Spätestens seit der Zeit des alten Ägypten, verwendete man im Westen ein Symbol, das heute unter dem Namen »Ankh« geläufig ist: Das Kreuz des Lebens. Seiner esoterischen Bedeutung nach, steht dieses einfache Symbol für die Ganzheit allen Seins. Dabei stellt sich natürlich die Frage, woraus sich diese Ganzheit zusammensetzt und wie ihre Teile zueinander in Beziehung stehen.
Insbesondere das Verhältnis von Einheit (Unität) und Zweiheit (Dualität) sind dabei von grundlegender Relevanz, bilden sie doch den logischen Ursprung der existentiellen Realität in der wir leben.
Symbol der Einheit ist der Punkt oder der Kreis. Ein Kreis hat weder Anfang noch Ende und ist in sich abgeschlossen, ungeteilt und ganz. All das sind Attribute, die sich gewöhnlich mit dem Wort Gott assoziieren lassen.
Gott ist wie ein Kreis,
Dessen Mittelpunkt sich überall und
Dessen Umfang sich nirgendwo befindet.
Der Kreis also steht für die Vollkommenheit und Ganzheit allen Seins.
Die horizontale Linie unterhalb des Kreises, deren beiden Enden in die Unendlichkeit weisen, symbolisiert die Begrenzung, die das Vollkommene vom Erschaffenen trennt. Wobei das Erschaffene letztendlich die manifestierte, physische Welt unseres Universums ist.
Eine Begrenzung des unendlich Vollkommenen also, führt zur Erschaffung, zur Schöpfung dessen, was räumlich und zeitlich manifestiert ist und darum begrenzt sein muss. Das ist die Welt der Dualität, das kosmische Reich der Gegensätze und Pole. Hierfür steht die senkrechte Linie im Ankh, die durch die Waagrechte vom Kreis der Ganzheit getrennt ist. Sie emanierte im Augenblick der Schöpfung, gleich einem Strahl der Kraft, aus der Grenzenlosigkeit (symbolisiert durch den Kreis), hin durch all die Welten und Äonen unseres Kosmos, bis sie in der materiellen Ebene wie ein Kristall, in Vollkommenheit verfestigte.
Als senkrechte Linie im Ankh-Kreuz, symbolisiert sie die Trennung der Polaritäten in unserer Welt: Rechts und Links, Licht und Finsternis, weiß und schwarz, heiß und kalt, gut und böse, erfreulich und unliebsam, aufregend und langweilig, und so weiter.
Der Caduceus, der Schlangenstab des Götterboten Hermes, ist seinem Symbolcharakter nach verwandt mit dem Ankh. Natürlich könnte man hier noch weitere Assoziationen durchführen, ist doch der Schlangenstab ein Symbol, dem wir auch in der biblischen Tora und im Neuen Testament begegnen: Einmal als der Stab des Moses, der gleichzeitig eine Schlange ist (Exodus 4:2f), und wo Moses an einer Stange eine eherne Schlange aufrichtet (Numeri 21:6-9), die jedem der sie dort erblickt, Heilung bringt. Jene Symbolik wiederholt sich in den christlichen Evangelien, wo es heißt: »Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm das ewige Leben hat.« (Johannes 3:14-15) Damit also bewegen sich die inneren Bedeutungen der Symbol-Konzepte von Ankh, Hermesstab, Mosesstab und gekreuzigtem Christus, in der selben spirituellen Matrix von Sein und Erlösung. Mehr zum Thema auch hier.
Aufstieg entlang des Mittleren Pfades
So wie diese Senkrechte blitzartig in die Welt der Polaritäten hinabfiel, so auch fand einst, nicht lange nach unserer Zeugung, ein göttlicher Funke seinen Weg aus dem Göttlichen ins Irdische, worum sich dann unser Körper formte. Das zumindest glauben Menschen der spirituellen Traditionen in West und Ost: Die Seele ist himmlischen, göttlichen Ursprungs.
