Christliche Mystik

Guido Cavalcanti...

1250-1301

Für mein Denken hast du alles Wertvolle gesehen,
Alle Freude und so viel Gutes, wie ein Mensch nur wissen kann,
Wenn du in seiner Macht wärest, der hier unten
Der hier unten der Ehre gerechter Herr ist auf Erden.
Wo das Böse stirbt, da wird es auch geboren,
Dessen Gerechtigkeit aus dem Mitleid wächst.
Sanft wird er gehen zu den Schlafenden,

Und ohne Schmerz ihnen entreißen das Herz.
Dein Herz nahm er, denn er wusste wohl, ach!
Dass der Tod deine Frau zur Beute gemacht hat:
Aus Furcht davor, nährte er sie mit deinem Herzen.
Doch als er traurig zu scheiden schien,
Süß war da ihr Traum; denn durch dieses Zeichen, sage ich,
Das Gegenteil wird gewiss eintreten.

Wer ist sie, die da kommt?
Wer ist sie, die da kommt, auf die alle blicken,
Die die Luft mit Licht erbeben lässt,
Und an deren Seite die Liebe selbst ist, so dass keiner
Zu sprechen wagt, doch jedes Menschen Seufzen ist unendlich.
Ach, wie sie sich umschaut von links nach rechts,
Lass die Liebe reden: Ich darf nicht darüber sprechen.

Die Dame scheint von so hohem Segen
Die alle andern in den Augen der Menschen unwürdig macht.
Die Ehre, die ihr gebührt, kann nicht gesagt werden;
Dem alles Tugendhafte unterworfen ist,
Während alle schönen Dinge ihre Gottheit besitzen.
Niemals wurde der Geist des Menschen so edel geführt,
Und noch nie wurde uns eine solche Erlösung zuteil
Dass wir sie je vollkommen erkennen.

- Antwort an Dante Alighieri

Dante Alighieri...

1265-1321

An jedes Herz, das der süße Schmerz bewegt,
Und dem diese Worte nun gebracht werden können
Zur wahren Deutung und zum freundlichen Gedenken,
Sei gegrüßt im Namen unseres Herrn, der die Liebe ist.
Von jenen langen Stunden, in denen die Sterne droben,
Wachen und wachen, war die dritte fast nichtig,
Als die Liebe mir mit solchen Schrecken gezeigt wurde

Von denen nicht leichtfertig gesprochen werden darf.
Da erschien er wie einer, der voller Freude ist und
Mein Herz in seiner Hand, und auf seinem Arm
Und auf seinem Arm schlief mein Fräulein, in einen Mantel gehüllt;
Die er, nachdem er sie weckte, sogleich dazu brachte
Das Herz zu essen; sie aß, als fürchtete sie Schaden.
Dann ging er hinaus; und während er ging, weinte er.

- An die Fedeli d'Amore

Wilhelm von Poitou...

1071-1127

Freudig in der Liebe, mache ich mein Ziel
Immer tiefer in der Freude zu sein.
Die vollkommene Freude ist das Ziel für mich:
Drum fordere ich für mich die vollkommenste Dame.
Ich habe ihre Augen gefangen. Alle müssen ausrufen:
Sie ist die Schönste, die man gehört und gesehen hat.

Du weißt, ich würde meinen Ruhm nie auf Prahlerei.
Wenn wir jemals eine blühende Freude sehen werden.
Eine blühende Freude, diese Freude, frei ausbrechen,
Sollte solche Früchte tragen, die kein Mensch nennen kann,
Und unter den anderen eine Flamme entzünden.
Die in der Finsternis leuchtet.

Rudolf Steiners Vision...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Für ein Neues Bewusstsein

Im Jahr 1899 veröffentlichte Rudolf Steiner in einem Magazin für Literatur einen Artikel mit dem Titel »Goethes geheime Offenbarung«. Hierin ging er ein auf die esoterische Bedeutung von Goethes »Mährchen von der Grünen Schlange und der Schönen Lilie«. Wegen seiner Auslegung dieses recht außergewöhnlichen Kunstmärchens erhielt er eine Einladung des Theosophen und späteren Anthroposophen Cay Lorenz Graf von Brockdorff.

