Neuplatoniker

Aufstieg der Seele zur Verschmelzung mit dem Einen

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Autor und Mentor

Plotin - ewigeweisheit.de

Plotin (205-270) war ein Philosoph der hellenistischen Tradition, der seine Ausbildung im ägyptischen Alexandria erfuhr, als Schüler des autodidaktischen Philosophen Ammonius Saccas (†243). Er verstand sich als Platoniker, als solcher er auch bis ans Ende seines Lebens lehrte.

Plotin betrachtete sich also nicht als Verkünder einer neuen Wahrheit, sondern leitete seine bis dato ungenannten Darlegungen konsequent aus den Lehren Platons ab. Sein in diesem Zusammenhang entstandenes Werk aber begann man erst ab Anfang des 19. Jahrhundert als »Neuplatonismus« zu bezeichnen, um damit explizit auf Plotins Philosophie zu verweisen und ihn gleichzeitig von älteren Auslegung der Schriften Platons abzugrenzen.

Plotins Abhandlungen inspirierten die Denker bereits seit der Spätantike. Besonders dann im Mittelalter bis in die Renaissance hinein befanden sich unter den Lesern seiner Schriften Metaphysiker aus Kreisen des sogenannten »Heidentums«, doch zählten zu seinen Rezipienten auch Juden, Christen, Gnostiker und Muslime. Von ihm definierte philosophisch-religiöse Grundkonzepte beeinflussten die gängigen theologischen Vorstellungen innerhalb solcher religiöser Gemeinschaften.

Über das Wesen des Einen

Seine zwischen 253 bis 269 n. Chr. entstandenen »Enneaden« (griech. für »Neunheit«), einer aus sechs Büchern bestehenden Textsammlung, woraus sich jede aus jeweils neun themengleichen Abhandlungen (Kapiteln) zusammensetzt, enthält Betrachtungen woraus wir im Folgenden jene besprechen wollen, die sich mit dem Weg der Seele befassen, das heißt dem, was Platon die Seelenwanderung nannte. In den Enneaden beschreibt Plotin das Eine (griech. »To Hen«) als »Überseiendes« und weist dabei ganz klar auf dessen eigentliche Unerkennbarkeit hin, da sein Name lediglich auf einen alles Sein transzendierenden, absoluten Urgrund hindeutet.

Es gibt endlos viel Seiendes (griech. »To On«), das jeweils Werden und Vergehen bestimmt und erkannt werden kann. Das Eine indessen bleibt an sich unerkennbar, lässt sich jedoch über sein Wirken im Seienden als existent identifizieren. Doch es wirkt gleichzeitig auch jenseits des Seienden wie auch jenseits allen Vernünftigen. Gleichzeitig aber heißt das auch nicht, dass das Eine im Widerspruch zum Sein steht, denn es ist ebenso wenig das Nicht-Seiende. Vielmehr transzendiert das Eine sowohl das Sein als auch das Nichtsein. Es lässt sich auch nicht als das Un-Vernünftige erkennen, sondern bildet hingegen ein über-vernünftiges Gutes, das von Gott kommend in allem wirksam ist und damit sowohl eine Einheitlichkeit im Kleinsten ist, wie auch in der Einheit des gesamten Alls.

Aus dem Einen ist Alles hervorgegangen; doch dabei ist nicht Alles in ihm. Denn wäre Alles in ihm, dann setzte sich das Eine aus der Vielheit von Allem zusammen und wäre damit ja geteilt, und somit dann auch nicht mehr das Eine. Plotin beschrieb das Eine daher als Überfülle, aus der Alles hervorgegangen ist, das heißt: Die Gesamtheit aller Dinge ist nicht das Selbe wie das Eine, aber Alles ist auch nicht losgelöst von dem Einen. Gewiss steckt hinter dieser Vorstellung vom Einen und dem Sein eine gewisse Paradoxie, was damit aber dennoch auf die Einzigartigkeit und Unerkennbarkeit des Einen hinweist.

Das rein Geistige

Während das Eine für sich selbst weder Positives noch Negatives ist, erscheint es aber in Hinsicht des hierarchisch direkt unter ihm liegenden Anderen, des rein Geistigen (griech. »Nous«), doch als gut, da es ein Höchstmaß an Vollkommenheit aufweist. Denn die Überfülle des Einen ergießt sich in das rein Geistige, das göttlich ist, und bildet damit ein Abbild des Einen. Doch es ist gleichzeitig auch nicht göttlich, weil ja auch der Geist, wie das Eine, in seinem Überfluss etwas hervorzubringen vermag, ohne aber dabei das Eine selbst sein zu können. In diesem rein Geistigen nun ist dabei der gesamte Kosmos (griech. »Kosmos Noetos«) abgebildet:

  • Der übersinnliche Kosmos, entstanden aus der Ebenbildlichkeit mit dem Einen und
  • der sinnliche Kosmos, entstanden als eigenes Produkt des Geistigen.

Zwar ist das rein Geistige seinem Wesen nach einheitlich, doch da es eine Vielzahl von Ideen umfasst, ist es zugleich eine Vielheit. Und es sind diese Ideen, welchen das eigentliche Sein zukommt, was den Nous, zugleich die Gesamtheit aller wirklich seienden Dinge sein lässt.

Die Seele

Als ein Erzeugnis des rein Geistigen nun entstand die Seele (griech. »Psyche«, ursprünglich den Atem bezeichnend). Zwar ist die Seele göttlich, weil sie über den reinen Geist aus dem Einen hervorgegangen ist, aber ist sie darum keineswegs mit dem Einen identisch, da aus ihr sich ja das Körperliche ergeben sollte. Wenn Plotin den Begriff der Seele in diesem Zusammenhang verwendet, meint er damit gleichzeitig das, was allgemein als die Weltseele bezeichnet wird, doch ebenso auch die individuellen Seelen der auf Erden inkarnierten Geschöpfe.

Er unterschied da nun drei Arten des Seelischen:

  • Eine intellektuelle Seele, das heißt, ein göttliches Leben.
  • Eine vernunftbegabte Seele, die das menschliche Leben bezeichnet, da sie über einen sterblichen und irdischen Leib verfügt.
  • Eine nicht-denkende, vernunftlose Seele, in der Tiere und Pflanzen leben (wobei hiermit natürlich keine Wertung sondern eine Eigenschaft beschrieben werden soll).

Doch waren diese wiederum Bestandteile der universalen »Gesamtseele« (griech. »He Hole Psyche«), die einerseits einer Weltseele entspricht, andererseits aber auch als Legionen der Seelen der Sterne, wie auch der irdischen Lebewesen. Und so wie die Weltseele den gesamten Kosmos belebt, entsprechend die Einzelseele den Körper mit dem sie verbunden ist.

Die Materie

Alles das in physischer Form im Kosmos existiert, das heißt also, alles Greifbare, Materielle, ist vergänglich. Plotin unterschied dabei jedoch zwischen zwei Arten von Materie (griech. »Hyle«):

  • Der »Ersten Materie«, die allem physisch Seiendem zugrunde liegt, und
  • der »Zweiten Materie«, die sich in den Formen physischer Körper verdichtet hat.

Für ihn glich die Erste Materie einem geistigen Prinzip, das heißt, nur durch den Intellekt, doch nicht durch die sinnliche Wahrnehmung erkennbar. Er meinte damit also eine Materie, die nur durch den Geist »begreifbar« ist. Sie stammt aus einer Welt der Ideen, als rein-geistiges Prinzip, das bereits auf der Ebene der Formen und des Geistes vorhanden ist und damit allem Gegenständlichen in Form von Ideen zugrunde liegt.

