Noch einen letzten Gedanken möchte ich zu den Mysterien des Atems zur Sprache bringen. Der Atem ist nämlich zugleich eine vollkommene Analogie auf das Wesen der menschlichen Freiheit. Dies also ist das Thema des letzten Kapitels: Atem und Freiheit.
Ist der Mensch frei? Ja und Nein. Irgendwie schon, denn als Mensch kann ich z.B. blinzeln, immer wenn ich es will. Ich kann mich, wenn ich nicht gerade gefesselt bin, im Kreise drehen, so oft ich es will, gehen, wohin ich will, machen, was ich will… Aber, so ganz stimmt das doch auch wieder nicht: Fliegen kann ich nicht mit meinem irdischen Körper einfach so. Ich kann mir auch nicht kaufen, was ich will, wenn ich kein Geld dafür habe. Wenn ich im Gefängnis sitze, dann kann ich nicht einmal gehen, wohin ich will.
Es schein also einerseits einen gewissen Grad der Freiheit zu geben und andererseits einen gewissen Grad der Einschränkung, des Zwangs. Nun, ebenso verhält es sich auch mit dem Atem. Klar, ich kann einatmen und ausatmen, wann und wie ich will, aber wenn ich einmal versuche, fünf Minuten lang nur auszuatmen, dann dürfte ich wohl schnell feststellen, dass es aus mir selbst heraus – genau genommen vom unteren Bewusstsein her kommend – einen Zwang gibt, der mich dazu bringt und mich dazu zwingt, nun doch wieder einzuatmen. Die Willkür des Menschen, sein oberes Bewusstsein also, hat demnach einen gewissen Spielraum. Überschreitet es allerdings bestimmte Grenzen, so kommt der Zwang, das untere Bewusstsein, ins Spiel und korrigiert gewissermaßen diese Grenzüberschreitung.
Beim Atmen kommt der Zwang immer dann ins Spiel, wenn der Mensch auf eine Weise atmen wollen würde, welche unnatürlich ist und das Leben gefährdet. Fünf Minuten lang nur auszuatmen ist ein Beispiel dafür. Ebenso ist es aber nicht nur im menschlichen Körper, sondern auch in der Welt. Denn dem Analogiegesetz folgend lässt sich das Leben des einzelnen Menschen als Abbild des universellen Lebens des Kosmos verstehen. Der Mikrokosmos entspricht dem Makrokosmos.
Was bedeutet dies nun konkret? Es bedeutet, dass in jedweder Beziehung, in welcher ein Mensch unfrei und gezwungen ist, eine Korrektur durch das universelle Leben stattfindet, welche tatsächlich heilsam und förderlich für die Seele des entsprechenden Menschen ist, auch wenn die Persönlichkeit dies vielleicht nicht anerkennen will.
Es gibt natürlich viele grausame Extremfälle auf Erden, in welchen ein solcher Zusammenhang kaum nachvollziehbar oder irgendwie gerechtfertigt erscheint. Die Auseinandersetzung auch mit diesen dunkelsten Seiten des Lebens ist natürlich wichtig für den spirituell und philosophisch Suchenden. Dennoch soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, da nur eine lange und ausführliche Untersuchung diesen Phänomenen gerecht werden kann. Es geht mir jetzt vielmehr darum, diesen Gedanken für den Alltag praktisch anwendbar zu machen.
Dies ist ein Experiment, welches von jedem Menschen unternommen werden kann: Immer dann nämlich, wenn ich einerseits etwas wünsche und danach strebe, andererseits aber bemerke, dass ich immer wieder durch äußere, vielleicht zufällig anmutende Zwänge und Einflüsse davon abgehalten werden, sollte ich mir zumindest die Zeit nehmen, einmal in Ruhe über diesen Wunsch nachzudenken oder zu meditieren: Ist dies wirklich förderlich für meine Seele und mein Leben? – Vielleicht werde ich dabei herausfinden, dass das, was ich zuvor noch als einen unnötigen, störenden Zwang und Zufall empfunden hatte, eigentlich eine helfende oder rettende Maßnahme des universellen Lebens war… Ein Beinbruch, eine verpasste Zugfahrt, eine plötzliche Erkrankung, ein Streit – all dies können Hilfsmaßen des Lebens sein, die den Menschen davon abhalten, seine Freiheit zu missbrauchen.
Das Leben, Gott, der Kosmos, liebt den Menschen über alle Vorstellung und manchmal muss die Persönlichkeit leiden oder der Körper Schaden nehmen, um die Gesundheit der Seele zu bewahren und/oder wiederherzustellen. Wer gesund atmet, den wird der Atem niemals zwingen, und wer seine Freiheit in gesundem Maße gebracht, den wird das Leben niemals zwingen. Wen der Zwang im Leben drängt, dem sei hiermit empfohlen, sich intensiv und ernsthaft mit den eigenen Wünschen und Absichten auseinanderzusetzen.
Schlussgedanken
Nach dieser kleinen Reise durch die Mysterien des Atems hat sich ein Eindruck hoffentlich tief in die Seele eingeprägt: Das Unscheinbare, das Alltägliche, das Allgegenwertige, dies ist zumeist der Schlüssel zu vielen großen und tiefen Mysterien. Der Atem verbindet den Menschen mit der ganzen Schöpfung, mit dem universellen Leben im Kosmos, dem Rhythmus des Lebens, der philosophischen Frage nach der Freiheit, den Fähigkeiten der praktischen Magie und vielen weiteren Aspekten, die in diesem Artikel nicht alle angeführt werden konnten.
Alles, was im Kosmos ist, das ist auch irgendwo im Menschen, und wenn der Mensch beginnt sich selbst zu erforschen, so beginnt er auch, das Weltganze zu erforschen und zu verstehen. Das ist das „Gnothi seauton“ (γνῶθι σεαυτόν), das „Erkenne Dich selbst!“, des Delphischen Orakels und dafür braucht der Mensch weder Computer noch Raumschiffe noch Geld noch Teilchenbeschleuniger, sondern einzig und allein seinen eigenen Körper, seinen Geist, seine Seele und sein gegebenes Lebensumfeld. Der Atem ist ein Aspekt des Menschen und durch seine Erforschung lässt sich ein Aspekt des Ganzen erfahren und ein Aspekt der ewigen, göttlichen Wesenheit. Forsche, hier und jetzt, Du selbst, bei Dir selbst und durch Dich selbst! Atem. Atem und Leben. Atem und Geist.