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Wu-Wei: Weisheit des Nicht-Tuns

Die folgende Erzählung soll die prinzipielle Weisheit des chinesischen »Wu-Wei« wiedergeben, erzählt aus Perspektive eines Schülers des Tao. Es ist das, was vor etwa 2.600 Jahren der chinesische Philosoph Laotse meinte, wenn er sprach vom Enthalten eines gegen die Natur gerichteten Handelns.

Ich stand im Tempel von Chien Chan, auf einer kleinen Insel im Chinesischen Meer. Lange Bergzüge, deren weiche Linien sich im Westen der Insel trafen. Gegenüber im Osten schimmerte das endlose Meer. Der Tempel stand auf felsiger Höhe, umgeben von riesigen Bäumen.

Die Insel besucht nur selten jemand und nur einige hundert Menschen leben hier. Es kommt jedoch vor, dass Fischer, die vor einem drohenden Sturm flüchten, hier Anker werfen, wenn sie keine Hoffnung mehr haben, ihren Heimathafen noch zu erreichen.

Ich nun war in der Hoffnung hierher gereist, einen alten Mann zu finden, über den es hieß, er besitze Einsichten in die chinesische Philosophie des Tao. Man nannte ihn den »Weisen von Chien Chan«. So also kam ich auf diese Insel, um nach ihm zu suchen. Doch es war unklar, ob ich ihn je finden würde. Darum hegte ich keine große Erwartungen, trotz meiner langen Reise hierher.

In der Nähe des Tempels hielten sich einige Menschen auf, die Priestern ähnelten. Da dachte ich, mich doch an sie zu wenden, mit der Frage, wo sich dieser Weise von Chien Chan wohl aufhielte. Einen der Männer fragte ich:

Wohnt nicht ein alter Einsiedler hier in der Gegend, der sich auf den Weisen Laotse beruft?

Der Priester sah mich kurz an, doch wandte sich mit verwundertem Gesicht von mir ab, als er antwortete:

Der Weise lebt auf der höchsten Spitze der Felsen dort. Für Fremde aber hat er nichts über.

Ziemlich überrascht über seine Antwort, fragte ich ihn dennoch, ganz ruhig:

Wollen Sie mich trotzdem zu ihm führen?

Er aber antwortete schlicht:

Nein. Bitte versuchen Sie ihn selbst zu finden.

So suchte ich eine Weile, bis mir ein freundlicher Inselbewohner einen Weg wies, der entlang der nahe gelegenen Felsen aufwärts führte. Schon nach etwa einer halben Stunde erreichte ich den Gipfel des großen Hügels, wo ich eine kleine Steinhütte fand. Ich klopfte an die Tür und hörte bald darauf jemanden einen Riegel zurückziehen.

Ein sehr charismatischer Mann öffnete die Tür und schaute mich verwundert an. Schon ihm gegenübergestanden zu haben war eine Offenbarung. Mir war, als umgebe ihn eine heilsame Ausstrahlung und als leuchte aus seinem Innern ein Licht vollkommenen Friedens. Das hatte auf mich eine ganz besänftigende Wirkung.

In mir stieg ein Gefühl auf, als vernehme ich das sanfte Rauschen der Blätter der uns umgebenden Bäume, über die sich alsbald der silbrige Mondschein legte, als das Dunkel eines milden Abends allmählich das Dämmerlicht verhüllte.

Sein ganzes Wesen atmete die Erhabenheit der Natur in einfacher Schönheit und schlichter Ungezwungenheit, so dass mir unter dem Blick dieses weisen Mannes fast beklommen zu Mute wurde. Kein Wort brachte ich über die Lippen. Er aber hob langsam seine Hand, bot sie mir herzlich und sprach:

Willkommen, Fremdling! Was führt dich zu mir altem Mann?

Ich suche einen Meister

antwortete ich demütig,

der mir einen Pfad weisen kann – einen Pfad der zu menschlicher Güte führt. Ich habe mein bisheriges Leben wie ein großes Land durchstreift, bin jedoch so arm geblieben als wie zuvor.

Du irrst dich etwas in deinem Streben

sagte der Weise.