Auf der Erde nun entsteht daraus die zweite Materie, in Form von Abbildern der Ideen der ersten »geistigen Materie«. Der Seele aber erscheinen diese irdischen, körperlich-greifbaren Formen verlockend, da sie sie an ihre Heimat erinnert: Die geistige Welt. Im Gegensatz zu den zeitlosen Ideen, aus denen sich die Seele auf Erden verkörpert, ist diese Materie, als Abbild geistiger Urbilder aber unvollkommen und vergänglich.

Der Mensch

Aus dem zuvor Gesagten ergibt sich das von Plotin entwickelte Bild eines dreigliedrigen Menschen, der sich zusammensetzt aus:

  • dem Geistigen (Nous),
  • der Seele (Psyche) und
  • der Materie (Hyle).

In Kreisen spirituell interessierter Menschen gelten heute diese drei Elemente als Grundlage menschlichen Seins. Allerdings verbirgt sich die menschliche Seele gemäß neuplatonischer Lehre nicht im Leib, sondern erstreckt sich in die Welt des Geistigen, von wo aus aber ein Teil an den menschlichen Körper gebunden ist. Drum auch ist es der Seele möglich wahrzunehmen, ohne dabei abhängig zu sein von den Eindrücken, die sie über die Sinnesorgane des Körpers erhält. In Verbindung mit dem Geistigen (Nous) bekommt die Seele damit ihre Denkfähigkeit, denn ihr höchster Teil verbleibt immer in der geistigen Welt. Dadurch hat sie, auch wenn ihr an den Leib gebundener Teil Unglück erfährt, ständig Anteil an der ganzen Fülle der geistigen Welt. Hiervon ausgehend meinte Plotin, dass wenn sich die Seele auf die geistige Welt hin ausrichte, sie dorthin auch aufzusteigen vermag.

Stirbt der Körper, verlässt ihn die Seele gemäß platonischer Seelenwanderungslehre und sucht sich bald darauf einen neuen Körper. Ursache für diesen folgenschweren Abstieg ist die Anziehungskraft des Körpers, der die Seele veranlasst, sich zwar freiwillig, aber doch zu ihrem Verhängnis, der Welt des Materiellen zuzuwenden und sich zu verbinden mit einem fleischlichen, sterblichen Körper. So folgt sie quasi einer unnatürlichen Veranlagung. Plotins wichtigster Schüler, der Neuplatoniker Porphyrios (233-305) schilderte diese Freiwilligkeit und zur selben Zeit die Unbeständigkeit dieser Verbindung damit, dass sich Körper und Seele zueinander wie ein Liebespaar verhalten. Diese Neigung sich mit einem irdischen Körper zu verbinden rührt von früheren Erfahrungen der Seele her.

Nun aber hat die Seele die Möglichkeit diesen Kreislauf zu verlassen, um aus der Körperwelt in ihre geistige Heimat zurückzukehren.

Sieben Stufen des Aufstiegs zum Einen (Göttlichen)

Wenn wir uns nun im Folgenden den Aufstieg der Seele eines Menschen ansehen, folgen wir dabei einer von Plotin umgekehrten Reihenfolge des Seelenweges, wobei das Bewusstsein des Menschen da aus der Welt der Materie ins Allbewusstsein des Einen hin aufzusteigen versucht. Um diesen Weg zu gehen, muss sich der Philosoph aber zuerst einmal darüber im Klaren sein, dass das, dem er sich darauf zu nähern versucht, seiner Seele ganz ähnlich ist.

Ziel des Aufstiegs ist dann mit dem Einen zu verschmelzen, sich in ihm aufzulösen. Dazu kommt ein Mensch aber nur, wenn er eben Stufe um Stufe die Eigenschaften des Einen kennenlernt, als was es sich zu erkennen gibt, nämlich als:

  • Einheit,
  • Unbeweglichkeit,
  • Licht und
  • Ewigkeit.

Wenn dabei das Eine dem reinen Sein entspricht, bedeutet das letztendlich den Ausschluss aller Aspekte des Nichtseins. Wie aber soll sich das an endliche Materie gebundene Seelensein des Menschen da mit dem Ewigen, Allumfassenden verbinden?

Wie bereits angedeutet, kehrte Plotin dazu die Reihenfolge der Emanation aus dem Einen um. Daraus entstand das spirituelle Konzept des Aufstiegs von der Welt der Materie, über die Seelenwelt ins rein Geistige des Einen, womit dieser Aufstieg eine Beschreibung der Weltentstehung in umgekehrter Reihenfolge ist: Von dem was entstand zurück zu dem woraus es entstand. Plotins legte dafür sieben Stufen der Bewusstwerdung fest, auf die wir unsere Betrachtungen im Folgenden konzentrieren.

1. Das Erwachen

Der Aufstieg der Seele beginnt in der Welt des gewöhnlichen, nicht-spirituellen Lebens. Um sich da zu erheben, muss ein Mensch dafür zu vier wichtigen Eigenschaften kommen, die er, in ihrer wahren Bedeutung erkannt, in sich zu verwirklichen hat:

  • Entschlossenheit,
  • Gerechtigkeit,
  • besonnene Gelassenheit und
  • Milde.

Hierbei entwickelt der Philosoph eine Sehnsucht das Gute zu erleben und dabei eine Liebe zu erfahren, die seine Seele dazu veranlasst den Aufstieg zur nächsten Ebene zu wagen. Dies geschieht weil der Gott Eros, in seiner Erscheinung als irdische Liebe, die Seele mit sich reißt – wie beschrieben in Plotins 5. Kapitel der 3. Enneade, »Über den Eros«. Da wird die Seele zur Begehrenden. Eros aber ist das »Auge der Seele« und folglich damit ihre »Tätigkeit« (griech. »Energeia«), mittels derer sie zu ihrem eigentlichen Ursprung strebt: dem Intellekt, mittels dem sie sich dem Höchsten, das heißt also dem Einen zu nähern vermag (vergleiche auch mit der von Apuleius in seinen Metamorphosen erzählten Geschichte von Amor und Psyche).

2. Reinigende Klärung

Ab dieser bis zur vierten Stufe geht es nun darum, die Seele dem Einen ähnlicher zu machen, damit sie den schwierigen Weg sich zu ihm hin zu erheben auch tatsächlich meistert. Es geht dabei zunächst um die Entwicklung menschlicher Qualitäten (Tugenden im eigentlichen Sinne), durch die spirituelle Energie nach innen und nach oben hin konzentriert wird. Gegenstand dieser zweiten Stufe ist, die von Plotin so genannte »Unvernünftige Seele« genau zu beobachten, um aus diesen Betrachtungen ihr Wesen zu verstehen und damit beherrschen zu lernen.

Alle Aufmerksamkeit gilt dabei dem Spirituellen. Ein Mensch wendet sich darum von der körperlichen Welt alltäglicher Angelegenheiten ab, damit die Seele nicht durch diese Einflüsse abgelenkt werde. Sowohl nämlich Vergnügungen als auch Schmerzen lenken die Seele ab. Wenn sie auftreten, versucht ein Mensch darum, so gut es ihm gelingt, ihnen keine weitere Bedeutung beizumessen. Er versucht sie lediglich zur Kenntnis zu nehmen, als Signale für den Zustand seines Körpers (der ja nicht völlig ignoriert werden kann), mit dem die unteren Teile der Seele in Kontakt stehen um diese dabei zu beruhigen. Geringfügige Störungen werden hierbei durch ein aktives, bewusstes Einströmen des Geistes verdrängt. Ebendarum sollte ein nach Weisheit Strebender versuchen, gesund zu leben, sich ausreichend zu bewegen, gut zu ernähren und ausreichend zu schlafen, um seine Praxis nicht von Störfaktoren beeinträchtigen zu lassen. Dies gelingt ihm am besten, wenn er seine Empfindungen, seine Leidenschaften und seinen Appetit zu kontrollieren vermag, um damit einen Zustand innerer Ruhe zu erreichen und entsprechend nur daraus zu handeln:

  • mit Gelassenheit, in Anbetracht des eigenen Schicksals,
  • in der Erkenntnis der eigenen Fehler,
  • durch die Fähigkeit diese zu korrigieren, wie auch
  • ein Pflichtbewusstsein zu entwickeln und Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

3. Vollkommene Ruhe erlangen

Ab diesem Entwicklungsstadium sollte der Mensch dazu fähig geworden sein nicht mehr zuzulassen, dass seine Seele irgendwelche Leiden beeinträchtigen. Dafür müsste der höhere Teil seiner Seele, der vernunftbegabte Teil, stets unverletzlich, autonom und in ruhiger Gelassenheit weilen. Dies wird durch die Vorwegnahme von möglichem zukünftigen guten und schlechten Schicksal erleichtert, was den Sucher vorbereitet angemessen zu reagieren.

