Der Begriff des Dao bildet den Kern der Weisheitslehren des chinesischen Weisen Laotse. Sein Daodejing, eine umfangreiche Spruchsammlung, beschreibt einen universalen Humanismus und den Weg eines tugendhaften Lebens. Niemand aber weiß wirklich, wer Laotse eigentlich war.
Viele Theorien gibt es über ihn, der in Illustrationen oft als alter Weiser mit langem weißem Bart dargestellt wird. Über sein Leben aber sind sich Historiker uneinig, denn weder weiß man, wann genau er geboren wurde (manche geben als Geburtsjahr 604 v. Chr. an), noch wann er starb. Da könnte man auf die Idee kommen zu fragen: Existierte Laotse überhaupt als historische Gestalt?
Antworten zu finden, auf diese eigentlich wichtige Frage, wäre eine Möglichkeit, mehr über diesen Weisen zu erfahren, der uns mit seinem Daodejing (auch »Tao Te Ching« oder »Tao Te King«) ein sehr wertvolles Schriftwerk hinterließ. Doch wer sich wirklich intensiv mit Laotses Daodejing beschäftigt, dem dürfte die Frage nach geschichtlichen Belegen für seine Existenz eher sekundär erscheinen. Und das wird deutlich besonders wenn es um seine wichtigsten Verehrer geht: Die Daoisten. Sie nämlich sehen in Laotse sogar einen Gott.
Seit Jahren gibt es immer wieder neue Anhaltspunkte, die vermuten lassen, dass er wohl doch in der einen oder anderen Form existiert haben mag. Die Wirksamkeit der ihm zugeschriebenen Lehren jedoch beeinflusst das kaum.
Als Alter Mann geboren?
Wenn es nun um jene ersten Autoren geht, die über Laotse schrieben, wäre da wohl der chinesische Historiker Sima Qian (145-86 v. Chr.) zu nennen. Er beschrieb Laotse als einen Zeitgenossen des Konfuzius (551-479 v. Chr.) der als kaiserlicher Beamter in den Staats-Archiven des Reiches von Zhou arbeitete.
Laotses Daodejing zählt zu den bemerkenswertesten Schriften der Menschheitsgeschichte, die für viele auch im Westen oft den Einstieg in die Welt des Geistigen, der Philosophie oder Spiritualität bildet. Der deutsche Sinologe Richard Wilhelm (1873-1930) bezeichnete das Werk Laotses als »Das Buch vom Weg des Lebens«. Doch ob man das Wort »Dao« allein als »Weg« (oder Methode) übersetzen kann, sei einmal dahingestellt. Der Begriff nämlich hat weitaus mehr Bedeutung, weshalb die moderne Sinologie rät, »Dao« als eigenständiges Wort unübersetzt zu gebrauchen. Es hat eben einen so universalen Charakter, zu dem sich Bezüge zu allen Bereichen des Lebens und des Seins finden lassen.
Darum auch wollte Laotse, meinen manche, mit dem Daodejing etwas wiederbeleben, das von ungeheuerem Wert ist für ein Verständnis für den Sinn des Seins. Doch erfand Laotse die im Dao wurzelnden Wahrheiten nicht neu. Sie entspringen einer uralten Weisheitstradition aus der Zeit des chinesischen Kaisers Huang Ti (2698 – 2597 v. Chr.). Er soll der Legende nach sogar Gründer des Daoismus gewesen sein. Und da Laotse diese alte Weltanschauung wieder ins Bewusstsein der Menschen brachte, sprechen manche über das Daodejing als »Lehre von Huang-Lao«.
Laotse auf jeden Fall war anscheinend gelungen, die Wirklichkeiten des Menschseins in sich so zu vereinen, dass er in den Versen des Daodejing alles Widersprüchliche in reine Weisheit umzuwandeln vermochte: Im übertragenen Sinne das Unzureichende in »Lauteres Gold«. Auch sein Name scheint auf solch Einheit zweier Gegensätze hinzudeuten. Sein Name nämlich setzt sich zusammen aus den Schriftzeichen »Lao« und »Tse«, wobei
- Lao einen gealterten Menschen bezeichnet, während
- Tse die Bezeichnung für ein Kind ist, einen Sohn.
Daher rührt wohl auch die Legende, dass er schon als er geboren wurde, bereits ein alter Mann war!