Rudolf Steiner mit Annie Besant - ewigeweisheit.de

Rudolf Steiner mit Annie Besant im Jahr 1907, während der Münchener Konferenz der Theosophischen Gesellschaft Adyar.

Im Hause seines Gastgebers sollte er vor einer Versammlung von Theosophen einen Vortrag zum Thema Friedrich Nietzsche halten.

In Folge dieser Veranstaltung durfte er sich über weitere Einladungen freuen, in denen er, wenn man so will, seine ersten »Esoterischen Vorlesungen« hielt, die sich, wiederum auf einer okkulten Ebene, mit dem gerade erwähntem Märchen Goethes befassten. Trotz das Rudolf Steiner bis dahin der Theosophischen Gesellschaft eher ablehnend gegenübergestanden hatte, hielt er seit dieser Zeit wiederholt vor ihren Mitglieder Vorträge. Dieser Kreis von Zuhörern sollte sogar sein wichtigstes Publikum werden. Mit dieser Vortragstätigkeit konnte er sogar einen Lebensunterhalt bestreiten.

Schließlich wählte man Rudolf Steiner 1902 zum Vorsitzenden der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar. In den kommenden Jahren wuchs die Deutsche Sektion ganz rapide an, was die Gesellschaft der Vortragstätigkeit Steiners zu verdanken hatte. Gemeinsam mit seiner Frau Marie von Sievers-Steiner gründete er in Berlin dann das Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft, einem Ort der zum wichtigsten Zentrum der Theosophie im damaligen Deutschen Reich werden sollte.

Ab 1904 ernannte die englische Theosophin Annie Besant (1847-1933) Rudolf Steiner zum Vorsitzenden der Esoterischen Schule der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland und Österreich. Steiner jedoch bestand darauf in seiner Arbeit und dem Wirken der Schule, sich insbesondere auf eine westliche Spiritualität zu konzentrieren.

1907 verstarb der ehemalige Gründer und damalige Präsident der Theosophischen Gesellschaft Adyar, Henry Steel Olcott. Ihm sollte dann Annie Besant in ihrer Rolle als neue internationale Präsidentin der Gesellschaft folgen. Nachdem sie aber noch im selben Jahr am internationalen Kongress der Theosophischen Gesellschaft in München teilnahm, die Rudolf Steiner mit seiner Frau veranstaltet hatten, kam es allmählich zu Differenzen zwischen Steiner und Besant. Dafür gab es einige Gründe. Einer dafür war die von Steiners Frau Marie für die Konferenz choreografierte Inszenierung und Aufführung eines modernen Mysteriendramas nach Eduard Schuré. Diese Neuorientierung störte viele der Teilnehmer.

Ein großer Teil der alten Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft aus England, Frankreich, namentlich aus Holland waren innerlich unzufrieden mit den Erneuerungen, die ihnen mit dem Münchner Kongress gebracht worden sind. — Was gut gewesen wäre, zu verstehen, was aber damals von den wenigsten ins Auge gefasst wurde, war, dass mit der anthroposophischen Strömung etwas von einer ganz andern inneren Haltung gegeben war, als sie die bisherige Theosophische Gesellschaft hatte. In dieser inneren Haltung lag der wahre Grund, warum die anthroposophische Gesellschaft nicht als ein Teil der theosophischen weiterbestehen konnte. Die meisten legten aber den Hauptwert auf die Absurditäten, die im Laufe der Zeit in der Theosophischen Gesellschaft sich herausgebildet haben und die zu endlosen Zänkereien geführt haben.