Es geht da um die »Vernunftbegabte Seele« die auf dieser Stufe zu vollkommener Ruhe gebracht wird. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die »intellektuellen Prozesse« (Erkennen beziehungsweise Begreifen geistiger Vorgänge, »Noetik«) der darüber liegenden Stufen ja eher intuitiv, als nach einem System geordnet oder logisch sind.

Für Plotin war diese Stufe zwar nur einen kleinen Schritt von den darunter liegenden entfernt, doch dazu bedarf es entsprechender Fähigkeiten geistig zur Ruhe zu kommen, um den inneren, in Gedanken geführten Dialog mit den Phantomen des Geistes zu stoppen, kurz: Nichtdenken zu erlernen.

4. Erweckung des Intellekts zu selbstbewusstem Sein

Hier nun tritt der individuelle Aspekt der Seele in Kontakt mit dem intellektuellen Bereich des bewussten Seins: Das was der griechische Philosoph Platon beschreibt als die Welt der Ideen, eine Welt unveränderlicher, ewiger Urbilder, die den unsterblichen und göttlichen Teil der Seele bilden. Bei den meisten Menschen jedoch befindet sich dieser Teil in einer Art Schlafzustand; seine Erweckung lässt sich allerdings erreichen, indem dem sich ein Mensch der göttlichen Gegenwart hin öffnet, während er sich gleichzeitig immer stärker auf den inneren Teil seines seelischen Seins konzentriert, so dass ihm dort spirituelle Energien zuzufließen vermögen.

Doch kann dies nur erfolgen, wenn der nach Weisheit strebende Mensch, sein Wünschen und Wollen beiseite lässt. Hier gilt es, sich der göttlichen Gegenwart des Einen auf eine Weise hin zu öffnen, die ihr erlaubt sich zu offenbaren und es erst damit möglich wird sich ihrer verborgenen Allgegenwart zu nähern. Es geht da also nicht um ein Suchen, sondern um ein Sichfindenlassen. Die Seele wird gesucht. Etwas kommt auf sie zu, wenn sie dazu fähig geworden ist es zuzulassen, damit sie sich eben diesem intellektuellen Seelenteil auf eine Weise nähert, um vom Einen quasi entdeckt zu werden.

Was an Willen dafür aufgewendet wird, dient nicht dem eigentlichen Erreichen der genannten Ebene, sondern soll eher dazu verwandt werden Gott in sein intellektuelles Seelensein einzuladen. Plotin beschreibt diesen Vorgang mittels zweier Metaphern:

  • Man poliert seinen »Seelischen Spiegel«, damit sich in ihm das Göttliche für das innere Sein der Seele zu reflektieren vermag.
  • Oder aber, dem ähnlich, geht es um die Reinigung eines symbolisch-geistigen Tempels, in den man Gott einlädt das heilige Licht seiner Gegenwart spürbar werden zu lassen.

Was an Fähigkeiten dem Philosophen da zur Verfügung steht, überlässt er dem Zustrom göttlicher Kräfte, denen er sich durch seine nach innen gekehrte Wahrnehmung, in Form eines inneren Sehens oder inneren Hörens, gewahr wird. Auf diese wundersame Art und Weise entdeckt die Seele ihre Freiheit und eigentliche Unabhängigkeit von dem ihr umhüllenden Körper. Sie wird dabei von aller Materie entledigt (gereinigt) und damit in ihre ursprüngliche Form zurückversetzt. Alles was da nicht mehr ihrem wahren Selbst entspricht, fällt von ihr ab.

Wie gesagt, überlebt die intellektuelle Seele den Tod. Darum eben soll sie gegenüber der Alltagswelt zu einer Haltung finden, die sie nach dem Tod behalten will. Im Sinne Platons ist das eine »philosophische Vorbereitung auf den Tod« – ein »Sterben, bevor man stirbt« (was in der Initiatischen Tradition »Einweihung« bedeutet). Dabei werden die niederen Teile der Seele in einen Zustand der Stille versetzt, die Seele wird gereinigt, nach innen gekehrt und auf ihr Zentrum konzentriert, um ebenso einfach zu werden wie »das Eine«.

5. Schauen der Welt der reinen Formen

Erste Phase des Zustands der Erleuchtung

Wir sagten, dass die Vorstellungen der Intellektuellen Seele sich zum einen auf den Bereich des göttlichen Geistes bezieht, wie auch auf die Welt der Formen. Hier halten sich sowohl die intellektuellen Seelen der Menschen auf, wie auch die traditionellen Gottheiten, mit ihren archetypischen Eigenschaften (wovon einer etwa der griechische Gott Apollon sein könnte, Gott des Lichts, der Heilung und der Weissagung).

Plotin charakterisierte diesen Weltenbereich als die von Platon beschriebene Region jenseits des Himmels, in dem unsere Seelen schon lange vor unseren Körpern lebten. Dabei vermochten sie die darin befindlichen Formen direkt kennenlernen. Wie Platon jedoch in seinem »Dialog Kratylos« beschreibt, können diese Formen nicht sinnlich erfahren werden, da sie sich eben nicht in der physischen Welt befinden. Das Wissen von diesen Formen bildet sich vielmehr aus einer Erinnerung unserer Seele an ihre erste Bekanntschaft mit ihnen. Daher ist das, was unsere intellektuellen Seelen zu lernen scheinen, in Wirklichkeit nur Erinnerung, worin diese Formen lebendige, bewusste Gedankenstrukturen bilden. Sie befinden sich dabei in einem Zustand gegenseitiger Vergegenwärtigung, bilden so zusammen ein lebendiges, bewusstes Ganzes. Dieses Ganze umfasst alle seine Bestandteile, und jeder einzelne Bestandteil wiederum umfasst das Ganze.

Alle die in diesem eben beschriebenen Weltenbereich existierenden Formen nun sind transparent, durchdringbar und eben nicht in irgendeiner Art stofflich. Sie entstehen hingegen aus allen unsterblichen, geistigen Gestalten des Göttlichen. Wenn zuvor nun aber die Rede war von einem »Intellekt«, meint das weniger die Fähigkeit des menschlichen Geistes logisch und reflektiert zu Denken, als dass dieser eher einem »Intuitiven Fließen« gleicht. Was bedeutet das? In den vorangegangenen Stufen hat die Seele ihre individuelle Identität bewahrt. Auf dieser Stufe jedoch erkennt sie ihren soeben beschriebenen intellektuellen Teil als integralen Bestandteil des Einen. Deshalb muss die Seele auf dieser Stufe, sich von dem Bewusstsein trennen, selbst ein Individuum zu sein, was ihr doch Endlichkeit und ein Getrenntsein vom Göttlichen als Glauben auferlegt. Um zum Ewigen, zum Universalen, zum Einen aufzusteigen, muss sich die Seele aber von jeglichem Bewusstsein gelöst haben.

