Im Sufismus ist die Rede davon, dass in jeder Menschheitsepoche fünf universale Lehrer auftreten. Jeder von ihnen bildet einen spirituellen Pol, wo man im Arabischen vom »Qutub« spricht. Solch ein Lehrer offenbart sich einer auserwählten Gruppe von Mystikern, die sich nach direkter Gotterkenntnis sehnen.
Wenn die Rede ist vom Qutub fällt da als Synonym auch der Begriff des Al-Insan Al-Kamil. Das ist ein Mensch der in dauernder spiritueller Verbindung ist mit Gott. Was dieser dabei als Wissen aus den Hierarchien des Göttlichen empfängt, das gibt er weiter an jene, die eine für dieses Wissen entsprechende Empfänglichkeit besitzen.
Den Sufis gilt der Qutub als spiritueller Pol, worin die Attribute des Göttlichen am deutlichsten zum Ausdruck kommen. Dieser Pol bildet den Ursprung einer universalen Achse, um die sich der Geist jener dreht, die Zugang zu ihm finden (vergleiche etwa mit dem Bild der drehenden Mevlevi-Derwische von Konya). Der alltäglichen Welt aber bleibt der Qutub unbekannt, bleibt ihr ein Geheimnisvoller, ein Verborgener – während er jedoch den Heiligen als universeller Führer gilt.
In seinem Auftreten aber liegt die besondere Eigenschaft, dass er der einzige spirituelle Lehrer ist, auf den sich immerzu der Blick Gottes richtet. Wendet sich dem Qutub ein Mensch zu, wird er zu dessen Helfer, denn durch seine göttliche Verbindung verfügt er über alles nur von Menschen erlernbare Wissen, was ihn zu jemandem macht, der zu seiner Zeit Gott am besten kennt. Der Qutub aber ist einer, der zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen vermittelt und dessen Anwesenheit für die Existenz der Welt als notwendig erachtet wird (für den indischen Guru Meher Baba zählten zu den oben genannten fünf vollkommenen Meistern Sai Baba von Shirdi, Upasni Maharaj, die Sufi-Mystikerin Hazrat Babajan, Hazrat Tajuddin Baba und Narayan Maharaj).
Das solch spiritueller Menschheitsführer tatsächlich auftrat, dazu finden sich Hinweise in den Schriften des chorasanischen Mystikers Al-Hakim Al-Tirmidhi (820-930), der darin ein Oberhaupt der Hierarchie der Heiligen erwähnt. Ebenso in einem noch älteren Hadith (einem Bericht über Aussprüche des Propheten) des Ibn Masud (†652), einem wichtigen Gefährten des Propheten Mohammed (as), ist die Rede vom Qutub.
Zeit und Kosmos
Nun ist bei den Sufis die Rede von zwei verschiedenen Qutubs:
- Ein zeitlicher Qutub ist als Al-Ghawth bekannt, »der Helfer«, und erscheint als Mensch auf Erden. Er ist der spirituelle Führer für die erdgebundenen Heiligen.
- Ein kosmischer Qutub repräsentiert die Achse des Universums in einer höheren Dimension. In ihm manifestiert sich die göttliche Macht des zeitlichen Qutub, was ihn damit zum Inbegriff aller Tugend macht.
Bei den Sufis heißt es, dass alle Wesen – geheime, lebendige und unbelebte – dem Qutub ihre Treue versprechen müssen, was ihm damit natürlich eine ungeheuere Autorität verleiht. Ausgenommen davon aber sind die zu den Engeln zählenden Al-Afrad und die Dschinnen (Genien).
Aufgrund seiner außergewöhnlichen Natur aber ist der Aufenthaltsort des Qutub unbekannt. Die meisten Sufis aber vermuten, dass der Qutub körperlich oder geistig in der Kaaba in Mekka weilt.
Im Zentrum von Allahs Blick befindet sich der Qutub, als oberster Zeuge der göttliche Einheit. Damit ließe sich das islamische Glaubensbekenntnis der Schahada,
Es gibt keinen Gott außer Gott
auch so verstehen:
Es gibt kein Zentrum außer dem göttlichen Zentrum
oder
Es gibt keine Achse außer der göttlichen Achse.
Die Schahada nun schließt ja aber mit der Aussage:
Mohammed ist der Gesandte Gottes
was darauf hindeutet, dass er die Manifestation einer Einheit auf der Ebene der Vielheit ist. Und diese Einheit repräsentiert die Axis Mundi, die Weltachse, deren irdischer Pol der Qutub ist und der damit die ihm, von Gott überlassene Welt heiligt.
Und so wie sich die Kraft des Qutub im makrokosmischen Weltenpol manifestiert, auf die gleiche Weise manifestiert sich das göttliche Zentrum im Herzen des Mystikers.