Unsere Psyche setzt sich aus vielen Teilen zusammen. Sie aber werden anscheinend alle aus uns selbst hervorgebracht, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst wären. Das innerste Seelenleben des Menschen scheint also zu basieren, auf einem großen Geheimnis.
Unsere Erziehung und unsere gesellschaftliche Konditionierung bedingt, wie wir unsere Gedanken äußern und wie diese in unseren alltagtäglichen Angelegenheiten fortwirken. Es geschieht aber meist unbewusst. Zwischen uns und unseren Mitmenschen, gibt es eine Ebene subjektiver Wahrnehmung, die sich aus all den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen unseres Seins zusammensetzt.
Wenn nun Dinge vorfallen, die sich nicht in dieses Netz der Wahrnehmung einordnen lassen, so wundern wir uns plötzlich, was wir in unserer Umwelt vorfinden; besonders dann, wenn es sich um etwas handelt, das unangenehm ist.
Die eher körperlich anhaftenden, triebbeinflussten Anteile unseres Selbst, haben zehntausend Gesichter, wie die Esoteriker sagen, worin sich uns unsere Psyche zeigt. Aus ihnen setzen sich unsere sprechenden Gedanken zusammen, während wir meinen immer die eine, selbe Stimme zu hören. Das scheint vollkommen normal zu sein. Doch mit unserem wahren Sein hat das nur wenig zu tun. Wenn auch sehr ernst zu nehmen und keineswegs banal, sprechen diese Stimmen immer nur hinter verschiedenen Masken und auch zu anderen: im Lateinischen genannt persona. Im wahren Sinne des Wortes also, ist ein Teil von uns, unsere Person, eine Maskierung – in der wir glauben anderen zu erscheinen. Und in diesen Masken menschlicher Persönlichkeitsanteile, zeigen sich ebenso unbewusst wie wir, auch unsere Mitmenschen.
Doch gibt es dahinter nicht ein wahres Selbst, das unveränderlich und unmaskiert bleibt und auch kennenlernen kann?
Wahres Selbst der Stille
Um dieses wahre Sein zu erfahren, braucht es Stille. Das heißt, nur wo die Gedanken sich vollständig beruhigen, wo es im Geiste kein Wort mehr gibt, dort fangen wir an zu sein und nehmen deutlich wahr, was tatsächlich ist.
Mit dieser Stille muss aber keineswegs akustische Ruhe gemeint sein. Eher ist es eine Stille des Nichtdenkens, dass uns das innerste Wesen unseres Seins erkennen lässt. Das klingt nun vielleicht etwas fabelhafter als eigentlich gemeint ist. Es geht aber um das Lösen von den Anhaftungen, die uns durch unser Denken, an die Objekte unserer Wahrnehmung bindet.
Was uns unsere Sinne, über die äußeren Wahrnehmungsorgane unseres Körpers vorzugeben scheinen, entsprechen aber nie dem Eigentlichen. Was bedeutet das?
Unsere Sinnesorgane nehmen ja immer nur die Oberflächen der Objekte unserer Umwelt wahr. Darum sind auch die damit entstehenden Gedanken, wie ebenso die wiederum daraus erwachsenden Emotionen niemals das, was tatsächlich ist. Und in diesem Sein lebt unser wahres Selbst. Nichts haftet ihm an. Es ist unzerstörbar, ewig und frei. Was sich aus unserem Denken und Fühlen immerfort an neuen psychischen Gebilden zusammensetzt, verändert sich ständig und ist damit nicht das, wofür wir es halten. Wie auch soll das, was sich ständig verändert, das bleiben was es schon immer war?
Trotzdem glauben wir in unserer alltäglichen Nicht-Bewusstheit, dass auch wir, immer die selbe Person bleiben, auch wenn sich unsere Zellen unaufhörlich teilen, wir ununterbrochen neue Eindrücke gewinnen und sich auch unsere Umwelt sekündlich ändert. Den meisten Mensch aber wäre es lieb, alles bliebe wie es immer war. In solchem Ansinnen aber täuschen sie sich über die Tatsachen des Lebens hinweg. Da Veränderung aber oft Schmerzen begleiten und das aus Erfahrung weiß, lassen die meisten lieber alles beim Alten, selbst wenn sie wissen, dass jede Veränderung auch Vorteile birgt.
Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.