Dies gelingt am ehesten der Seele eines Stoikers, heißt es, da sie die spirituelle Übung des »Blicks von oben« beherrscht. Die stoischen Philosophen hellenistischer Zeit nämlich stellten sich hierfür vor, sich im Himmel zu befinden und auf die Erde hinunterzuschauen. Das Ziel dieser Übung bestand darin, das Bewusstsein in die Unendlichkeit von Zeit und Raum zu versetzen, um damit die gegenseitige Verflechtung eines jeden Dinges darin, mit allen anderen Dingen zu erkennen. Erst da kann des Menschen Seele die Welt so sehen wie sie wirklich ist, sich über alles darin wirkende Leid erheben, um sich damit selbst helfen zu können und folglich fähig wird, aus dieser Erfahrung Nutzen zu schaffen für die übrigen Seelen seiner Mitmenschen.

Im Aufsteigen auf diese Ebene des Seins beginnt die Seele sich in ihrer Wahrnehmung nicht mehr als Beobachterin der ihr gewahr gewordenen Formen wahrzunehmen, sondern wird ihnen gleich. Die Seele verliert da ihr Bewusstsein (in etwa zu vergleichen mit solch alltäglichen Erfahrungen in denen wir von einer Tätigkeit völlig absorbiert werden, so dass alles um uns nicht mehr wahrgenommen wird, bis auf die Aktivität in der wir uns befinden). Dieser Zustand allerdings kann nicht lange aufrechterhalten werden. Die menschliche Seele ist eben von Natur aus bewusst und wird darum in diesem Schritt noch, sofort wieder auf eine niedrigere Ebene zurückfallen.

6. Die Liebe zum Göttlichen

Zweite Phase des Zustands der Erleuchtung

Nun besteht das nächste Ziel darin das Selbst der Betrachtung des Intellekts zu entziehen. Die ganze Aufmerksamkeit wird ab jetzt hin auf das Göttliche gerichtet, in dem die Neuplatonikern keinen Teil des Dualen sehen, sondern das für sie eine universale Einheit repräsentiert. Es befindet sich ganz jenseits aller Form, ist die Welt der Formen doch eben nur durch die Dualität erlebbar, da sie ja erst etwas ist eben dadurch, dass sie ein Gegenteil besitzt, das all das ist, was die Form nicht ist. Das Eine – das Göttliche also – aber hat kein Gegenteil. Um sich also dem Einen zu nähern, muss die Seele jegliche Form aus ihrem geistigen Gewahrsein eliminieren, um sich damit über die Vielfalt der Formenwelt zu erheben, sie zu transzendieren.

Hier nun kommt erneut die Liebe des Verlangens ins Spiel, repräsentiert durch Eros (vergleiche erste Stufe). Dieser Gott aber führt auf dieser Stufe zu etwas jenseits des zuvor beschriebenen Intellekts der Seele. Er zieht ihre Geistigkeit hin zum Göttlichen (was das genannte Verlangen überhaupt erst erweckte), so wie durch Eros der Liebende zum Geliebten hingezogen wird. In dieser Liebe beginnt der Seele Geist, das Eine zu umkreisen.

Wenn da aber die Rede von der Liebe ist, meint es eine der Schönheit der Welt der Formen überlegene Liebe. Sie ist erfüllt vom Licht der Einheit des Göttlichen, bewegt sich voll Anmut, als Ergebnis eines Gnadenakts des Einen. Alles muss die Seele hier also ignorieren, bis auf die leuchtende Energie dieser vom Einen hervorstrahlenden Liebe.

Indem sie die Dualität allen Denkens und aller Intuition transzendiert, wächst der ruhige, nüchterne Intellekt der Seele über sich hinaus und tritt ein in einen Zustand, der als Rausch erlebt wird: trunken vom göttlichen Nektar, von der Liebe zum Göttlichen. Die Seele kommt durch die Identifikation mit diesem Geistigen des Einen in unmittelbaren Kontakt mit dem Göttlichen, obwohl sie weiterhin getrennt davon weilt, da sie als Liebhaberin (Seele) und Geliebter (Göttliches) sich zwar sehr nahe kommen, aber noch immer nicht vereinigt sind.

Dieser Zustand tritt plötzlich auf und hält gewöhnlich nur ganz kurz an, da er nur für eine Dauer aufrechterhalten werden kann, solange sich die Seele ihrer noch nicht wieder bewusst wurde, was aber eben dann erfolgt, wenn sie sich im Liebesaktes mit dem Einen erkennt.

7. Einswerdung mit dem Göttlichen

Hiermit nun wurde das vollkommenste Stadium erreicht: Die Auslöschung aller Dualität, das Beenden allen Getrenntseins der liebenden Seele vom geliebten Göttlichen. Da hat sich alles Verlangen der Seele in vollkommener Ekstase erfüllt: Sie ist eins Geworden und vereinigt mit ihrem göttlichen Ursprung, ganz und gar von ihm erfüllt, doch gleichzeitig auch selbst ergossen ins Göttliche. Da erfährt sie wahren Frieden, absolute Gewissheit, glückerfülltes Wohlbefinden, göttliche Liebe, unbeschreibliche Freude.

Und wie wir sagten: Da das Eine (das Göttliche) frei ist von Bewegung (Handlung), Form und Gedanken, so musste, um dieses Stadium zu erreichen, auch der Philosoph sich befreien von allem Wollen, lösen aus aller Gestalt und jeglichen Gedanken aufgeben, um sich mit dem Einen identifizierend zu vereinigen. Dann wird der Mittelpunkt des seelischen Seins des Philosophen sich mit dem Zentrum des Göttlichen verbinden.

Fest steht bei alle dem, dass weder die Erfahrung auf dieser Stufe noch die in den vorangegangenen Stufen gemachte Erfahrung, durch den Willen herbeigeführt werden. Es geht hier vielmehr um eine Art Gnade, auf die man sich nur vorbereiten kann und in Geduld empfänglich darauf wartet.

Licht in die Welt bringen

Ziel eines Menschen, der ein philosophisch-spirituelles Leben führt, könnte die ständige Hinwendung zum Einen sein, um damit tatsächlich eine Metamorphose zu erleben, wo ihn das Göttliche von innen her erfüllt, ja er sich damit selbst zu einem vergöttlichten Wesen entwickelt. Solange der übende Philosoph sein Dasein aber noch zu sehr in seiner Körperlichkeit wahrnimmt, kann er die Konzentration und Spannung dieser Vereinigung nicht aufrechterhalten. Er muss daher wieder in die physische Welt umkehren. Dennoch kommt er dann stets zurück mit zunehmender Milde, Sanftheit und Empfänglichkeit. Als Ergebnis einer erfolgten Vereinigung wird er die Kenntnis seines wahren Selbst damit verbessern können, um dem Licht des Einen allmählich auch in der alltäglichen Welt gewahr zu werden. Auch sein Erscheinen gegenüber seinen Mitmenschen beginnt sich damit zu wandeln, da er dieses Licht mit sich in die Welt bringt, um auch andere zur Erleuchtung zu führen.

Nachdem der Philosoph die göttliche Vereinigung erfahren hat, ist er bestrebt zu ihr zurückzukehren. Er bereitet sich darauf vor, indem er die Tugenden und andere spirituelle Praktiken übt. Das philosophisch-spirituelle Leben eines so Übenden ist darum »amphibisch«, ein Doppelleben halt, das sich mal dem Licht, mal der Erde zuwendet. Der Philosoph ist da wie der Mond auf seiner Umlaufbahn, der sein Gesicht zuerst der Erde zuwendet (Vollmond), dann der Sonne (Neumond). Wenn der Mond sich der Sonne ganz nahe kommt (aus geozentrischer Sicht), wenn sie in Konjunktion stehen, kommt es zur Finsternis. Das ist wie die Vereinigung des Philosophen mit der Quelle des Lichts, wenn die irdischen Bereiche in völliger Dunkelheit gelassen werden. Kehrt der Philosoph zurück und wendet sein Gesicht wieder der Erde zu, dann erleuchtet er sie mit dem Licht, das er in sich von der Quelle empfangend reflektierte und so zum Wohle Aller ausstrahlt.

