Mitten im Zeitalter der Aufklärung entstand in Osteuropa die Erneuerungsbewegung eines mystischen Judentums, von deren Bedeutung damals nur wenige Gelehrte eine Vorstellung hatten: Der Chassidismus. Was wir darüber heute wissen, das wurde zuerst durch den österreichischen Philosophen Martin Buber (1878-1965) im Westen bekannt.
Ihr Gründer war jemand, den manche schlicht einen „Laienmystiker“ nannten, dessen Wirken aber, ja man könnte schon sagen, ein spirituelles Beben auslöste: Man nannte ihn den „Baal Schem Tov“, den Meister des Guten Namens.
Wer war der Baal Schem Tov?
Sicher war er kein Akademiker, sondern ein ganz einfach lebender Mensch, der in seinem Auftreten und seiner Art so war, wie er halt war. Und die Ehrlichkeit in dieser Einfachheit eben sollten ihn zu einer Figur in der Geschichte der Spiritualität werden lassen, dem sehr viele andere Menschen ihr Vertrauen schenkten. Man würde vielleicht aus christlicher oder islamischer Sicht heute von einem Heiligen sprechen, einem Menschen, der aus seiner engen Beziehung zum Göttlichen heraus, auf seine Mitmenschen zuging.
Sein Name Baal Schem Tov, sollte dereinst gar zu einem feststehenden Begriff für einen Menschen werden, der anderen als Wundertäter erscheint und das eben auch als ein magischer Heiler.
Ihn, den man zuerst so nannte, dass war der Rabbiner Israel ben Elieser (1700-1760) aus der kleinen Stadt Medschybisch in der heutigen Ukraine. Sein Schicksal sollte ihn im Jahr 1703 zu einem Vollwaisen machen. Doch die Mitglieder einer jüdischen Gemeinde nahmen ihn auf.
Als Junge streunte er oft durch die Wälder und Felder die sein Dorf umgaben.
Schon 1711 kam er in Kontakt mit den Geheimlehren der Kabbala.
1716 heiratete er, doch bald schon verstarb seine Frau. Mit seiner zweiten Frau dann lebte er ein recht einfaches Leben, für einige Jahre im Gebirge der Karpathen. Die beiden hatten zwei Kinder.
Etwa 19 Jahre später trat er aus der Verborgenheit heraus. Aus ihm war jemand geworden, den seine Mitmenschen als heiligen Mann verehrten, als Heiler und Wundertäter.
So zumindest wollen es die vielen Legenden die sich um Baal Schem Tov ranken.
Um 1740 kehrte er zurück in seine Geburtsstadt Medschybisch, in der er bis zu seinem Tod lebte und wirkte, doch wo er vor allem die so wichtige jüdische Erneuerungsbewegung des Chassidismus ins Leben rief (eine bis heute existierenden Glaubensströmung, die sich seit seiner Zeit jedoch stark verändert hat).
Was jedoch mit den, für den Chassidismus zentralen Lehren zu tun hatte, das wurde erst durch seinen Nachfolger Rabbi Dow Bär (1710 – 1772) aufgezeichnet. Baal Schem Tov schrieb selbst kaum etwas seiner Lehren auf (manche sagen er hätte überhaupt nichts aufgeschrieben). Ja selbst das, so heißt es, was er mündlich teilte, war nur das, wie er einmal sagte, „was einem allzu vollen Gefäß ähnelnd überquillt“. Auch wenn wir über ihn und seine Lehre aus den Schriften des Rabbi Dow Bär erfahren, sollte dieser nicht vollständig dem würdig gewesen sein, was ihm der Baal Schem anvertraute.
Natürlich wusste der Baal Schem um sein geistig-spirituelles Vermögen, doch auch, dass er es keinem Menschen je in seiner Essenz hätte kundtun können, war es doch was Worte kaum zu fassen vermögen. Ob das der Grund war, dass der Baal Schem in seiner Sprache nur ganz unzulängliche Formulierungen verwendete, das sei einmal dahingestellt. Doch beim Lesen der selben lernt man dennoch, da der wirkliche Sinn seiner Grundlehren auch darin unverkennbar erhalten geblieben ist.