– Chinesisches Sprichwort
Der Sprecher im Kopf
Viele Menschen erkennen nur schwer, dass es viele Welten in unserer Psyche gibt. Doch ab dem Zeitpunkt, da wir uns dessen gewahr werden, tauchen vor unserem inneren Auge, auf einmal, und endlich!, all die Widersprüche auf, die uns die verschiedenen Masken unserer Seele vorgeben zu sein. Es sind also Rollen die gespielt werden, auf der Bühne unseres »inneren Gedankentheaters«.
Aus dieser Illusion jedoch zu erwachen, sollte unbedingt langsam angegangen werden. Denn wir sähen, dass sich diese Persönlichkeitsanteile in uns, ständig ändern und ein gewisses Eigenleben führen, während wir glauben, alles sei beim Alten. Wer sich dem aber nicht bewusst ist, hält das »tagtägliche Gerede« in seinem Denken, für ein und die selbe Stimme.
Das Rad des Schicksals, 10. Trumpf der großen Tarot-Arkana.
Das Rad des Schicksals
Was dieses Denken ist, darauf weist eine alt-bekannte Darstellung hin, dass man auch in den 22 Großen Arkana des Tarot findet: Das Bild des Schicksalsrades. Die gegenwärtigen Gedanken die wir wahrnehmen, das, was da in uns spricht, ist jeweils ein anderes Wesen an diesem Schicksalsrad.
Was sich da dreht, dreht sich schnell. Vielleicht alle drei Sekunden, kommt ein anderes Ich zu Wort, auch wenn die Stimme die Selbe zu sein scheint. Doch was da spricht ist nur Teil einer vorübergehenden, einer jedoch niemals endenden Gedankenkette. Unzählige Assoziationen rauschen minütlich in unserem Denken.
Ein Selbst-Versuch
Wenn Sie es einmal selbst überprüfen möchten, wieviele Gedanken durch ihren Geist huschen, nehmen Sie einen Wecker und stellen sie ihn ein auf zehn Minuten. Dann setzten Sie sich hin, mit Stift und Papier, und schreiben alle Gedanken auf, die ihnen in den Sinn kommen.
Die meisten Menschen schaffen es nicht, dass auch tatsächlich zehn Minuten durchzuhalten!
Denn der menschliche Geist arbeitet einfach unablässig. Neue Gedanken tauchen auf, die uns mit Gefühlen und Emotionen erfüllen, aus denen sich unsere Reaktionen und Handlungen ergeben. Meist erfolgt es nach diesem automatischen Muster: Ein Gedanke führt zu einem Gefühl, woraus wiederum eine Handlung entsteht. Wer jedoch achtsam bleibt und dieses Muster in sich erkennt und verfolgt, der kann es auch unterbrechen. Und das ist ein Segen für alle, denen negative Gedanken zu schaffen machen.
Wer also seine Gedanken beobachten lernt, versteht allmählich auf welche Weise er sie wahrnimmt – ohne dabei an ihnen festzuhalten, ohne dass ihn die damit entstehenden Emotionen fortschwemmen.
Man lernt in diesem Gewahrsein, dass Gedanken vor Allem eins sind: vorübergehend. Jeder Gedanke löst sich wieder auf. Gedanken kommen und gehen, auch wenn ihr Denken ihnen vorgibt, sie blieben dauerhaft.
Automatische Kreisläufe unseres Denkens
So also wechseln alle paar Atemzüge die geistigen Eindrücke, die uns all unsere Fantasien, Wünsche, doch auch Befürchtungen und Ängste einsäuseln. Als Symbole für diese Fantasien, verwendete man in alter Zeit Tiere, da sie die animalische Natur unseres Egos widerspiegeln, das den Gegenpol zu unserer eigentlich göttlichen Natur darstellt.
Es wäre aber falsch zu glauben, das diese ständig wechselnden Anteile unseres Egos, alle von selber Art seien. All jene Gedankenkreisläufe bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Mal sind es negative Gefühle, mal ist es ein starkes Verlangen, mal ist es Angst, was uns motiviert.
Glück aber hat, wer von einem dieser Ego-Anteile erinnert wird, an das Hier und Jetzt.
Das tibetische Lebensrad der Reinkarnation
Im Buddhismus werden die oben erwähnten zehn tausend Gesichter des Ichs, in sechs Zustände der Existenz eingeteilt. Stirbt ein Mensch, so die buddhistische Geheimlehre, wird er in einer dieser sechs Zustände wiedergeboren.