Ich will dir die Geschichte erzählen vom Gelben Kaiser der seine wundertätige Perle wiederfand.

Dieser Kaiser reiste einst die ganze Nordküste des Meeres entlang und bestieg den höchsten Gipfel eines Berges. Als er nach dem Süden zurückreiste, verlor er seine wundertätige Perle. Er suchte sie mit großen Scharfsinn – doch leider vergebens. Er fragte mit gewandter Rede die Menschen die er kannte und die ihm zuletzt begegnet waren, ob sie die Perle vielleicht gefunden hätten – doch auch das war vergebens.

Schließlich versuchte er Nichts mehr – und Nichts fand die Perle. ‚Wie merkwürdig!‘ rief der Gelbe Kaiser aus, dass das Nichts im Stande ist, sie zu finden!‘

Verstehst du seine Rede, junger Mann?

fragte der Weise.

Durch Wissen, Sehen und Sprache verhüllt ein Mensch seine Seele, statt sie zu erleuchten. So konnte der Gelbe Kaiser nur im Frieden vollkommener Stille wieder zur Bewusstheit seiner Seele erwachen.

Ein unbestimmtes Gefühl der Gewissheit stieg in mir auf, als er kurz darauf mir wieder tief in die Augen sah und sprach:

Tao ist das Eine. ‚Es‘ ist der Anfang und das Ende. ‚Es‘ umfasst alle Dinge und alle dinge kehren auch in es zurück. Doch dieses ‚Es‘ hat an sich keinen Namen, denn kein Laut, kein Symbol vermag es in seiner eigentlichen Wirklichkeit auszudrücken – ist es doch das Eine, das Unterschiedslose, Allumfassende. Man nennt es ‚Wu‘, das Nichts.

‚Es‘ aber bildet eine unbedingte Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können und sie uns daher als Nichts erscheint. Was wir begreifen können, was für uns eine bedingte Wirklichkeit besitzt, ist in Wahrheit nichts als Schein. ‚Es‘ ist nur eine Wirkung, ein Ergebnis der unbedingten Wirklichkeit. Alles aber geht von dieser Wirklichkeit aus und kehrt auch wieder zu ihr zurück. Denn die Dinge, die wir als wirklich betrachten, sind an sich nicht wirklich. Was wir Seiendes heißen, ist in der Tat Nicht-Seiendes. Und gerade was wir Nicht-Seiendes nennen ist in Wahrheit das Seiende. So leben wir anscheinend in Dunkelheit. Denn was wir uns als das Wirkliche vorstellen, ist in Wahrheit unwirklich und stammt dennoch aus der Wirklichkeit der besagten Ganzheit. Demgemäß sind das Seiende wie das Nicht-Seinde beiderseits das Tao.

Vergesse jedoch nie: Tao ist nur ein Wort, das die Idee des Unwesenlichen ausdrückt.

Laotse sagte, dass alle Dinge, die von den Sinnen gewürdigt werden können, sowie auch alle Verlangen des Herzens, in Wahrheit unwirklich sind. Und doch gehen aus dem Tao Himmel und Erde hervor, sowie alles was darin lebendig ist.

‚Das Eine‘ zeugte Zwei, Zwei zeugten Drei, Drei zeugten Millionen.

Und Millionen kehren wieder in ‚Das Eine‘ zurück.

Wenn du dessen wohl eingedenk bleibst, junger Mann, so hast du das erste Tor auf dem Pfade zur Weisheit durchschritten. Dann weißt du, dass alles seinen Ursprung im Tao hat: Bäume, Blumen, Vögel, das Meer, die Wüste und die Felsen, Licht und Dunkel, Hitze und Kälte, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Gar auch dein eigenes Leben!

Welten zerstäuben und Meere vertrocknen in der Ewigkeit. Der Mensch reckt sich auf aus dem Dunkel, lacht ins schimmernde Licht und verschwindet. Doch in all diesen Wechseln des Geschehens offenbart sich ‚Das Eine‘.

Tao ist in Allem. Deine Seele in ihrem Innersten Wesen ist Tao.

Darum will ich dich fragen: Siehst du die Welt hier vor dir ausgebreitet?