Es war jedoch nicht allein sein Wort, dass ihn zu dem „Heiligen“ machte, der er für viele seiner Bewunderer war. Wer mit dem Baal Schem Umgang pflegte, den bewegten eben ganz geheimnisvolle Vorgänge, so dass eigentlich alle Menschen, die mit ihm zu tun hatten, wie aus ihrem Innern aufsteigenden, eine ganz zauberhafte Lehre vernehmen durften. Denn was die Botschaft seiner mündlichen Unterweisungen war, das glich einer heiligen Weisung, die seinen Zuhörern anscheinend ein ganz erbauliches Gefühl vermittelte: das Gefühl einer ganz heilsam empfundenen Einheit.
Es waren diese heiligen Worte des Baal Schem Tov eben keine intellektuellen Diskurse über die Welt des Metaphysischen, als das, was er selbst in mystischer Erfahrung geschaut hatte. In der Mitteilung dessen, konnte er seinen Zuhörern zu eben solch mystischem Erlebnis verhelfen.
Seine Worte glichen eher Bildern als Begriffen. Und so war das, was er in seiner besonderen Magie jenseits all dessen übermittelte, was jenseits aller Begrifflichkeit steht. Baal Schem war eben mehr ein Erzähler ganz erhabener Gleichnisse, als jemand, den man schlicht als einen Lehrer bezeichnet.
Was dieses Bild von ihm noch klarer umreißt, ist die Tatsache, dass er keine besondere Lehre vermittelte. Die Menschen, die zu seinem Kreise zählten, die mit ihm Zeit verbrachten, erfuhren in sich sein spirituelles Wirken, als ein wahres Erleben – womit ihnen der Baal Schem Tov half, da er sie damit heilte und ihnen gleichzeitig die Wahrheiten ihres seelischen Lebens in Gott erfahren ließ. In der Sprache seiner Gebete und Predigten verschmolz alles organisch, wie von selbst zu einem Segen, der, scheinbar durch eine besondere Magie ausgelöst, in seinen Verehrern ein Glück vermittelndes Wohlbefinden erweckte.
Hierzu seien im Folgenden einige Auszüge wiedergegeben, aus einem dem Baal Schem Tov zugeschriebenen Buch: „Des Rabbi Israel ben Elieser genannt Baal-Schem-Tow, das ist Meister vom guten Namen, Unterweisung im Umgang mit Gott“ (herausgegeben von Lothar Stiehm).
Von der Macht des Wortes
Wenn du redest, hege das Geheimnis der Stimme und des Worts im Sinn und rede in Furcht und Liebe und besinne, dass die Welt des Worts aus deinem Munde spricht. Dann wirst du die Worte erheben.
Besinne, dass du nur ein Gefäß bist, dass dein Gedanke und dein Wort Welten sind, die sich breiten: die Welt des Worts, das ist die Einwohnende Herrlichkeit, begehrt in dieser Rede von der Welt des Gedankens. Und wenn du das Licht Gottes in deinen Gedanken und dein Wort gezogen hast, dann sei dies deine Bitte, dass die segnende Fülle sich aus der Welt des Gedankens über die Welt des Wortes ergieße. Dann wird auch dir werden, wessen du bedarfst.
Darum heißt es:
„Lass uns dich finden in unseren Bitten!“In unseren Bitten selber lässt Gott sich finden.
Wer in seinem Gebet alle Ausrichtungskünste anwendet, die er kennt, der wirkt eben nur, was er kennt. Wer aber das Wort in großer Verbundenheit spricht, dem geht in jedes Wort die Allheit der Ausrichtung von selber ein. Denn jedes Zeichen ist eine völlige Welt, und wer das Wort in großer Verbundenheit spricht, erweckt jene oberen Welten und tut ein großes Werk.
In jedem Zeichen sind die Drei: Welt, Seele und Gottheit. Sie verbinden und vereinen sich miteinander. Und danach vereinen und verbinden sich die Zeichen, und es wird das Wort. Sie einen sich mit wahrer Einung in der Gottheit. Und der Mensch soll seine Seele in jedes der Drei einfassen: dann eint sich alles zu Einem, und es wird große Wonne ohne Grenzen.
Die Heilkraft der sakralen Namen
Alles was uns heute am Wissen über Baal Schem Tov geblieben ist, das sind die mit seiner Person zusammenhängenden Wundererzählungen. Worum es darin geht, das sind die Geschichten von Erzählern, deren Zuhörer an die darin angedeuteten Wunder glaubten. Sie ähneln mystischen Volkserzählungen, wo die Geschichten von einer heiligen Heldenfigur – wie etwa dem Baal Schem Tov – auf einen anderen Menschen weitergegeben werden können, mittels mündlicher Übertragung.