 

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Die Hermetik: Eine Religion der Antike

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Hermes Trismegistos - ewigeweisheit.de

Nur die wenigsten unter uns haben jemals von der alten Stadt Harran gehört. Es scheint als sei dieser Name in Vergessenheit geraten, trotz dass es an diesem Ort einst eine Glaubensgemeinschaft gab, die insbesondere für die Hermetik von zentraler Bedeutung ist.

Und was ist die Hermetik? Wer darüber spricht, was manche auch als den »Hermetismus« bezeichnen, meint damit eine seit der Antike existierende Offenbarungslehre. Ihre religiös-philosophischen Weltanschauungen beeinflussten das Denken der Gelehrtenwelt, insbesondere in der europäischen Renaissance. Der Name »Hermetik« aber stammt von dem mythischen Wissensspender Hermes Trismegistos (dem »Dreifach Größten Hermes«). Ihm werden die Verse der berühmten Smaragdtafel (Tabula Smaragdina) zugeschrieben, die durch ihn, so die Legende, einst von Atlantis nach Ägypten kam. Von dort aus breitete sich die hermetische Offenbarungslehre dann in der ganzen antiken Welt aus, zwischen Zweistromland und dem Land der alten Hellenen Griechenlands.

Wieso die Hermetik nun aber insbesondere für das oben genannte Harran so wichtig war und wieso das auch für unsere weiteren Betrachtungen von Belang ist, das wollen wir uns im Folgenden ansehen.

Eine uralte Siedlung in Mesopotamien

Die Stadt Harran befindet sich heute in der Türkei, etwa 20 km nördlich der syrischen Grenze, gelegen zwischen Euphrat und Tigris. Die Gefilde der Ebene von Harran beherbergen die ältesten archäologischen Fundstätten der Erde. Dazu zählt die 11.500 Jahre alte Tempelanlage von Göbekli Tepe oder die 1993 in Şanlıurfa gefundene Statue des sogenannten Urfa-Mannes, dessen Alter manche bis ins 14. Jahrtausend zurück datieren.

Die Großstadt Şanlıurfa, das antike Edessa, beherbergte einst den Urmonotheisten Abraham. Hiermit kommt das alte Harran ins Spiel, das etwa 40 km südlich von Şanlıurfa gelegen ist und der Universität dieser Großstadt sogar ihren Namen verlieh. Nun, Harran wird im Buch Genesis erwähnt, als Heimatstadt des Terach (Genesis 11:32f) – dem Vater des Patriarchen Abraham. Manche glauben dass die antike Stadt Harran ihren Namen sogar von dem gleichnamigen Bruder Abrahams erhalten hatte (Genesis 11:26). Interessant ist auch, dass der Patriarch Jakob (Urvater der Zwölf Stämme Israels), ein Enkel Abrahams, einst von der heute israelischen Stadt Beer Scheva  (deutsch: »Brunnen der Sieben«) nach Harran reiste (Genesis 28:10-19). Auf dieser Reise hatte Jakob den aus der Bibel berühmten Traum von der sogenannten »Jakobsleiter« – einem Ereignis das ja insbesondere in der Kabbala-Tradition von zentraler Bedeutung ist.

Heute bedeckt den Hügel, auf dem einst das alte Harran lag, ein riesiges Trümmerfeld, auf dem man nur noch einzelne Mauersteine verstreut sieht. Lediglich erhalten sind Abschnitte der alten Stadtmauer, sowie Gebäudereste der alten Universität von Harran. Der dort einst befindliche Tempel der Sabier, wurde 1262 mit dem Einfall mongolischer Horden zerstört.

Großer Smaragd - ewigeweisheit.de

Der 14.000 Jahre alte Urfa-Mann (Museum der Stadt Şanlıurfa).

Wer die Sabier waren und welche Bedeutung sie für unsere Betrachtungen haben, dazu mehr in den nachfolgenden Ausführungen.

Die Sternenreligion der Sabier

Sowohl jüdische als auch islamische Quellen behaupten, dass Abraham ein Sternenverehrer gewesen war. Harran, der Ort in dem Abraham zeitweise gelebt haben soll, war eine von sieben Städten, von denen jede einem der sieben Planeten gewidmet war. Ihre antiken Strukturen sollen gebaut worden sein, auf der Grundlage sehr feiner astronomischer Berechnungen der Gestirnbewegungen, insbesondere jener der zwölf Sternbilder und der sieben klassischen Planeten. Drei dieser sieben hatten sie übernommen von ihren griechischen Vorvätern, darunter Helios (Sonne), Ares (Mars) und Kronos (Saturn). Zwei akkadische Götter kamen hinzu, nämlich der Mondgott Sin und Merkur, sowie zwei aramäische Sternengottheiten: Bal (Jupiter) und Balti (Venus). Die Sabier verwendeten damit die auch bei uns bis heute verwendete Zuordnung der sieben Planeten zu den Wochentagen.

Insbesondere in ihren Riten verehrten die Sabier diese planetarischen Gottheiten, um sich mit dem Lauf der Dinge ihrer Gemeinschaft, auf die kosmischen Zyklen abzustimmen. Man opferte da im Namen dieser Wandelsterne dem alleinigen Schöpfer der Welt. Hieraus entwickelte sich der Glaube an die Planeten als Vermittler zwischen den Menschen und Gott. Man sah die Planeten da als körperliche Erscheinungen an, denen göttliche Geistwesenheiten innewohnten und diese regierten (entsprechend eben genannten, den Wochentagen zugeordneten sieben Götter: Kronos, Helios, Sin, Ares, Merkur, Bal und Balti).

Alles in der Natur gestaltete sich und bildete sich fort durch die Einwirkung der Planeten. Die Gesamtheit des Seins war ihrem Einfluss unterworfen. Nichts in der Natur konnte sich bewegen oder entwickeln, so glaubten die Sabier, ohne den Einfluss jener geistigen Potenzen der sieben planetarischen Kräfte.

Der Schöpfer der Welt, so die Sabier, vermochte wegen seiner essenziellen, ursprünglichen Einfachheit, sich in den sieben leitenden Planeten zu vervielfältigen und zu personifizieren. Sie wirkten und wirken auch heute noch, laut der sabischen Lehre, in die irdischen Körper der Wissenden (Eingeweihten) hinein. Bei alle dem aber bliebe die Einheit des Wesens Gottes davon unberührt. Nur sein Handeln kommt in den sieben Sphären zur Wirkung, wobei er darüber auf das Menschsein wirkt und darin zur Erscheinung kommt.

Vermittelst unserer Zungen spricht Gott, vermittelst unserer Augen sieht er, vermittelst unserer Ohren hört, vermittelst unserer Hände greift er, vermittelst unserer Füße kommt und geht er und vermittelst unserer Glieder handelt er.

Es ist nun schwer zu sagen ob entweder der Polytheismus die ursprüngliche Form der Gottesverehrung war oder der Monotheismus. Diese Frage aber dürfte sich vielleicht erübrigen, wenn man eben jene, aus der abrahamitischen Tradition wahrgenommene eine Gottheit, eben als einen Gott der Götter, einen Herrn der Herren, einen Schöpfer alles Erschaffenen ansieht. Gut möglich dass sich aus dieser Vorstellung von einst, dann eine Art von Monotheismus entwickelte. Dabei dürfte es selbsterklärend sein, dass so ein höchstes, göttliches Wesen, in der Vielfältigkeit seiner Erscheinung, später von den abrahamitischen Religionen verschiedenartig aufgefasst wurde.