- Rudolf Steiner in seiner Autobiografie »Mein Lebensgang«, über den Kongress der Theosophischen Gesellschaft 1907 in München

Unabhängig von diesen Meinungsverschiedenheiten aber weitete sich Rudolf Steiners Popularität in Kreisen der Theosophen immer weiter aus, was bald weit über die Grenzen Deutschlands reichte. Annie Besant schien das weniger zu gefallen. Bangte sie womöglich um ihre Position als Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft?

Die damals entstandenen Zänkereien in der Theosophischen Gesellschaft ließen auf jeden Fall nicht nach. Insbesondere als der junge, jedoch außergewöhnliche Inder Jiddu Krishnamurti unverschuldet in die Kampfzone zwischen Steiner und Besant geriet, schien das Fass endgültig überzulaufen. Gemeinsam mit ihrem Vertrauten, dem Okkultisten und Theosophen Charles Webster Leadbeater (1854-1934) – einer recht umstrittenen Figur in der Geschichte der Gesellschaft –, schrieben sie Krishnamurti eine messianische Erscheinung zu und wollten in ihm gar die Inkarnation des Maitreya oder den Nachfolger Jesu Christi erkannt haben. Rudolf Steiner und ein Großteil der deutschsprachigen Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft empörten sich über diese Entwicklung in Adyar. Er und andere kehrten von da ab der Theosophischen Gesellschaft Adyar den Rücken. Es soll dabei aber nicht unbemerkt bleiben, dass Besants Ernennung Krishnamurtis als neuen Weltlehrer, auch die Gemüter vieler anderer Theosophen erhitzte. Später sollte Krishnamurti den um ihn gegründeten Sternorden (eigentlich »Order of the Star in the East«) selbst auflösen, was die Theosophische Gesellschaft Adyar in eine weitere Krise stürzte.

Im weiteren Verlauf kam es schließlich zur Loslösung Steiners von der Theosophischen Gesellschaft. 800 Steiner-Anhänger trafen sich im August 1911, um über eine eigene Gesellschaft zu beraten, worauf man ab Dezember des selben Jahren eine Trennung von Adyar in Erwägung zog. Nach weiteren, teils absurden Streitereien um den kommenden Weltlehrer, schloss Annie Besant die Anhänger Rudolf Steiners im März 1913 aus der Theosophischen Gesellschaft Adyar aus. Damit war die faktische Trennung vollzogen, worauf sich die Deutsche Theosophische Gesellschaft umbenannte in Anthroposophische Gesellschaft.

Die Christus-Thematik in Steiners Werk

Auch wenn man das Wort Anthroposophie heute noch mit Rudolf Steiner assoziiert, begann diese Richtung der Geisteswissenschaften keineswegs erst mit ihm. Bereits in der frühen Neuzeit stand das Wort Anthroposophie für die Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Natur. Man fasste den Begriff als eine Fähigkeit des Menschen auf, der in sich, in einem mystischen Vorgang, zu Gott und Welt durch geistige Einsicht fand.

Steiner verwendete den Begriff 1902 in einer Vortragsserie mit dem Titel: »Von Zarathustra bis Nietzsche – Entwicklungsgeschichte der Menschheit anhand der Weltanschauungen von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposophie«. Die Bezeichnung Anthroposophie als eine erweiterte Sinneslehre, benutzte Steiner erst 1909.

Besonders an Steiners Anthroposophie, ist seine Konzentration auf die christliche Mystik und das Rosenkreuzertum. Nicht ohne Grund kam es durch Rudolf Steiner während der Abspaltung von Adyar, zur Gründung eines Bundes zur Pflege rosenkreuzerischer Geisteswissenschaft, wo eine Christus-Symbolik im Zentrum stand.

Jiddu Krishnamurti - ewigeweisheit.de

Der junge Jiddu Krishnamurti (1895-1986): Der später durch die Theosophin Annie Besant ausgerufene »Neue Weltlehrer und Nachfolger Christi«.