Die Dinge der irdischen Welt aber, befinden sich immer in einem Spannungsfeld der Polarität, zwischen Werden und Vergehen, Aufstieg und Abstieg, Leben und Sterben, Sein und Nicht-Sein. Jeder Mensch weiß das, da er mit seinem Körper, seinen Gefühlen und Gedanken, immer Teil dieser polaren Gegensätze ist. Denn nichts bleibt, alles verändert sich vom Positiven zum Negativem und wieder vom Negativen zum Positiven, in einem lebenslangen Kreislauf.
In der manifestierten Welt begegnet die menschliche Seele immer wieder dem Zwist der Polaritäten, einem nicht endendem Wechselspiel der Gegensätze im irdischen Dasein. Davon ist unser gesamtes Leben bestimmt, jeden Augenblick. Wir atmen ein und wir atmen aus. Unser Herz strömt Blut durch die Arterien, dass durch die Venen zurückkehrt. Wir schlafen ein und wachen auf. Wir nehmen auf und scheiden aus.
Solange sich darum unser Bewusstsein, allein nur mit dieser manifestierten (oder inkarnierten) Existenz identifiziert, mit den darin erscheinenden Dingen der Wahrnehmung, über die es nachdenkt, die es bedauert oder bewundert, verharrt es auf der Ebene seines Egos. Und dabei erfährt es ständig Konflikte, empfindet das Leben nicht spielerisch sondern als anscheinend nicht endenden Kampf. Denn was man wahrnimmt, ist eben jene Reibung der Gegensätze, die in der Welt der Polaritäten konkurrieren. Wem jedoch gelingt, sich entlang des Mittleren Pfades an die Grenzen der Alleinigkeit emporzuführen, wird dort höchste Harmonie finden, wo alle gegensätzlichen Kräfte zu ultimativer Versöhnung gekommen sind.
Lernen und Leben
Im indischen Tantra ist da die Rede vom sogenannten »Kundalini-Prozess«. Die Kundalini ist eine Schlange, die dort am untersten Punkt der Senkrechten im Ankh-Kreuz schläft, jedoch erweckt werden kann. Als ätherisches, feinstoffliches Wesen steigt sie dann entlang dieser Senkrechten auf, bis sie jene Waagrechte im Ankh-Kreuz mit ihren Lippen berührt. Das aber gelingt ihr nur, wenn sie alle Polarität überwindet, weder Freude noch Trauer empfindet, Angst und Mut ihre Bedeutung verloren haben und sie weder Gutes noch Böses beeinflussen.
Auf diesem Mittleren Pfad bewegen sich alle, die die Kraft zum Gleichmut entwickelt haben. Ihnen ist gewährt, sich entlang jener kosmischen Senkrechten, hinauf zur Grenze der großen Alleinigkeit zu bewegen (symbolisiert durch den Kreis).
Wenn wir ein Bewusstsein entwickeln, diesen Pfad aufzusteigen und jenen Grenzbereich zu berühren (im Ankh als die Waagrechte symbolisiert), verlassen wir die duale Welt der Gegensätze und erleben die große göttliche Einheit, die uns mit unendlicher Kraft und Weisheit erfüllt. Alles was sich widersprach kommt hier zur Ausgleichung und verliert seine Relevanz.
Bei alle dem sollten wir aber nicht vergessen, das diese beiden Modi des Bewusstseins – in der kosmischen Einheit und der kosmischen Zweiheit (Dualität) – voneinander getrennt bleiben. Nachdem aber eine menschliche Seele in der Welt der Gegensätze inkarnierte, kann sie irgendwann damit beginnen, diesen Mittleren Pfad aufzusuchen. Hat sie ihn gefunden, wird sie durch allmähliche Veränderung ihres Bewusstseins eine Reife entwickeln, die es ihr ermöglicht, sich entlang dieses Mittleren Pfades hinaufzubewegen, entlang jener Vertikalen, bis sie zum Gebiet der großen Einheit vordringt, um dort schließlich ihre Erlösung zu finden.