Da wies er mit seinem Zeigefinger in langem Bogen auf das Meer und die hohen Berge vor uns, deren Gipfel in den blauen Himmel ragten, was man von hier oben ganz wunderbar betrachten konnte. Das Bild dass sich da vor uns zeichnete, mit seinen deutlichen Kontrasten, gab ganz allmählich in der Ferne dem sanften Spiel von Licht und Wolken nach.

Da stieg in mir auf einmal große Freude auf und ich hatte den Drang, was ich dabei empfand mit dem alten Weisen zu teilen und sagte:

Ich fühle es jetzt, o Meister! Was ich suche ist überall. Es hat keinen Sinn, danach in der Ferne zu suchen, ist es doch in mir jederzeit ganz nahe und doch auch überall.

Das was ich suche, was ich selbst bin, das ist meine Seele, was mir auf einmal so vertraut erscheint, wie mein eigenes Ich. Alles offenbart sich mir gerade, dass das was Tao heißt doch überall ist und in jedem Ding.

Darauf sagte er:

So ist es, doch halte dein Erkennen klar. Denn in allem, was du siehst, ist Tao. Doch ist Tao nicht das, was du da siehst! Du darfst dir nicht denken, dass sich Tao deinem Auge zeigt. Denn weder wird es Freude in deinem Herzen wecken, noch wird es dich traurig stimmen. Denn alle deine Erlebnisse und Gefühlsregungen sind nur bedingt und daher nicht eigentlich wirklich.

Schon bald aber könnte dich der Wechsel der Dinge kaum noch berühren, wird dich der Tod nicht mehr erschrecken. Denn du bist schon auf dem Weg, dass Tao in dein Leben kommt.

Er machte eine längere Pause. Wir wandten uns um und er bat mich in seine Wohnung einzutreten. Wir setzten uns und schwiegen eine ganze Weile, so dass ich nicht recht wusste, was jetzt geschehen war. Doch schien er absichtlich diese Unterbrechung zu halten, damit sich mein Übermut der Faszination beruhigen konnte, bis an seine Stelle ein Gleichmut trat. Da begann er seine Rede schließlich fortzusetzen:

Nun will ich zu dir sprechen vom ‚Wu Wei‘, dem, dessen Bedeutung sich vielleicht erst einmal als eine Art ‚Widerstandslosigkeit’ umschreiben ließe. Sie erfährst du in der Eigenbewegung aus dem Atem deines innern Wollens, wie es aus dem Tao in dir geboren wurde.

Du musst wissen: Wahres Menschsein besteht nicht im Tun. Es ist hingegen die Kunst das Leben aus sich selbst fließen zu lassen. Auch ein Baum oder eine Blume tut nicht. Ihre Knospen blühen in ihrer schlichten Schönheit, wenn die Zeit dafür reif ist.

In jedem Menschen lebt ein Streben nach jenem besagten Fließen hin, das, von Tao ausgehend, ihn wieder zu Tao zurückführen wird. Doch wegen ihrer Sinne und ihrem damit einhergehenden Verlangen, bleiben die meisten Menschen unwissend darüber. Sie mühen sich ein Vergnügen zu erleben, sich ihren Begierden hinzugeben, was alsbald umschlägt in sein Gegenteil. Oder sie sehnen sich berühmt zu werden und immer mehr zu besitzen. Doch all das aus reiner Unwissenheit, ist ihr Tun doch stets von Heftigkeit geprägt, mit der sie immer wieder neue Anläufe nehmen, um aber immer wieder zu stürzen und letztendlich doch zusammenzubrechen. Sie klammern sich an all das Unwirkliche, begehren sie doch einfach zu viele Dinge für ihr Leben. Von ‚Dem Einen‘ jedoch, von dem wir sprachen, wissen sie nichts. Aber auch sie begehren weise und gut zu sein, doch glauben es mit immer mehr Wissen erlangen zu können. Doch einer der wirklich weiß, ein wahrhaft Wissender ist, ist niemand der viel zu wissen braucht!

Ein Weiser folgt dem, was keiner Worte bedarf, was ewig ohne Ausdruck bleibt. Darum: Wer weiß, was Tao ist, schweigt darüber. Und wer darüber redet, weiß es nicht. Auch ich werde dir nicht sagen, was Tao ist. Du musst es ganz allein entdecken, indem du dich selber von all deinen Leidenschaften und Sehnsüchten befreist und unmittelbar aus deinem Herzen heraus lebst.