Aber nicht allein im Abrahametismus existierte die monotheistische Vorstellung des Göttlichen. Auch der griechische Philosoph Platon (428-347 v. Chr.) erwähnte in seinem Werk an verschiedenen Stellen ein höchstes Wesen, als den Vater aller Dinge, den Schöpfer der Götter. Hierauf ging auch der Neuplatoniker Porphyrius (395-420 n. Chr.) ein, in seiner Geschichte der Philosophie. Darin nämlich beschreibt er diesen »einzigen Gott Platons«, als einen »dem kein Name und nichts Menschliches zukommt«. Porphyrius hielt darum auch für unangebracht, diesem höchsten Wesen etwas Materielles zu opfern. Vielmehr durfte man ihn nur durch reines Schweigen und reine Gedanken verehren.

Wie wir später noch sehen werden, stand im Mittelpunkt des sabischen Glaubens ja der sagenhafte Hermes Trismegistos. Wie sich den ihm zugeschriebenen Schriften entnehmen lässt, sprach auch er über diese Einheit des Göttlichen, wo ihm alle Dinge der Welt als Glieder Gottes galten. In dem hermetischen Text Poimandres ließt man dazu:

So wie Himmel, Erde, Wasser und Luft die Glieder der Welt sind, so sind auch Leben, Unsterblichkeit, Kraft, Geist, Notwendigkeit, Natur, Seele, Verstand, dieser Aller Fortdauer und das sogenannte Gute Gottes Glieder. Weil Gott aber Alles vorstellbar macht, so ist er auch durch Alles in Allem [...] der Himmel regiert die intellektuelle Substanz, das heißt die Gottheit. Der Himmel, die Götter, die denselben untergeordneten Daimonen und die Menschen sind alle Teile Gottes.

- Aus dem hermetischen Poimandres Kapitel 12

Astral-Heiligtümer Harrans

In Harran befanden sich einst sieben Tempel, entsprechend den sieben klassischen Himmelskörpern Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter und Venus. Ein hexagonaler Tempel des Saturn stand dort zusammen mit jeweils einem trigonalen Tempel des Jupiters und Merkurs. Die Architektur Mars-Tempels war rechteckig, jener der Sonne aber quadratisch. Der Sin-Tempel, dem Mond geweiht, besaß eine achteckige Struktur. Dieser dem Mondgott Sin geweihte Tempel wurde sehr wahrscheinlich im Neusumerischen Reich erbaut, wohl um 2.000 v. Chr. Der Tempel zu Ehren der Göttin Venus war, wie der der Sonne, als Quadrat geformt, das in sich jedoch einen trigolanen Bau einfasste. Die Idole in den Tempeln der Sabier waren meist aus den ihnen vorstehenden Planetengottheiten verfertigt. Im Sonnentempel fand man goldene Statuen und Idole, im Mondtempel entsprechend aus silber gehauene Standbilder.

Im Mittelpunkt des Sternenkultes der Sabier aber stand der Mondgott Sin.

Lehmbauten in Harran - ewigeweisheit.de

Lehmbauten in der heutigen Altstadt Harrans.

Sabische Geistesgrößen

Wichtige Geistesgrößen des frühen Mittelalters lebten und wirkten in Harran, wie etwa der im iranischen Tus geborene Jabir ibn Hayyan (721-812), der unter dem Namen »Geber« in die Geschichte der Alchemie eingehen sollte. Doch vor allem die Schriften des in Harran geborenen Magiers und Astrologen Thabit ibn Qurra (826-901), sollten später einmal großen Einfluss haben auf die Gelehrsamkeit jener europäischer Weiser, die zwischen der Zeit des Mittelalters bis in die Renaissance lebten.

Ibn Qurras, im 16. Jahrhundert aus dem Arabischen ins Lateinische übersetztes Werk zur Hermetik, »De Imaginibus« (zu deutsch »Über Bilder«), sollte in der Renaissance zum wichtigsten Text über astrologische Magie werden (neben dem Buch Picatrix aus dem 13. Jahrhundert). So fanden Ibn Hayyans und Ibn Qurras Schriftwerke auch ihren Weg in die christlichen Klöster Europas.

Hermes Trismegistos

Die Sabier von Harran schöpften ihr Wissen aus vielen Quellen. Was sie über die Astralwelt wussten, scheinen sie von den Neuplatonikern (Schulrichtung die im 3. Jahrhundert n. Chr. entstand) übernommen zu haben. Aber auch Wissen aus dem alten Sternenkult der Chaldäer spielte eine wichtige Rolle für sie.

Die Sabier von Harran waren, zwischen 856 bis 1050, für das Geistesleben und die Vermittlung wissenschaftlicher Bildung, wichtig für Rest der arabischen Welt. Durch sie nämlich erhielten sich über die Jahrhunderte hinweg die Weisheiten aus der griechischen Antike, deren Philosophie und Wissenschaft durch ihr Wirken scheinbar problemlos in islamisches Geistesdenken einfließen konnte.

Besonders hervorgehoben werden aber muss die Tatsache, dass sie Hermes Trismegistos als ihren Propheten verehrten und sein Corpus Hermeticum ihr heiliges Buch war. Darauf verweist die Handschrift des Kitab Ihwan as-Safa (Buch der Brüder der Weisheit), einer arabischen Enzyklopädie des 10. Jahrhunderts, dessen Inhalte nicht unbedeutend sind für Geschichte und Entstehung des Geheimordens der Rosenkreuzer.

Andernorts galt Hermes Trismegistos damals als alter ägyptischer Weiser, den man als Erfinder des Schrifttums ansah und als legendären Autor vieler wissenschaftlicher Bücher über Mathematik, Astrologie, Magie, Alchemie, Ethik und Medizin. In seinem Corpus Hermeticum finden sich Lehren in Form mystischer Visionen.

Man setzte Hermes Trismegistos damals auch gleich mit dem griechischen Gott Hermes und dem ägyptischen Gott Thoth (auch: Tehuti). Dass er den Sabiern als Prophet galt, lag an der Tatsache, dass sie das Corpus Hermeticum als Portrait eben dieses göttlich inspirierten Lehrers betrachteten.

Damals begannen manche muslimische Gelehrte Hermes Trismegistos auch gleichzusetzen mit dem im Koran erwähnten Idris, der im jüdisch-christlichen Kontext der biblischen Gestalt Henochs entspricht.

Die Harraner (Sabier) waren im Nahen Osten die wichtigsten Erben des sogenannten ‘orientalischen Pythagoreismus‘, sowie die Wächter und Verbreiter der Hermetik in der islamischen Welt. Sie praktizierten ‘die Religion der Erben des Propheten Idris’

- Seyyed Hossein Nasr

Seit wann die Sabier ihre Kulte jedoch ausübten, ist bisher nicht geklärt. Sie dürften schon im 6. Jahrhundert v. Chr. bestanden haben, doch sollten bereits zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert n. Chr. untergegangen sein.

Übersetzung des Corpus Hermeticum ins Lateinische

Im Jahr 1460 gelangte eine seltene, arabische Handschrift nach Florenz. Möglicherweise war sie in den fünf Jahrhunderten zuvor von Harran in byzantinische Hände übergegangen. Man beauftragte drei Jahre später den berühmten italienischen Philosophen Marsilio Ficino (1433-1499) damit, den Text ins Lateinische zu übersetzen. Die Fertigstellung seiner Übersetzung im Jahr 1471 könnte durchaus angesehen werden, als eine Geburt der europäischen Hermetik. Man verwendete damals den Namen, aus dem oben bereits zitierten »Poimandres«, um damit den Druck dieser Schrift zu betiteln.

