Ich betrachte die Lichtwelt. Ich schaue dorthin, wo die Sonne aufgeht, wo sich das Tagsein fortsetzt. Die Sonne ist mir ein Wegweiser, jeden Tag und jedes Jahr.
Natürlich sind Abenddämmerung und Sonnenuntergang ebenso erhaben. Durch sie doch vermag ich zur Erkenntnis gelangen, dass, wenn ich einer bald werdenden Nachtsonne im Geiste in die jenseitige Finsterwelt folge ich nur dort verborgenen Störfaktoren auf die Schliche komme, um sie von da aus ans Tageslicht zu befördern.
Wenn ich damit den Grund für eine Erschwernis in meinem Leben finde, führt mich das schnell zu seinem Ausgangspunkt, den es zu entwurzeln gilt. Und was ich dann in Händen halte, darin vermag ich zu erkennen, was mir im wach erlebten Diesseits helfen wird, mein Leben zu verbessern – vorausgesetzt, ich erkenne an: Meine Probleme waren mir immer gute Wegweiser.
Im Gestern sterben
Die eben angedeutete solare Nachtfahrt der Sonne findet man in den Legenden der Alten Ägypter im Bild der sogenannten Sonnenbarke: ein Boot, dass den Sonnengott Ra durch die nächtliche Unterwelt fährt.
Am Bug dieser Barke aber steht der ambivalente Gott Seth, der Herr der Finsternis und des Verderbens. Er steht dort aber zum Schutze des Ra, denn nach Sonnenuntergang taucht Apophis auf: die riesige Schlange des Chaos. Sie richtet sich vor der Sonnenbarke bedrohlich auf, um sie an ihrer Einfahrt in die Unterwelt zu hindern. Jede Nacht darum bekämpft sie Seth dort mit seinem Speer (siehe Abbildung oben).
Alle nachtreisenden Träumer schleust Seth sicher durch die Lichtgrenze in den neuen Tag. In dieser Metaphorik liegt etwas sehr Geheimnisvolles, denn im Alten Ägypten war die Schlange auf der Tagseite (als goldene Uräus) ein Symbol des Schutzes und des Guten.
Wenn also dieser Seth die dunkle Schlange auf der Nachtseite tötet, ist das vergleichbar mit der Traumverarbeitung meines gewesenen Gestern. Wäre es daher nicht angebracht, mit dem zu Bett gehen auch mein Gestern sterben zu lassen? Der Schlaf doch ist des Todes Bruder!
Falkenköpfiger Sonnengott Ra: Gott des Lebens, der Wärme, der Helligkeit und der Zeit.
Nur das Edelste
Gestern gibt es nicht, sondern allein die Erinnerung daran. Doch mit dem Veräußern des Erinnerten auf die Tagseite meines Seins glaube ich oft, dass meine Vergangenheit fortbestünde.
Wenn ich mir nur täglich eine positive Zukunft visualisiere, so unterlasse ich dabei, mich an die Vergangenheit zu erinnern.
- Was ich in der Vergangenheit erfuhr, das habe ich einverleibt.
- Was mich davon in der Vergangenheit schwächte, hat mich hernach stärker gemacht.
- Was ich damit in der Vergangenheit lernte, davon weiß ich jetzt.
Was gestern, was vorhin, ja was gerade eben geschah, ist unwiederbringlich vorbei und existiert nicht mehr.
Was bleibt, sind die Ergebnisse. Und sie handhabe ich nur aus dem Jetzt heraus. Um mit ihnen meinen weiteren Weg zu bahnen, wähle ich davon allein das Edelste, das Erhabendste.
Im Jetzt ist Macht
Alle Perspektiven, die sich meiner Gegenwart eröffnen, sind Chancen. Was ich an Erfahrungen, Fähigkeiten und Wissen mit aus der Vergangenheit ins Jetzt bringe, lässt sich in meinem Handeln einfach zu einer Welt konstruieren. Auch diese Welt, in der ich und alle Menschen leben, begann einmal ganz einfach.
Ein Handeln in meiner Welt ermöglicht mir, dem ewigen Kreislauf der Nachtfahrt eines Gestern zu entsteigen und mich von der Verantwortungsübernahme durch den oben genannten finsteren Gott Seth zu lösen, damit ich mich heute bevollmächtigt in die Freiheit begebe.
Letzte Nacht ist vorbei und auch die Träume, die ich darin vielleicht sah. Waren solch Traumgesichte denn nicht sowie die fantastische Version einer Fortsetzung meiner Wachstunden? Darum könnte ich doch besser meine Träume in den Ereignissen meines täglichen Wachseins deuten, um mich aus meinem Schlaf der Gewohnheit zu erwecken, wo meine Traumbilder sich dann zu Wegweisern verwandeln und mich durch einen bewusst erlebten Tag leiten.
Wenn dem so ist: Könnte ich dann nicht damit beginnen, mir ebenso fantastisch und wunderbar meinen heutigen Tag auszumalen mit dem, wovon ich träume, dessen Bilder dann real und greifbar werden lasse, indem ich sie in die Tat umsetze?
Unbedingt!