Als Mensch vermag jeder jung oder alt, sich mit dem Dao in der Stille und Selbstbesinnung zu verbinden. Darauf können wir Einfluss nehmen, woraus sich uns das wahre Leben zu offenbaren vermag – in all seinen vielen Erscheinungen, in seinem wahren, unverfälschten Wesen. Dao bildet dabei den rechten Weg, im Sinne einer besonderen Denkrichtung, aus deren Perspektive sich dem inneren Betrachter eine transzendente höchste Wirklichkeit und Wahrheit zu offenbaren vermag. Laotses Daodejing bildet hierzu eine Anleitung.
Qi: Die Essenz des Dao
Für Laotse war aller Ursprung des Lebens weiblich, wird doch eben alles aus der Mutter geboren (vergleiche etwa mit der gnostischen Weltanschauung der Mutter Sophia). Wem gelingt, sein Leben nach dem Dao auszurichten, kommt in Berührung mit der darin wirkenden, ursprünglichen Lebenskraft, die dadurch wirkt: Das Qi – auch bekannt als »Chi« oder »Ki« sowie im Titel des »Dao-De-Jing« als »De«.
Das menschliche Organ, das im Zentrum des Dao steht und mit den Wirkmechanismen des Qi arbeitet, ist das Herz (im Chinesischen »Xin«). Es ist das Zentrum vollkommenen Bewusstseins im Menschen, mit dem er versteht, wahrnimmt und empfindet. Durch dieses Bewusstsein tritt der Mensch sowohl im Außen in Verbindung mit anderen Menschen wie auch mit dem eigenen Selbst seines Inneren.
Als Vorbild für diese vorzügliche Fähigkeit begegnen wir im Daodejing an vielen Stellen dann der Gestalt eines Weisen. Er ist da jemand, der Meisterschaft über sich und das Leben erlangt hat und darum im Alten China auch als Vorbild galt, für ein vollkommenes, ehrenhaftes Königtum. Und das besteht gemäß dem Dao in der Zurückstellung der eigenen Wünsche, der Auflösung des Ego und letztendlich in der Entäußerung des Selbst – alles zum Wohle aller. Ein so vollendeter Weiser verweilt dann im Wirken, ohne Handeln, wo im Chinesischen die Rede ist vom »Wu Wei« – der vollendeten Fähigkeit gar ohne Worte andere zu belehren, was wohl eine recht schwer vorstellbare Art der Lehre ist, doch keineswegs nur symbolisch aufgefasst werden darf.
Tun: Ein Abweichen vom Gleichgewicht
So etwas wie das Nicht-Handeln des Wu Wei, mag dem westlichen Leser zunächst fremd erscheinen. Doch man vermag sich seiner Bedeutung mit dem Verständnis zu nähern, dass das Dao, welches Ursprung und Ziel aller Dinge ist, von selbst zum Ausgleich allen Wirkens drängt, ohne ein Wirken äußerlicher Einflüsse. Für Laotse war darum Tun ein Abweichen von dem durch Dao entstandenen Gleichgewicht. Im Daodejing lesen wir dazu:
Wenn der Herrscher unaufdringlich ist, wird sein Volk glücklich und zufrieden sein.
Wenn der Herrscher scharfsinnig und selbstbewusst ist, wird das Volk zu meckern beginnen und unzufrieden sein.
Auf dem Unglück ruht das Glück – auf dem Glück das Unglück.
Wer erkennt aber, dass es das Höchste ist, wenn kein Drang zu Ordnen besteht?
Denn sonst verkehrt die Ordnung sich in Wunderlichkeit, und das Gute verkehrt sich in Aberglaube.
Und die Tage der Verblendung des Volkes dauern wahrlich lange.
– Daodejing 2:58
Einer, der weich und biegsam bleibt, wie ein junger Baum, so Laotse, überlebt die »Stürme der Zeit«, das heißt: so jemand erlebt Probleme im Leben nicht als solche, sondern nimmt alles, ganz gleich was, als Gegeben an – eben so, wie es gerade ist, ohne Wertung, ohne Entgegentreten, ohne Empören, ohne Widerstand. Denn nur so lebt er in Übereinstimmung mit den Ursprüngen des Lebens. Wer darum sein Leben auf dem Weg des Dao gut zu führen weiß, den wird auch nichts wirklich verletzen können. So jemand eben greift in seinem Leben nicht in sein Schicksal ein, sondern tut nicht – und überlässt sich somit dem segensreichen Dao.