Unser einziges Heilmittel hierfür liegt darin, dass wir zur Quelle unseres wahren Ursprungs zurückfinden, der Quelle in uns. Es ist das Tao. Tao ist Ruhe. Und zu dieser Ruhe finden Menschen nur, wenn sie sich von allem Verlangen frei machen – selbst von dem Wunsch, gut und weise zu sein.

In Sanftheit soll ein Mensch sich Tao nähern – und das so voller Ruhe, wie aus dem weiten Meer sich die Wellen uns langsam nähern. Das Meer bewegt sich. Doch es bewegt sich nicht, weil es sich dazu entschlossen hat. Es bewegt sich einfach, ohne es zu wollen.

So wirst auch du in Tao zurückkehren. Und wenn du in es eingegangen bist, so wirst du es nicht wissen. Denn du selber wirst Tao sein.

Der Weise schaute mir in die Augen, mit mildem Blick. Tief in seinen Augen schimmerte ein stilles, erhabenes Leuchten. Da sagte ich zu ihm:

Vater, was du sagst ist herrlich und scheint so einfach zu sein. Doch ist es sicherlich nicht so leicht, ganz willenlos und nicht-tuend in Tao einzugehen.

Verwirre den Sinn der Wörter nicht.

ermahnte er.

Unter Nicht-Handeln, dem, das Laotse Wu-Wei nannte, verstand er keineswegs passive Untätigkeit und deutete damit auch kein bloßes Müßiggehen an. Er meinte vielmehr die Befreiung eines Menschen von weltlicher Geschäftigkeit, die doch immer einhergehen mit Begierden und Sehnsüchten nach all den Unwirklichkeiten des Lebens.

Wu-Wei fordert ein Handeln in allen Wirklichkeiten des Lebens. Es scheint ein Widerspruch zu dem bisher Gesagten, doch siehe: Was Laotse mit Nicht-Handeln, mit Wu-Wei meint, beschreibt die kraftvolle Bewegung der Seele, die aus der dunklen Körperlichkeit, aus ihrer erdgebundenen Schwere befreit werden muss, wie ein Vogel aus seinem Käfig. Damit meinte er, ein sich Ausliefern an die innern Gestaltungskräfte, über die jeder von uns verfügt und die uns aus dem Tao zufließen – doch unsere Seele auch wieder zurückführen ins Tao.

Glaube mir: diese Bewegung ist so natürlich wie die segelnden, goldenen Abendwolken über uns. In wundervoller Klarheit, ziehen sie über uns hinweg, doch nicht willentlich, sondern sich dem inneren Wirken des Tao hingebend.

Bald schon werden sie vergangen, werden sie verschwunden sein in der Unendlichkeit des Himmels. So wird auch deine Seele in Tao eingehen.

Ich antwortete:

Oft fühle ich mich von meinen Begierden belastet. Und ebenso kommt es mir vor bei den Menschen die mich umgeben. Wir irren wie durch die Nacht eines nicht enden wollenden Schlafs. Wie kann in unser Leben jemals die Reinheit des Tao zuströmen? All die Übel bürden sich ihm auf, so dass es vor unseren Augen wie in einen Sumpf der Unwissenheit zurückversinkt.

Langsam ummalte ein gütiges Lächeln die Züge seines Gesichts, worauf er schließlich sprach:

Keiner kann Tao vernichten. Es gleicht einem Licht, das unauslöschbar in unserer Seele leuchtet. Das ewige Tao wohnt in jedem von uns, wir tragen es in uns wie einen unzerstörbaren Diamanten.

Nichts als Selbsttäuschungen, sind die sogenannten ‚Sünden‘ der Menschen, sind unbestimmt wie neblige Ströme, wo ihr dabei Getanes nur scheinbar passiert, wo ihr Gesagtes stirbt wie ein flüchtiger Traum. Unwiderstehlich ist der Zauber der vom Tao ausgeht, dem ewigen Meer gleichend das einen Wassertropfen in sich zieht.