Ein esoterisches Christentum

Wie bereits erwähnt war der junge Steiner durchaus als Freigeist hervorgetreten, der sich in seinen Arbeiten auch nicht scheute auf solch skandalumwobene Philosophen wie Friedrich Nietzsche einzugehen. Wohl von Nietzsches Buch »Der Antichrist« inspiriert, erschien ihm das zeitgenössische Christentum einfach nur als pathologisch veränderte Religion. Damit meinte er insbesondere die kirchlichen Dogmen der katholischen Scholastiker, die das Christentum auf wissenschaftliche Weise analysierten und in ebenso grotesker Weise zu erklären versuchten.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert aber vollzog Steiner einen radikalen Wandel. Seine ursprüngliche Ablehnung schien sich vollkommen zu verkehren. Von da an fand er in den Lehren des Christus Jesus eine universale Mystik, die sogar zum zentralen Thema seiner zukünftigen Arbeit werden sollte. Für ihn war das Auftreten dieses Messias mit einem grundsätzlichen Wandel für die gesamte Menschheit verbunden. Mit dem Erscheinen Christi auf Erden begann für Steiner eine universale Evolution des Geistes. Für ihn war Christus außerdem bereits in einem geistigen Kraftfeld anwesend, bevor er sich auf Erden verkörperte als Jesus von Nazareth.

In einem Vortrag Steiners über Christus, aus dem Jahr 1909, kam er zu sprechen auf die Hohepriester in Atlantischer Zeit. Sie kündeten angeblich von einem solaren Geist, der sich einst als der Christus auf Erden verkörpern sollte. Steiner setzte ihn in die Linie der großen in der Welt erschienenen Sonneneingeweihten, worauf zuvor auch der persische Zarathustra oder der alt-ägyptischen Hermes (Trismegistos) erschienen.

Aber auch schon in unserer jetzigen Menschheitszivilisation (Nachatlantische Menschheit) sprach man schon lange vor seinem Erscheinen, vom kommenden Christus, was jedoch nur jene wissen konnten, die die Fähigkeit der »geistigen Sicht« bereits entwickelt hatten. So zumindest versuchte es Rudolf Steiner zu erklären. Jene aber wussten schon immer dass Christus dereinst der große Weltlehrer sein werde.

Drüben geschah es nun weltgeschichtlich, dass jenes hohe Sonnenwesen, das man nachher als den Christus bezeichnete, die Sonne verließ. Das war eine Art Sterben für den Christus. Christus ging fort von der Sonne, wie wir Menschen im Sterben fortgehen von der Erde. Also Christus ging fort von der Sonne, wie ein Mensch, der stirbt, fortgeht von der Erde. Und wie bei einem Menschen, der stirbt, indem er von der Erde fortgeht, für den okkulten Beschauer der ätherische Leib schaubar ist, den er nach drei Tagen ablegt und er den physischen Leib zurücklässt, so ließ Christus in der Sonne zurück dasjenige, was Sie in meiner »Theosophie« beschrieben finden am Menschen als den Geistesmenschen, als das siebente Glied der menschlichen Wesenheit.

- Aus Rudolf Steiners Vortragsreihe »Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge«

Das traf auf alle Kulturepochen zu: von der urindischen Kultur bis in die Wende zur griechisch-lateinischen Zeit. Immer schon ahnten die Weisen dass der Christus aus der Sonnensphäre herabsteigen würde, um sich auf Erden zu verkörpern.

Eigen in Rudolf Steiners Christus-Lehre aber ist, dass er über ihn als Geistesmenschen schrieb, der von der Sonne auf die Erde kam. In der solaren Sphäre starb er, um auf der terrestrischen Sphäre unseres Planeten geboren zu werden. Dabei gingen sein »Ich« und sein »Geistselbst«, wie es Steiner nannte, in den irdischen Leib des Jesus von Nazareth ein, der dann auf Golgatha, der Menschheit geopfert, jenem solaren Urgeist verhelfen sollte sich über dem Erdball auszubreiten und dabei die Religion des Christentums quasi zu bewirken.