Diese sechs Bereiche aber, weisen auf sechs Formen des Ichs einer Person hin. Sie symbolisieren verschieden geartetes Denken und Fühlen, woraus Impulse geboren werden, die einen Menschen zu bestimmtem Handeln führen. Gemäß dem Karma-Gesetz, führen diese Handlungen dann dazu, in einer Welt wiedergeboren zu werden, die diesen Handlungen entspricht.
Ein Ich tritt also in einer bestimmten, der folgenden sechs Welten auf, stirbt irgendwann und es folgt ein anderes Ich, das als Körper wieder in eine dieser sechs Welten geboren wird.
- Negative Gefühle und der Wunsch zu urteilen, führen die Seele in den Bereich der Höllenwesen,
- hungrige Geister, die bestimmt sind von schlechten Gewohnheiten und Begierden,
- rein instinktives Handeln, ähnelt den tierischen Impulsen eines Menschen,
- Handeln aus den intellektuellen und emotionalen Zentren der Psyche, entspricht dem menschlichen Dasein,
- Asuras (heilige Dämonen) und Halbötter pflegen hoch-geistige, spirituelle Gedanken, die aber noch nicht ausreichen, den wahren, göttlichen Urgeist zu enthüllen, und
- höchste Gottwesenheiten, die dem Ich dabei helfen, die gegenwärtige Einheit allen Seins wahrzunehmen.
Während der Zeitspanne eines Gedankens leben
Das oben verwendete Bild des Schicksalsrades, ähnelt dem Rad eines Wagens. Immer rollt es nur an einer Stelle und auch wenn es anhält, bleibt es immer an nur einer Stelle stehen.
So auch ist es mit dem Denken im Leben eines Menschen. Eigentlich ist es nur sehr kurz: ein lebendiges Wesen lebt sozusagen nur über die Zeitspanne eines Gedankens. Darum heißt es in den Weisheitslehren des Dao:
An einem einzigen Tag, wirst du tausendmal geboren und stirbst zehn tausend mal.
– Liu Yiming
Wie wichtig darum, gute, positive Gedanken über sich und über seine Mitmenschen zu denken. So bleibt einem eine Menge Unangenehmes erspart.
Kreislauf von Sein und Nichtsein
Was in Fernost, bei Hindus und Buddhisten, als unendlicher Kreislauf von Tod und Wiedergeburt bezeichnet wird, nennt man Samsara. Doch dieses Samsara ist eigentlich nichts weiter, als auch nur das Produkt unser eigenen Denkens.
Gemäß der Tradition des Mahayana-Buddhismus, kann man diesen ewigen Zyklus der Reinkarnation jedoch durchbrechen. Wem es gelingt wiedergeboren zu werden, im Reinen Land des westlichen Paradieses – jenem Lichtland des Buddha Amida – der kann dem schmerzhaften Kreislauf der Wiedergeburten entrinnen.
Der Buddha Amida (auch: Amitabha, “Buddha des Unermesslichen Lichtglanzes”) im westlichen Paradies, dem Reinen Land.
Dieses Reine Land steht für den Zustand vollständiger Gegenwart, der sich erhebt über die Erfahrung der vielen Anteile unseres Egos. Vielmehr erfährt er das, was er als Ich, früher immer mit seinem Selbst identifizierte, als etwas außerhalb seines wahren, seines Höheren Selbst. Dieses Selbst nämlich ist frei von Denken, gedanklichen Assoziationen und es haften ihm auch keine Emotionen an.
Wer diesen Zustand erreicht, dem ist gelungen die zehn tausend Gesichter, von denen oben die Rede war, auf eine einzige Wahrheit zu reduzieren. Dann sieht er klar und nichts wird ihn irritieren oder ängstigen, ist er doch vollbewusst in der Gegenwart: ohne Ergötzen an oder Bedauern über die Ereignisse der Vergangenheit – ohne Sehnsüchte in oder Sorgen vor der Zukunft.
Während die Unwissenden den Namen Amida rezitieren und beten im Reinen Land geboren zu werden, reinigen die Erleuchteten ihr Denken. Denn so rein wie das Denken ist, so auch ist das westliche Reine Land, als Essenz des eigenen Denkens.
– Huineng
Wer also auf seiner Lebensreise das reine Land des Buddha Amida erreicht, bewegt sich hinein in die göttliche Gegenwart und hat den ewigen Kreislauf des Samsara zurückgelassen. So zumindest, erklären es die Weisen des Buddhismus.