Achtsamkeit ist einer der zentralen Begriffe der buddhistischen Tradition. So heißt es dort, dass wer Achtsamkeit praktiziert, aus sich selbst heraus Selbsterkenntnis und Weisheit erfährt. Stets achtsam, lebt man ein Leben im Hier und Jetzt – beobachtet nur den gegenwärtigen Augenblick.
Wer achtsam meditierend, seine Wahrnehmung veredelt, soll sich, so die Lehren der Buddhisten, irgendwann vollständig aus dem schmerzvollen Kreislauf des Leids erlösen können.
Achtsam sein bedeutet aber nicht etwa alles zu beurteilen, Dinge oder Vorgänge zu bewerten. Der Begriff Achtsamkeits-Meditation meint eher die Praxis, jeden Augenblick aufmerksam zu sein und in die Welt zu blicken, ohne an irgend etwas oder an irgend jemandes persönlicher Erscheinung zu haften. Wem gelingt, wirklich zu sehen, ohne dass sich Vorstellungen, Annahmen und Meinungen aus der Vergangenheit, in den gegenwärtigen Augenblick der Betrachtung einmischen, der kann seine mentalen Kräfte am effektivsten einsetzen.
Der westliche Durchschnittmensch aber schwelgt stets in Erinnerungen. Er hängt sich Fotos von sich, seinen Verwandten und Freunden auf, von Orten an denen man Urlaub gemacht hat. Eigentlich lässt sich daran nichts aussetzen. Erinnerungen sind aber nicht immer positiv und lösen dann vielleicht auch einen Nachgeschmack aus, der weniger zuträglich ist – mit anderen Worten: Denken kreist dann um Probleme, die man mit der Welt, mit seinen Mitmenschen und mit sich selbst hatte, die aber schon längst der Vergangenheit angehören. Auch wenn aus dieser Art Gedanken zum Glück auch Hoffnungen werden, haften an solchen Erinnerungen leider auch Ängste davor, wieder enttäuscht zu werden, alleine zu sein, krank zu werden und so weiter.
Menschliches Denken neigt manchmal auch zu zwanghaften Vorstellungen, insbesondere über Situationen, die man einst mit einem anderen Menschen erlebte. Man hätte vielleicht gerne etwas anderes erfahren und gibt sich darum der Illusion hin, man könne in der Erinnerung an ein gemeinsames Erlebnis, daran nochmal etwas ändern, zumindest aber sich daran noch einmal laben. So aber hält man sein Denken in einem ewigen Gestern.
Wer Achtsamkeit übt, kann aus solchen Gedankenkreisläufen entrinnen. Zufällige, gewöhnliche Gedanken nerven dann nicht mehr. Denn wer in seinem Denken in der Gegenwart bleibt, kann sich tatsächlich aus alten Mustern befreien: schließlich handelt er aus der Gegenwart und nicht mehr aus den Erinnerungen daran, was vielleicht einst schief gelaufen war. Mit anderen Worten: wer im Jetzt handelt, wird für seine Taten gerecht belohnt.
Handle in deinem Leben so, als wäre es deines Lebens letzte Tat.
– Marcus Aurelius
Eine einfache Übung in Achtsamkeit
Benutzen Sie Pausen zwischen Ihren Handlungen. Das heißt, bevor Sie etwas tun, nehmen Sie sich ein, zwei Sekunden Zeit. Sie können zum Beispiel in Gedanken den Satz sprechen, der die anstehende Handlung beschreibt: “ich werde jetzt essen”, “ich werde jetzt das Haus verlassen”, “ich werde jetzt aufstehen”, “ich werde mich jetzt setzen.”
Lernen Sie vor jeder Tätigkeit kurz innezuhalten und sich zur folgenden Tat, voll zu “bekennen”. Das mag etwas übertrieben klingen, doch wenn sie so, jede ihrer Handlungen und Taten ausüben (auch die niedrigsten), bleibt Ihnen garnichts anderes übrig, als achtsam zu sein. Denn die “Bekenntnis” zu dem was folgt, lässt sie voll bewusst handeln. Sie beobachten dann was sie tun, ohne Urteil, ohne Wertung.
Gut möglich, dass Ihnen das zu Anfangs etwas künstlich vorkommt – und das ist auch gut so, damit nämlich vermeiden sie Ihren gewohnten Automatismus, den Sie vielleicht neben Ihrem ununterbrochenen Nachdenken ausüben.
Dann, nach diesem kurzen Innehalten, geben sie den darauf folgenden Handlung nach. Doch lassen Sie sich Zeit und übertreiben Sie es nicht. Achtsamkeit lässt sich nicht erzwingen.
Achtsamkeit ist aufmerksames Beobachten, ein Gewahrsein, völlig frei von Motiven oder Wünschen – ein Beobachten ohne jegliche Interpretation oder Verzerrung.