So also stand im Mittelpunkt des Erfahrens von Rudolf Steiner eine christliche Realität, die in seinem Leben, Wirken und Lehren eine zentrale Rolle einnehmen sollte. Insbesondere seine Arbeiten über die Mysterien der Rosenkreuzer, die teils eng mit dieser Christus-Realität verbunden sind, geben einen tieferen Aufschluss darüber, was einen wichtigen Beitrag zur europäischen Geisteskultur der Gegenwart liefern sollte.

Im Spannungsfeld zwischen Bewunderung und Kritik

Ab dem Jahr 1911 wandte sich Steiner immer stärker den Künsten zu. Er pflegte Kontakte zu dem russischen Maler Wassily Kandinsky (1866-1944) oder auch zu dem deutschen Dichter Christian Morgenstern (1871-1914), der damals über ihn schrieb:

Die eigentliche, im höchsten Menschensinne schöpferische Tätigkeit Rudolf Steiners wird erst der Historiker enthüllen, der die Geschichte dieses erhabenen Lebens zu schreiben berufen sein wird. Dann wird mit Erstaunen wahrgenommen werden, was da in der Stille für den Menschen als solchen überhaupt geschieht und geschehen ist, und welchen unersetzlichen Rückhalt und Stützpunkt ihm die Lebensarbeit dieses Geistes gegeben hat. während das Jahrhundert noch immer weiter in die furchtbare Wüste des Materialismus hineineilt.

Besonders für den deutschen Aktionskünstler Joseph Beuys (1921-1986) sollte Rudolf Steiner später einmal zum wichtigsten Impulsgeber werden. In seiner Arbeit zu den schönen Künsten, zur Dichtkunst und den Theaterwissenschaften, wies Steiner nämlich hin auf das was er als »Spirituelle Visionen« bezeichnete, etwas woraus der Künstler für sich immer wieder neue Inspirationen beziehen könne.

Nach dem Ersten Weltkrieg widmete sich Steiner ganz und gar mit der praktischen Anwendung seiner spirituellen Arbeit der vergangenen Jahre. Er versuchte zu veranschaulichen, wie sich, aus seinen Erkenntnissen über das Wesen des Menschen, direkte Handlungsbezüge ableiten ließen. Daraus sollten sich sehr fruchtbare Beobachtungen ergeben, aus denen er verschiedene Konzepte entwarf, die dann zu dem wurden was sich aus einer praktischen Anthroposophie direkt für ein ganzheitliches Handeln ableiten lässt – sowohl für die Erziehungswissenschaften, für die landwirtschaftliche Praxis, doch sich ebenso im Feld der Medizin und der Therapie einsetzen lässt.

Auch seine Arbeiten zu einer organischen Architektur sollten für zukünftige Bauwerke eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Erste Ideen für einen solchen Bau im Umfeld der späteren Anthroposophischen Gesellschaft wurden bereits im Jahr 1907 entworfen. Zwischen 1908 und 1909 arbeitete der spätere Waldorflehrer Ernst August Karl Stockmeyer einen Vorentwurf aus, nach dem das Tagungsgebäude der Anthroposophischen Gesellschaft erbaut werden sollte: das Goetheanum – für Steiner sicherlich so etwas wie der »Bau des Neuen Tempels«. 1913 schließlich begannen im schweizerischen Dornach die Bauarbeiten. Doch noch bevor der Bau vollends abgeschlossen war, wurde das Goethenaum 1922 durch Brandstiftung zerstört. Wer dafür verantwortlich war konnte niemals geklärt werden. Dieses Unglück in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft kommentierte Rudolf Steiner 1923 in einem Vortrag wie folgt:

Gerade gelegentlich des schrecklichen Brandunglücks kam es wiederum zutage, welche abenteuerlichen Vorstellungen sich in der Welt knüpfen an alles das, was mit diesem Goetheanum in Dornach gemeint war, und was in ihm getrieben werden sollte. Es wird gesprochen von dem schrecklichsten Aberglauben, der dort verbreitet werden soll.

