihrer Zeit.

Bernhard und auch die Tempelritter wussten anscheinend um Dinge, die dem Normalsterblichen nur schwer verdaulich sind. Nichteingeweihten bleiben sie bis heute ein Rätsel. Es wäre darum sehr unvorsichtig, vorschnell die Person des Bernhard von Clairvaux oder die Templer zu verurteilen – solange noch der eigene Wissenseifer, das Siegel Salomos verschlossen hält.

 

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