– Jiddu Krishnamurti
Was der Buddha über Achtsamkeit lehrte
Alle Gelehrten sind sich einig: im Kern stammen die Lehren über Achtsamkeitsübungen vom Buddha selbst. Nicht aber ist Achtsamkeit etwas, dass nur von buddhistischen Mönchen oder Nonnen praktiziert wird. Es sei jedem empfohlen, sich in Achtsamkeit zu üben. Die erste Stufe zu einem bewussten Leben im Jetzt, ist die Beobachtung des Atems. Es gibt viele Einzelheiten, die man am Atemvorgang beobachten kann:
- Beim Einatmen hebt sich die Bauchdecke,
- beim Ausatmen senkt sie sich. Man kann diesen Vorgang bewusster wahrnehmen, indem man sich mit der Hand leicht den Bauch hält und nachspürt.
- Bewusst wahrnehmen lässt sich auch der Wechsel vom Einatmen zum Ausatmen.
- Ebenso umgekehrt: kurz nachdem wir ausgeatmet haben, können wir bewusst das Einatmen des nächsten Atemzugs beobachten – liebevoll, in klarem Gemüt.
- Durch das Atmen findet in unserem Gesicht eine leichte Temperaturänderung statt, vorausgesetzt wir sitzen in einem windstillen Raum: beim Einatmen kühlt sich der Gesichtsbereich um die Nase etwas ab, beim Ausatmen erwärmt er sich leicht.
Doch es geht hier nicht darum den Atemvorgang, in irgend einer Form zu analysieren oder aus den Bewegungen etwas zu diagnostizieren. Eher soll man sich selbst durch bewusstes Atmen näher kommen, den Gedankenstrom dabei entspannen und stattdessen die Atembewegung anschauen, als ruhte unser Blick liebevoll auf einem Freund oder Menschen den wir mögen.
Bewusstes Atmen und Körperwahrnehmung
Alles beginnt mit der bewussten Betrachtung des Atems. Es hilft beim Atmen bewusst zu bleiben, wenn wir jeden Atemzug zählen, etwas an dem wir uns festhalten können, denn sicherlich drängen sich in der Atemmeditation, immer wieder irgendwelche Gedanken und Erinnerungen auf.
Das Zählen der Atemzüge dient als roter Faden:
- einatmen – eins,
- ausatmen – zwei,
- einatmen – drei,
- ausatmen – vier,
- … und so fort bis zehn.
Wenn wir ausversehen auf elf oder zwölf oder weiter zählen: beginnen wir einfach wieder mit dem nächsten Einatmen bei Eins.
Voll bewusst atmend, ohne über diese Übung nachzudenken, können wir dazu übergehen, als nächstes unsere Achtsamkeit auf die Umwelt und unseren Körper zu richten:
- man hört auf Geräusche in der Umgebung, hört auf den Luftstrom des Atems,
- nimmt wahr, wie sich die Bauchdecke hebt und senkt,
- fühlt Augen, Ohren, Lippen und Kinn,
- bringt die Aufmerksamkeit am Hals hinab bis auf Brusthöhe,
- spürt seine Arme, Hände, Finger und Fingerspitzen,
- bringt die Wahrnehmung von dort in den Beckenbereich, in die Beine, Füße, Zehen und Zehenspitzen.
Dem folgt die meditative Beobachtung der Gefühle und schließlich der Gedanken.
Immer aber erinnern wir uns daran: “Ich habe Zeit”.
Lösen der Anspannung
Schritt für Schritt kommen wir dem näher, dass uns befreit von Sorgen und Ängsten. Geduldig erlangen wir Klarheit und Festigkeit in unserem Handeln, Fühlen und Denken. Ziel ist, dabei entspannt zu bleiben, ganz gleich was sich in uns oder um uns ereignet. Es gilt, allmählich den Wunsch abzulegen auf etwas zu reagieren. Dieser Wunsch ist oft besonders ausgeprägt in unserem Denken, wo wir uns, wie oben bereits angedeutet, vergangene Ereignisse noch einmal vergegenwärtigen wollen. Das ist eigentlich in Ordnung, solange es nur die schönen Momente im Leben sind. Viel zu oft aber ärgern wir uns erneut, über uns selbst oder über einen anderen Menschen. Auf so etwas nicht mehr reagieren zu wollen, ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zu wahrer Meditation und Geistesstille.
Sobald sich uns ein unerwünschter Gedanke in den Weg stellt, kämpfen wir nicht dagegen an, wie etwa “ich darf daran jetzt nicht denken” oder “ich will damit nichts mehr zu tun haben” oder “ich muss still werden”. Vielmehr lassen wir Ihn gehen, so wie er kam, denn schließlich haben wir ihn selbst durch unser Denken angezogen. Ebenso einfach können wir ihn weiterziehen lassen. Unsere Gedanken schweben in unserem Bewusstsein, wie die Wolken am Himmel. Wir betrachten sie, doch bewerten nicht.