Ficino fasste in seiner Vorrede an den Auftraggeber Cosimo de Medici (1389-1464) die antiken Quellen zu Hermes zusammen und konstruierte eine Tradition ursprünglicher Weisheit. Diese Tradition nämlich hatte laut Ficino sogar wesentliche Elemente des Christentums eingeschlossen. Man geht darum auch davon aus, dass es zu ersten Schriftlegungen des Corpus Hermeticum, zunächst zwischen 100 und 300 n. Chr. gekommen sein könnte. Erst später hatte sich das Wissen um das Schriftwerk des Hermes Trismegistos verdunkelt und zersplittert in verschiedene Disziplinen.

(Hermes) stand [...] in Geistesschärfe und Gelehrsamkeit allen Philosophen voran. Als Priester legte er zudem die Grundlagen für ein Leben in der Art eines Heiligen und er übertraf in der Verehrung des Göttlichen sämtliche Priester. Er übernahm schließlich die Königswürde und verdunkelte durch seine Gesetzgebung und Taten den Ruhm der größten Könige. Daher nannte man ihn zurecht den dreimal Größten (Trismegistos). Als Erster unter den Philosophen wandte er sich von der Naturkunde und der Mathematik der Erkenntnis des Göttlichen zu. Als Erster konferierte er über die Herrlichkeit Gottes voller Weisheit, wie auch über die Ordnung der Dämonen und die Wandlungen der Seele. Daher nennt man ihn den ersten Theologen.

- Marsilio Ficino, in seiner Vorrede an den Auftraggeber Cosimo de Medici

Manche behaupten, dass diese Arbeit so großen Einfluss auf das damalige Geistesdenken hatte, dass der eine oder andere sogar vorschlug das Corpus Hermeticums gar in den Textkorpus der Bibel aufzunehmen.

Schließlich aber ließ das Interesse an dem Text nach. Man stieß auf ein jüngeres, in griechischer Sprache verfasstes Werk, das vom Christentum und Neuplatonismus beeinflusst war. Im Untergrund jedoch sollte sich hermetisches Gedankengut weiter verbreiten. Das aber der gesamte hermetische Textcorpus nicht alleinig sabischen Ursprungs ist, sollten die 1945 im ägyptischen Nag Hammadi entdeckten Handschriften bestätigen, womit sich eher von einer ägyptischen Wurzel des Corpus Hermeticum ausgehen lässt.

Erben eines verlorenen Wissens

Interessant ist, dass die Hermetik als Wissenskult von den Sabiern in Harran, in der besonderen Art ihres religiösen Kultes, aufrechterhalten werden konnte, so dass sich daraus unterschiedliche wissenschaftliche und spirituelle Disziplinen, bis ins Mittelalter hinein entfalten konnten. Das sollte die esoterische Tradition des Hermetismus bis in die heutige Zeit merklich bereichern. Könnten die Sabier darum als Erben eines verlorenen Wissens angesehen werden, das einst auf der ganzen Welt verbreitet wurde?

Sicherlich trug ihr Einfluss dazu bei, dass man in der islamischen Welt des 7. und 8. Jahrhunderts, bereits über die mathematischen Mittel verfügte, um damit die Himmelsbewegungen von Sonne und Mond zu berechnen. Denn die Zeitpunkte für das Fasten im Monat Ramadan, wie auch für die fünf täglichen Gebete der Muslime, waren (und sind) auf diese Gestirnsbewegungen genau abgestimmt.

Gemäß dem arabischen Philosophen Abu Yaqub ibn Ischaq Al-Kindi (800-873), basierte die Lehre der Sabier auf der grundlegenden Ansicht, dass die Welt schon immer existierte, basierend auf der Grundlage des Einen, was jedoch unbeschreiblich bleiben muss, da sich diese Wahrheit jenseits allem daraus Entstandenen befindet. Jene astral-planetarischen Zyklen basierten für die Sabier ebenfalls, auf diesem höchsten einen Sein. Wohl das war auch der Grund, dass sie damals als Religionsgemeinschaft von ihren muslimischen Zeitgenossen als Monotheisten toleriert wurden.

 

 

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Weisheit der Sufis...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Autor und Mentor

Wie die meisten gebildeten Muslime seiner Zeit, war auch Al-Ghazali jemand der mit der Philosophie Aristoteles' vertraut war. Zwar hielt man all die griechischen Philosophen für Ungläubige, machte sich aber deren Logik und Prinzipien der Philosophie zu Nutze. Es war ein Kompromiss, denn in ihrer Arbeit versuchten sie so weit wie möglich die Dogmen des Koran beizubehalten.

Al-Ghazali war in seinem Denken jedoch eher einer platonischen Philosophie zugeneigt. Außerdem schloss er sich später den Sufis an, die durch das »Wadschad« – die Ekstase – ihre Art von Offenbarung empfingen. Und doch wäre es falsch Al-Ghazali seinem Wesen nach nur als Sufi zu kennzeichnen. Er wuchs in einer Gemeinde auf, zu der viele Arier gehörten. Und so war sein Werk wohl auch stark beeinflusst vom Zoroastrismus, doch ebenso von dem, was er von buddhistischen Missionaren aus dem Osten gelernt hatte.

In Al-Ghazalis Werk laufen die philosophischen und spirituellen Lehren aus West und Ost zusammen. Er führte bei den Sufis die Konzepte der Philosophie Plotinus' ein, wie auch die der Neuplatoniker, die dereinst sogar einen festen Bestandteil in den Lehren der muslimischen Gemeinden seiner Zeit werden sollten.

Viele sehen in Al-Ghazali eine der größten Persönlichkeiten in der Geschichte des Islam, ja gar auf selber Stufe wie die vier großen Imame. Diese Ansicht scheint sich jedoch eher in heutiger Zeit zu erfüllen, wo sich der Islam in einer Art Wandlungsprozess befindet. Darum, so glauben manche, würden durch ein erneutes Studium seines Werks, Al-Ghazalis Lehren zu neuem Leben erweckt.

Was der Mensch in Wahrheit alles vermag

Womöglich ließ sich Al-Ghazali durch die Schriften von Platon und Aristoteles inspirieren. Denn seiner Ansicht nach, musste jemand am Anfang eines geistigen, eines spirituellen Weges, zuerst einmal sein Herzen von allen Dingen reinigen, die nicht zum Göttlichen gehören, in einer Art »Katharsis des Herzens«. Durch symbolische Handlungen sollte einer jene Belastungen des Herzens eliminieren. Aggressive Gefühle mussten da in fiktiver, scheinbarer Form, negative Emotionen reduzieren, wo sich der Betroffene ihrer, durch symbolische Handlungen entledigt. Dies etwa kann erfolgen durch den Ausschrei des Satzes »Gott ist großartig«, auf arabisch: »Allahu Akbar«. In einem weiteren Schritt erreicht der Übende einen Zustand in dem sich sein Geist vollkommen auflöst in Gott, in einem willentlichen Akt. Nicht aber ist das bereits der Zustand höchster Vervollkommnung, sondern sogar noch die erste Stufe auf dem Weg zu einem Leben innerer Einkehr. Es ist quasi der Vorhof durch den die Eingeweihten eintreten.

Das Herz ist das Zentrum aller subtilen Gemütsformen im Menschen. Doch nicht etwa das physische Herz. Es ist ein geistiges Herz, dass dem Propheten Mohammed (as) offenbart wurde. Er empfand in diesem geistigen Herzen die Welt. Was er darin erblickte schaute er mit dem mystischen Auge des Herzens an. Im Koran heißt es hierzu:

Wer immer Gabriels Feind ist – denn er ist es, der es auf Geheiß Allahs hat herabkommen lassen auf dein Herz, Erfüllung dessen, was vordem war, und Führung und frohe Botschaft den Gläubigen […]

Und siehe, dies ist eine Herabsendung (Offenbarung) vom Herrn der Welten. Hinab kam mit ihm (dem Koran) der getreue Geist auf dein Herz, dass du einer der Warner seiest, in deutlicher arabischer Sprache.