Weiche Wasser des Dao
Manches was heute auch in den allgemeinen Sprachgebrauch des Deutschen übergegangen ist, stammt ursprünglich aus den Lehren des Daodejing. Die oft gebrauchte Redewendung, dass »das Leben im Fluss« sei, zählt zu eben solchen Aussagen, wie man sie in Laotses Lehre findet. Manch Eigenschaft des Dao lässt sich nämlich wiedererkennen im Wasser, dass eben weich ist, nachgiebig und doch, aber allem Leben wichtig. Und es ist eben genau das Wasser, dass wie kein anderes Element für diese Nachgiebigkeit des Wu-Wei steht.
Was hart ist und sich zu einem besonders starken Wesen entwickelt, auf das vermag Wasser tatsächlich einzudrängen, wie etwa die großen Wassermassen, die bei einem Unwetter einem Damm zusetzen. Im Dao aber begegnet man der Wahrheit, dass das Weiche das Harte überwindet:
Was auch immer geschwächt werden soll,
muss zuerst stark gemacht werden.
Was gestürzt werden soll,
muss zuerst aufgerichtet werden.
[…]
So überwindet das Weiche das Harte
Und der Schwache den Starken.
»Es ist am besten, den Fisch unten in seinem Teich zu lassen;
am besten, man lässt die schärfsten Waffen des Staates, dort wo man sie sehen kann.«
– Daodejing 1:36
Wenn sich auch aus diesen Versen ein deutliche Hinweis auf eine Hingabe ans lebendige Sein herauslesen lässt, man sich also nichts widersetzen soll, bedeutet das jedoch auch nicht, dass man nicht für seine Mitmenschen eintretend Güte und auch Nachsicht üben soll. Aber das soll eben nicht erfolgen, indem man sich dem Üblen widersetzt, dem was Menschen schadet.
Das Herz des Weisen ist nicht dauernd gleich.
Das Herz des Volkes erhebt er zu seinem eigenen.
Dem Guten begegne ich gut,
Aber auch dem Bösen billige ich seine Existenz,
Und so erhält es Güte.
Dem Aufrichtigen begegne ich aufrichtig,
Aber auch dem Lügner begegne ich aufrichtig.
Denn darum ist Tugend Güte.
– Daodejing 2:49
Doch so etwas vermag nur jener in seinem Leben zu verwirklichen, der allen Ehrgeiz überwinden konnte. Laotse soll dies gelungen sein, was ihn ebensowenig greifbar machte wie eben das Wasser, das als solches ja im Zentrum der Doa-Lehre steht.
Die Höchste Dreiheit
Die Herren der Drei Reinheiten mit ihren heiteren Gesichter: Yüanshih Tientsun, Lingbao Tientsun und Laotse.
In gänzlicher Bescheidenheit und Zurückhaltung gegenüber seinen Mitmenschen und gegenüber der Welt widmete sich Laotse dem Dao und der dadurch wirkenden Lebenskraft Qi. Der Legende nach erreichte er damit ein Lebensalter von über 160 Jahren (manche sprechen sogar von 200 Jahren). Angeblich befand er sich im Besitz des Elixiers der Unsterblichkeit, wie etwa beschrieben in dem daoistischen Buch vom »Weg des Goldenen Elixiers«.
In der daoistischen Alchemie, nun ist die Rede von einem Fließen generativer Kräfte, die jedem Menschen innewohnen. Wer sie aber zu stoppen vermag, während er sich von geschlechtlichen Begierden reinigt, kann diese transmutieren in positive Lebenskraft. Damit soll ein ursprünglicher Lebensgeist im Menschen, der bereits vor der Entstehung der Welt existierte, wiederhergestellt werden können, mit dem Zweck, dem Menschen eine Rückkehr zu seinem ursprünglichen, unsterblichen Zustand zu ermöglichen – der dem Altern aller Körperlichkeit erhaben ist.