Wahrnehmung ohne Wertung
Anders als manch moderne Meditationstechnik, verfolgt die Achtsamkeitsmeditation kein besonderes Ziel – bis auf das Erreichen, vollkommener Achtsamkeit. Was bedeutet das?
Der Buddha lehrte, dass der Wunsch etwas in der Welt zu erreichen oder zu verändern, immer zu Leid führt. Doch Vorsicht! Das bedeutet keineswegs, dass man keine Ziele haben sollte! Nein, hier ist etwas anderes gemeint. Achtsamkeit an sich benötigt kein Ziel. Man ist entweder achtsam oder wird von seinem persönlichen Denker dazu angehalten, ununterbrochen Urteile zu fällen. Ein Urteil fällt man jedoch immer nur über ein Ereignis aus der Vergangenheit, denn es folgt immer dem was bereits eingetreten, was schon geschehen war. Aus einem Bewusstsein der Vergangenheit, um es einmal so zu nennen, ergeben sich jedoch Befürchtungen vor den Ungewissheiten der Zukunft. Man hat dann vielleicht auch Angst, dass sich ein negatives Ereignis wiederholen könnte.
Achtsamkeit bedeutet bewusst im Jetzt zu leben und zu erfahren, was sich in den Sekunden jedes Augen-Blicks, in uns und um uns ereignet. Es besteht also keine Absicht etwas zu verändern, bewirken oder beeinflussen zu wollen. Einziger Wunsch ist aufmerksam zu sein und zu beobachten: wie sich unser Atem bewegt, was wir sehen, hören und was wir fühlen – ohne Wertung, ohne Lob und ohne Tadel.
Es gibt keine genauen Regeln, wie man Achtsamkeit übt. Man kann immer achtsam sein. Der Buddha lehrte, in den Stunden des Wachseins, stets achtsam zu sein. Auch wenn das zu Anfangs schwer fällt, können wir lernen, jeden Atemzug bewusst zu nehmen und ebenso bewusst wieder los zu lassen. Auch auf die Körperposition zu achten, auf den Wechsel von einer Haltung in eine andere: all das lässt sich bewusst wahrnehmen – wenn man es will!
Im Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen – im Sprechen und im Schweigen – sei einer bei klarem Bewusstsein. Auf diese Weise erreicht einer Achtsamkeit und reines Verstehen.
– Der Buddha
Meditierender Jain-Mönch in Palitana, Gujarat, Indien (1928).
Wie man Achtsamkeit übt
Die Grundzüge der Achtsamkeitsübungen sind vielleicht von Schulrichtung zu Schulrichtung verschieden. Was aber für andere Lehren und Meditationspraktiken gilt, trifft auch zu für die Verbesserung der Achtsamkeit: jeder sollte einen für sich passenden Weg finden, achtsamer zu werden.
Achtsamkeitsübungen und -meditationen, können alle Menschen in ihrem Leben unterstützen – in ihrer Arbeit mit anderen und an sich selbst. Wer unter Panikattaken oder Aufmerksamkeitsmangel, an Depressionen oder Ängsten leidet: allen kann es helfen, sich ernsthaft mit Meditation und Achtsamkeit zu beschäftigen. Das scheinen auch immer mehr Psychotherapeuten und Psychiater im Westen zu verstehen, weshalb sie Achtsamkeitsübungen als Hilfsmittel, in ihre Arbeit mit ihren Patienten integrieren.
Wer achtsam lebt, kann seine dabei gemachten Erfahrungen dazu verwenden, seine innere, emotionale Intelligenz zu verbessern. Das heißt, ihm gelingt ein Selbstbewusstsein zu entwickeln dafür, mit Stress, Sorgen, Ängsten und Ärger besser umzugehen. Was für das Innen zutriff, gilt auch für das Leben im Umgang mit anderen: wer achtsam lebt, verfügt über ausreichend Empathie, um die Bedürfnisse anderer Menschen wahrzunehmen – was natürlich die besten Voraussetzungen für einen Menschen sein sollten, der zum Beispiel die Mitarbeiter eines Unternehmens führen möchte.
Achtsamkeitsübungen sind gute Ergänzungen zur Körpergymnastik und Hatha-Yoga. Sie tragen bei zu physischem und psychischem Gleichgewicht. Wer sich darum in Achtsamkeit üben möchte, sollte seine Aufgeschlossenheit bewahren und dran bleiben. Doch all das ist nur möglich, wenn man auch zulässt, dass man manchmal eben unentspannt ist, dass man eben manchmal ängstlich, manchmal zornig ist. Achtsam sein ist weder Gebot, noch verbietet es einem, sich so oder anders zu verhalten.
Einer ist viel weniger besorgt, wenn er sich nicht verbietet ängstlich zu sein – das Selbe gilt für Schuldgefühle.
– Alan Watts