Mag sein, dass es bei manchen etwas länger dauert, bis sie ihre Ziele im Leben erreichen. Nur das ist, was den Unterschied der Wirkungen des Tao in uns auslöst.

Man kann sich sehr bemühen, gut zu sein. Doch immer führt einen das in den Verdruss über all die sogenannten ‚Vergehen‘, die damit einem nur in grellem Licht erscheinen. Bald schon ist man dabei, sich über das Besagte hinwegzutäuschen, indem man von seinen Mitmenschen noch mehr Güte und Aufrichtigkeit verlangt. Doch das ist wohl noch ein Grund mehr zur Sorge.

Tao ist weder gut noch böse. Es ist das Wirkliche, denn nichts als Tao ist. Darum versuche auch nicht gut zu sein und lass davon ab, von dir zu glauben du seist nicht gut genug oder gar schlecht.

Wu Wei ist der Weg, der dich nur aus innerstem Antrieb handeln lässt, nicht schlecht, nicht gut, nicht falsch, nicht wahr. So sollst du sein und erst so wirst du zur Wirklichkeit finden: frei von allem Schein, von allem Begehren, von aller Lust. Dann wirst du, aus deinem Herzen handelnd, nicht einmal mehr wissen, dass du handelst. Schon bald erfüllt dich ein Fließen, so leicht und unbewusst, wie die kleine Wolke am sommerlichen Himmel über dir.

Ein Gefühl inneren Friedens erfüllte mich. Ich war ihm sehr dankbar, denn was ich da von ihm erfuhr fühlte sich an wie ein sachtes Vorwärtsgetragenwerden, ein Gefühl das mir vollkommen neu war.

Der Weise sah mich an und erkannte meine offensichtlich noch unerfahrene Haltung zu dem, was ich da erlebte. Nicht, dass er mich gewarnt hätte, doch deutete er auf etwas hin, dass ihm wohl an mir aufgefallen war, als leicht überschwängliche Stimmung und einem Wunsch nach mehr.

Begehre nicht mehr davon!

sagte er.

Verlange nicht nach zu viel Wissen. Denn alle Erkenntnisse, zu denen wir durch Anstrengungen gelangen, führen vom Tao weg. Strebe Du also nicht danach, alles zu wissen, was die Menschen und Dinge um dich angeht. Suche darum weder nach Glück noch fürchte dich vor Leid, Lust ist nicht und Schmerz ebenso wenig. Keiner dieser Zustände ist wirklich, sondern gehen aus vom Tao – dem Einen, dem All, das keinen Missklang in sich trägt.

Eines Tages wirst du erkennen, wie natürlich, wie von innen heraus, sich alles Dasein in all seiner Mannigfaltigkeit entbreitet. Dann werden alle deine großen Fragen sein wie Wu-Wei.

Wu-Wei ist ganz einfach. Es wächst aus dem Tao, als ein organisches Glied allen Geschehens, welches aus einem einzigen, grundlegenden Gesetz hervorgegangen ist. Nichts mehr wird dich dann, sobald du das erkannt hast, noch betrüben oder erfreuen, dich weder zum Lachen noch zum Weinen bringen.

Unweigerlich führt dich das in einen inneren Zustand tiefer Ruhe, womit du vollkommen übereinstimmst mit dem Tao. Es wird dir die absolute Gewissheit verschaffen, dass aller seelischer Schmerz eines Tages verschwinden muss, da er eigentlich unwirklich ist, was im Übrigen auch für die Freude gilt. Das gibt dir die Kraft, einen Menschen so zu sehen, wie er ist, ohne ihn zu lieben noch ihn zu verabscheuen, ist er doch zu deinem »Bruder in Tao« geworden.

Sobald es dir gelungen ist, dich aus dem gewöhnlichen menschlichen Dasein gelöst zu haben, wird zum ersten Mal alles mit dir in Ordnung sein und du wirst nicht mehr nur in den Tag hineinleben. Weder wirst du nachts noch träumen, noch am Tage versuchen ein Selbstbewusstsein aufzubauen. Es ist schlicht nicht mehr nötig, da du im Wu-Wei das Tao erkannt hast und es in allem in der Natur zu fühlen vermagst, wovon dein Selbst ein Teil ist und wo du alle Gegensätze erkennst als etwas, wozu der gewöhnliche Mensch Haltung bezieht: die Unterschiede von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Leben und Tod spielen für dich eine andere Rolle dann, als zwei Aspekte des Einen, Unterschiedslosen, Ganzen, Ungeteilten.