Laotse, als inkarnierter Mensch, soll dieses Wissen in sich verwirklicht haben und das besagte Elixier eben auf diese Weise in seinen Besitz gekommen sein. Daoisten aber gilt Laotse weit mehr als nur ein Meister in Gestalt irdischer Inkarnation. Vielmehr gleicht er einem geistigen, göttlichen Wesen. Und in diesem Zusammenhang begegnet man den sogenannten »Drei Reinen«. Sie stellen drei Ebenen der daoistischen Unsterblichkeit und Erleuchtung dar:
- Yu-Qing: Die Jadereinheit. Es ist der himmlische Bereich des Uranfangs (ursprüngliches Qi), repräsentiert durch den ehrwürdigen Herrn Yüanshih Tientsun.
- Tai-Qing: Die Höchste Reinheit. Hier wirkt der himmlische Herr des Heiligen Geistes, Lingbao Tientsun.
- Shang Ching: Die Große Reinheit. Das ist der himmlische Bereich des Herrn der Tugend, repräsentiert durch den vergöttlichten Laotse.
Daoisten nun halten die irdische Erscheinung Laotses, als Inkarnation letzterer kosmischen Gottheit, deren geistige Form auf ewig fortlebt. Darum auch repräsentierte das Auftreten Laotses, mit seiner Lehre des Daodejing, einen Weg der Erlösung, wo sich der Sucher, der Unsterblichkeit seiner Seele bewusst geworden, zu entfesseln vermag, von allen Lasten und aus aller Negativität.
Damit ist Laotse nicht nur eine vermeintlich historische Gestalt, sondern er vermag, als Repräsentation einer der Drei Reinen, in der Seele eines jeden Daoisten fortzuleben, was ihn gleichzeitig befähigt, selbst zu einem Laotse zu werden.
Laotse im Reich von Zhou
Lange Zeit lebte Laotse im Königreich von Zhou. Konfuzius soll ihn dort getroffen und in rituellen Angelegenheiten konsultiert haben. Seine Unterredung mit Laotse beeindruckte Konfuzius so sehr, dass er ihn nach seiner Begegnung überschwänglich lobte. Das mag wohl eine der wichtigsten Bemerkungen im Shiji sein, dem Buch des Sima Qian, was bestätigt, dass Laotse ein hochrangiger Zeitgenosse des Konfuzius gewesen sein dürfte. Von einer oder mehreren Begegnungen zwischen Konfuzius und Laotse, die als »Lao Dan« bezeichnet werden, wurde auch durch den chinesischen Weisheitslehrer Zhuangzi (365-290 v. Chr.) überliefert.
Laotse auf jeden Fall sollte auch den Niedergang des Reiches von Zhou erleben, worauf er das Land verließ. Doch niemand weiß, wo er sein Leben beschloss. Wie wir jedoch über den zuvor bereits erwähnten Historiker Sima Qian erfahren, ereignete sich bei seinem Abgang noch eine ganz wichtige Episode.
Die Legende vom Grenzwächter Xi
Nachdem Laotse seinen Abschied vom König des Hofes von Zhou erbeten hatte, suchte er sich als Reittier einen Wasserbüffel. Auf ihm ritt er gemächlich nach Westen, wobei sein Ziel vielleicht Tibet gewesen sein könnte.
Nach einiger Zeit erreichte er Hangu – den Grenzpass des Reiches (dieser trennt die Täler des Gelben Flusses vom nordchinesischen Tiefland). Dort traf er auf Xi den Grenzwächter, der von der Durchreise des Weisen bereits wusste. Xi war jedoch weit mehr als nur ein von der Staatsgewalt eingesetzter Hüter der Reichsgrenzen (und ein Astrologe und Weiser, den Daoisten als den »Minister der Reinen Jade« verehren). Er überredete Laotse, ihm über seine Weisheit etwas Schriftliches zu hinterlassen. So entstand gemäß der Legende das Daodejing.
Laut Aufzeichnungen späterer Daoisten sollte der Grenzwächter Xi, durch das geistige Wirken eines göttlichen Laotse, in die innersten Geheimnisse des Dao eingeweiht worden sein, worauf hin er selbst zu einem der »Xian« wurde: Einem Unsterblichen.
1 Kommentar
Die Lehre des DAO ist non
Die Lehre des DAO ist non-dual. Bedingungslose Liebe und Vergebung kommen ihm meiner Meinung nach am nächsten. Das Geheimnis der Kraft des DAO möge jeder selbst erforschen (“denn die Lilien am Wegesrand …”).