- Suren 2:97, 26:192ff

Was andere dann durch Mohammeds (as) mündliche Überlieferung aufschrieben, sollte den logisch zu schlussfolgernden Teil dieser Offenbarung bilden, während in ihm selbst, auf die eben angedeutete Weise, religiöse Erkenntnis inspiriert wurde. Aus dieser Trennung von logischem Erfassen und religiöser Erleuchtung, kam es im Islam zu zwei einer Trennung in zwei geistige Strömungen: den Rationalisten, die quasi den wortwörtlich überlieferten Islam predigen, und den Mystikern, was auch heute noch die Sufis sind. Die meiste Zeit in der Geschichte der islamischen Religion, bestanden diese beiden Geisteswege in Frieden nebeneinander.

Die sogenannten »Mutakallimun« gründeten eine systematisierte Theologie, die man in den exoterischen Medressen lehrte und wo man über das Wesen des Andersseins Gottes mutmaßte. Die Sufis jedoch trafen sich in davon gesonderten Logen, den sogenannten »Tekken« (auch: »Dhargas«). Dort praktizierte man in Meditation und religiösem Ritual, den »Dhikr«. In dieser besonderen ekstatischen Praxis wird sich der Übende, Gottes absoluter Erhabenheit und Vollkommenheit bewusst, was da insbesondere durch den sogenannten »Tasbih« erfolgt, den Lobpreis der Formel »Subhan Allah«: »Gott ist über allem erhaben«.

Heilig ist Er und hoch erhaben über all das, was sie behaupten.

- Sure 17:44

Den Sufis geht es jedoch nicht darum, in ihrer Rezitation dieses »Subhan Allah«, damit ein intellektuelles Verstehen seiner Bedeutung zu suggerieren, sondern vielmehr darum, sich eine gleichnishafte Darstellung dessen zu vergegenwärtigen, was man als vollkommenste Struktur allen Seins bezeichnen könnte. Solcher Art Bewusstwerdung im Dhikr, erfolgt also nicht im Intellekt, sondern in dem, was wir oben als das »Geistige Herz« einführten. Was damit gemeint ist, damit wollen wir uns im Folgenden eingehender beschäftigen.

Das Herzen als Sitz spiritueller Geheimnisse

Wir hatten zuvor gesagt, dass die göttliche Offenbarung an den Propheten Mohammed (as) nicht seinem denkenden Geist, sondern seinem Herzen enthüllt wurde (siehe oben Suren 2:97, 26:192ff). Für die Sufis war dieses Herz der Sitz geistiger Geheimnisse. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht überraschend, dass der Begriff des Herzens auch eine wichtige Rolle spielt im Vokabular religiöser Gelehrter des Islam. Oft wird dieser Begriff synonym für das verwendet, was man die Seele nennt, jedoch als Sitz dessen, was man als intellektuelle und emotionale Instanz darin sehen könnte. Das heißt, dass all jene unter diesen Gelehrten, einerseits von den esoterischen Lehren Aristoteles' beeinflusst waren und damit auch von dem, was wir zuvor, als die Schule des Neuplatonismus andeuteten. Da galt jenes, »geistige Herz«, als Sitz der edelsten Gefühle eines Menschen.

Für Al-Ghazali jedoch war das Herz jedoch nicht allein das, was wir uns vielleicht unter dieser Beschreibung vorstellen. Er versuchte die Wesensbeschaffenheit dieses Herzens als etwas viel universaleres darzustellen. Vier esoterische Konzepte sollten ihm bei der Beschreibung dessen helfen, was durch die arabische Begriffe »Qalb«, »Ruh«, »Nafs« und »Aql« definiert ist. In folgendem Zitat aus seinem Buch »Wunder des Herzens« schreibt er:

[…] dem Begriff »Herz« (arabisch »Qalb«), dem zwei Bedeutungen zu Grunde liegen. Eine davon ist das kegelförmige Körperorgan aus Fleisch, dass sich in der linken Seite der Brust befindet. Es ist ein besonderer Muskel, indem sich eine Höhlung befindet, und in dieser Höhlung befindet sich schwarzes Blut, das die Quelle und der Sitz des Geistes ist (arabisch »Ruh«). […] Die zweite Bedeutung des Wortes »Herz« beschreibt eine subtile, feinstoffliche Substanz ätherisch-geistiger Art, die mit dem physischen Herzen verbunden ist. Die subtile, feinstoffliche Substanz aber ist die wahre Essenz des Menschen. Das Herz ist der Teil des Menschen, der empfindet und weiß und erfährt […] Der zweite Begriff ist »Geist« (arabisch »Ruh«), der für unsere Zwecke ebenfalls auf zwei Arten erklärt, verwendet wird. Eine davon ist ein feinstofflicher Körper, der einer Höhlung des physischen Herzens entspringt und der durch die pulsierenden Arterien in allen Körperteilen verbreitet wird. […] Die zweite Bedeutung (des »Ruh«) ist, wie bereits erwähnt, die einer subtilen, feinstofflichen Substanz, die den wirklichen Menschen ausmacht: Es ist des Menschen Seele und seine Essenz.

Es geht hier um das, was bei den alten Griechen als »Pneuma« bezeichnet wurde und da als universales Mittel der Sinneswahrnehmung verstanden wird. Der Begriff der »Seele«, arabisch »Nafs«, steht für den lebensspendenden Teil der im Menschen zu Lebzeiten wirkt, seine Lebenskräfte bildet. Man spricht hier auch von der Triebseele oder Tierseele, was wohl möglicherweise ebenso aus dem griechischen Konzept der Epithymia abgeleitet ist, was man schlicht mit dem deutschen Wort »Lust« übersetzen könnte. Hier wirken also Kräfte im Menschen, die ihn dem Tier näher sein lassen, als dem was er eigentlich erzielen sollte: nämlich dem Göttlichen zuzustreben. Andere Bedeutung dessen, was Al-Ghazali als die »Nafs« anführt, bildet wiederum die feinstoffliche Substanz, eben wie auch der Sinngehalt der Namen »Qalb« und »Ruh«:

Die Seele verdient entsprechend dieser zweiten Definition Anerkennung, entspricht sie doch dem Selbst des Menschen beziehungsweise seinem wahren Wesen, seiner wahren Natur, die, sich Gott bewusst seiend, mit allen anderen erkennbaren Dingen vertraut ist.

- Aus Al-Ghazailis »Wunder des Herzens«

Nun bleibt schließlich der Begriff des »Aql«, dem was man als die »menschliche Intelligenz« oder besser noch, als seine »Vernunft« bezeichnen könnte. Lange zuvor schon lässt sich den Schriften Aristoteles' entnehmen, was auch die Neuplatoniker »Nous« nannten. Das ist im Altgriechischen sowohl mit der Bezeichnung der Wahrnehmung, mit der Gefühlswelt, dem Herzen, der Seele und dem Willen verwandt, wie auch gleichzeitig mit dem Denken und dem was einer beabsichtigt. Durch »Aql« aber versucht der Mensch über das wahre Wesen der Dinge Verständnis, wie auch über seine besonderen Kräfte Wissen zu erlangen, was doch ganz und gar zu den herausragendsten Fähigkeiten allen Menschseins gehört.

Wie es aber auch bei den anderen drei Begriffen (Qalb, Ruh, Nafs), die mit dem spirituellen Herzen Al-Ghazalis zusammenhängen, eine feinstoffliche Variante gibt, trifft das auch zu auf den eben beschriebenen Aql: Es ist die Substanz, oder das Mittel, worüber Gott vom Menschen erkannt werden kann.

 

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