Alles was er sagte regte mich an zum Nachdenken. Alles was er sagte war so klar und in sich schlüssig. An dem was ich vernahm blieb kein Zweifel. Doch das Leben war mir dennoch so lieb und ich fürchtete mich vor dem Tod, was ich insbesondere schlimm empfand bei dem Gedanken, dass meine Freunde und die Menschen die ich liebe sterben könnten. Da sagte ich zu ihm:

Wenn ich an den Tod denke, so bleibt er für mich düster und angsteinflössend. Das Leben aber strahlt und gibt mir Mut. Alles in der Natur macht es mir vor, denn wenn sich im Sonnenlicht des Frühlings alles aufrichtet und zur Blüte kommt, bedeutet mir das Inspiration und Kraft.

Da antwortete er:

Ebenso wie das Leben, besitzt der Tod eine vollkommene Natürlichkeit. Deine Sicht ist noch zu sehr von dem Empfinden geprägt, was sein wird wenn dein Körper im tiefen Grabe versenkt liegt. Tod bedeutet für dich der Gegensatz zum Leben. In Wahrheit aber sind beide unwirklich, da sie auf körperlicher, seelischer und intellektueller Ebene geschehen. Was wirklich ist, ist deine Seele in dir. Niemals wird sie sterben. Was du am Tod fürchtest gehört nicht deiner Seele an. Überwinde diese Furcht. So wirst du auch nicht mehr um jene in deinem Leben trauern die du liebst und deren Seelen heimgekehrt sind, da du weißt, dass deine Seele mit den ihren eines Tages wieder vereinigt sein wird.

Ich konnte nichts mehr sagen und starrte vor mich in die Dämmerung, als auf einmal eine große Traurigkeit über mich kam. Mir kamen die Tränen, als ich den Weisen fragte:

Und was wird dann aus Freundschaft und was aus Liebe?

Seine Augen schimmerten aus der Dunkelheit in einem weichen Glanz, als er mir vorsichtig antwortete:

Wovon du sprichst, sind die wertvollsten Dinge im Leben eines Menschen. Sie gleichen der ersten Regung des Tao in dir. Eines Tages aber wirst du nichts mehr davon wissen, ebenso wenig wie ein Strom noch an seine Ufer denkt, sobald sich seine Wasser ins endlose Meer ergießen.

Und doch heißt das ganz bestimmt nicht, Liebe aus deinem Herzen zu verbannen! Ist die Liebe doch ein Prinzip aus dem Strom des Tao. Darum liebe was du liebst und lass dich dabei nicht irreleiten. Da Liebe den wohl bedeutendsten Aspekt des Tao bildet, würde es dich vom Tao entfernen, wenn du deine Liebe unterdrückst. Ich rede mit dir von den höchsten Dingen des Seins, die alle aus dem Tao geboren ihren eigentlichen Zweck erfüllen. Und dies geschieht auch durch dich, der du im Wu-Wei lebend, dich allen Tuns enthältst, das sich gegen die Natur richtet, dass sich versucht dem Tao zu entziehen.

Er entzündete ein kleines Licht, gab mir seine Hand und führte mich entlang eines kleinen Weges etwas unterhalb seiner Steinhütte. Als wir dort ankamen, zeigte er mir mein Zimmer, in dem ich übernachten könnte.

Ich danke dir, Vater, von Herzen.

sagte ich und fügte hinzu

Wann werde ich dir wohl je meine Dankbarkeit zeigen können?

Er aber lächelte mir zu, verneigte sich schweigend vor mir und ließ mich allein.

1 Kommentar
  1. Lieber Selim,

    Wu-Wei spricht mir aus dem Herzen, tönt so einfach und ist doch so schwer für uns “Wessis” umzusetzen… aber wie mit allem im Leben.. auf das Herz hören und dran bleiben, Tag für Tag….

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