Solcherart Wundererzählungen aber gab es in der jüdischen Literatur-Tradition schon seit ganz alter Zeit. Spätestens jedoch seit dem 16. Jahrhundert begannen jüdische Gelehrte mit der Erforschung der Biografien verschiedener Heiliger, die aber oft lange nach ihrem Ableben als Helden verehrt wurden. Besonders wichtig zu wissen ist hier, dass diese Überlieferungen meist nur wenig zu tun hatten mit dem wirklichen Leben dieser Heiligen und Helden. Doch entzieht das ihrer spirituellen Wirksamkeit keineswegs ihre Kraft.
Es ging da eben um ein Wollen und Bedürfen der Erzähler und ihrer Hörer, wo in den dabei überlieferten Wundergeschichten jene Helden eher als zufällige Kristallisationspunkte dieser Anliegen dienten. Das heißt, dass die Erzählungen vom Baal Schem Tov, wie sie uns bis heute erhalten geblieben sind, immer auch eine ganz getreue Widerspiegelung bilden, der damaligen Gesellschaft in der man sie erzählte.
Wer die damit erzählten Legenden weitergab, der tat das in glühendem Eifer, zumal die Erzählungen an sich schon eine ganz eigene Magie übertragen, die in den dabei vermittelten Legenden und Sagen verborgen ist. Schon bei einer Beschäftigung mit der historischen Gestalt des Baal Schem dürfte die eine oder der andere in sich erfahren, welch Kräfte dabei wirken – auch ohne jemals zuvor von dieser Person erfahren zu haben. Es scheint, als würde sein Name selbst, das zu einer Erfahrung werden zu lassen, wofür er ja steht: Baal – der Meister, Schem Tov – die guten (heiligen) Namen.
Die besagten Geschichten von den Helden, die man da erzählt, künden von einem Gott der keine Helden zu ihrer Aufgabe beruft, sondern sie durch in gezeugt und zur Welt gebracht in die Welt kommen: als Menschensohn, Propheten, als Heilige. Wer als solcher zu diesem Amt berufen wurde, der geht ein ins Unendliche, doch bedarf dieser stets des Endlichen, dass heißt, den Bestandteilen unserer physischen Welt, in der er doch stets sein Werk vollbringen will.
Darum ist auch die Legende vom Baal Schem Tov keine Geschichte von einem bestimmten Menschen, sondern die Geschichte eines Berufenen und seiner Bestimmung, die ganz ohne Schicksal oder Historizität auskommt.
Die Magie des Hebräischen Alphabets
Für die jüdische Mystik war Sprache und die aus ihr geborenen Namen und Wörter schon immer ein geheimnisvoller, ja gar Ehrfurcht gebietender Gegenstand. So glauben die Kabbalisten, dass die Schechina – die heilige Gegenwart Gottes bei seinem Volk – ein in die Schöpfung hineingetanes Wort bildet. Darin formt es den Namen, der aus Gott selbst hervorging und zu dem sich dieses Wort dereinst auch wieder heimwendet. Es ist dieser Name gleichzeitig das Wort im Gedanken Gottes, sowie auch das Wort das im Menschen zuerst in seinem Geist erscheint. Darum vermag sich ein Kenner der Esoterik des hebräischen Alphabets und der daraus geformten magischen Wörter, wie etwa diese besonderen Gottesnamen „hineinzuversenken“. Man spricht dabei von „Kawwana“, der Kunst der Ausrichtung.
Dabei nun soll der Sprechende, der die Worte der Bibel oder die heiligen Namen Gottes betet, selbst in das Wort eingehen. Und so nämlich gelingt es ihm die darin verborgene Bedeutung und Kraft eines Namens auszudrücken, als träge er sein geheimes Inneres ins Außen, so dass ihre magische Bedeutung etwas zu seinem Heil und seiner Erneuerung zu führen vermag.
Wer darum die Buchstaben des hebräischen Alphabets kennt, der weiß, welche geheimen Korrespondenzen ihre Symbolik, ihre Zahlenwerte und ihre esoterischen Zuordnungen bergen.
Es sind eben diese Buchstaben aus denen Worte und Namen gebildet werden und in die sich die Seele des Eingeweihten hineinzubegeben vermag. Sodann gelingt ihm – so die kabbalistische Legende – das, was zerbrochen ist wieder zu einen, das was erkrankt ist wieder zu heilen. Und eben dazu war fähig der Baal Schem Tov.