Schon zu seinen Lebzeiten hatte Steiner mit schwerwiegenden Anfeindungen zu tun. Diese Haltung mancher scheint auch bis heute, nicht nur aus Sicht eher wissenschaftlich orientierter Menschen, weiterhin zu bestehen. Was Steiner aber in den letzten Jahren seines Lebens an Feindseligkeit ertragen musste, war ganz und gar wider seine Absichten. Adolf Hitler etwa bezichtigte ihn ein Werkzeug der Juden zu sein. Daher vermuten heute manche dass der Brand des Goethenaums erste Nazigruppierungen gelegt hätten.

Dessen ungeachtet ließ sich Steiner durch seine Gegner nicht einschüchtern und versuchte sich auch nicht auf irgendwelche Schuldzuweisungen einzulassen, sondern betrachtete all das Vorgehen gegen ihn und seine Unterstützer als ein Resultat ihres gemeinsamen Karmas. Aus heutiger Sicht wirkt so eine Darstellung wohl recht sonderbar, versucht man sich jedoch die Vehemenz deutlich zu machen, mit der gegen Steiner und seine Anthroposophie vorgegangen wurde, verhielt er sich in dieser drastischen Situation wahrhaft erhaben, vielleicht auch eben genau deshalb, da er dazu fähig war die Situation auf spiritueller Ebene zu relativieren.

Gewiss könnte man Steiner nachsagen dass er ab einem gewissen Punkt in seinem Leben etwas zu verbissen gewesen war, in seinem Streben eine universale Lehre zu entwerfen. Schien ihm in der Tat doch daran gelegen zu sein, esoterische Erkenntnisse als Gesetze für alle Bereiche des Lebens formulieren zu wollen. Auch sein Wunsch und seine anscheinenden Fähigkeiten karmische Vorgänge in seinem und dem Leben anderer, sehen zu können, dürfte bei manchen nur ein Lächeln bemühen. Hermann Hesse schrieb einmal über Rudolf Steiner:

Anthroposophische, Steinersche Quellen habe ich nie benützt, sie sind für mich ungenießbar, die Welt und Literatur ist reich an echten, sauberen, guten und authentischen Quellen, es bedarf für den, der Mut und Geduld hat, selber zu suchen, der ‚okkulten‘ und dabei meist elend getrübten Quellen nicht. Ich kenne sehr liebe Leute, die Steinerverehrer sind, aber für mich hat dieser krampfhafte Magier und überanstrengte Willensmensch nie einen Moment etwas vom Begnadeten gehabt, im Gegenteil.

Das zweite Goetheanum in Dornach.jpg - ewigeweisheit.de

Das zweite Goethenaum im schweizerischen Dornach (Foto: Wladyslaw; Quelle: Wikimedia; Lizenz CC BY-SA 3.0).

Antworten auf die Menschheitsfragen der Gegenwart

Seit der Ereignisse im schweizerischen Dornach erhöhte Rudolf Steiner die Frequenz seines öffentlichen Auftretens. Er gab mehrmals täglich Ansprachen und hielt oft bis zu vier Vorträge am Tag. Meist widmete er seine Reden thematisch der Waldorfpädagogik. Doch auch andere praktische Anwendungen anthroposophischer Weisheiten waren Thema.

Schob ab dem Jahr 1919 warb Rudolf Steiner für die Dreigliederung eines »sozialen Organismus«, einem Leitbild für eine gesellschaftliche Ordnung und Weiterentwicklung. Ziel war ihm dabei eine Grundstruktur zu liefern, wo die Koordination der Vorgänge einer Gesellschaft nicht zentral von einer staatlichen Führung erfolgen sollte, sondern wo sich Geistesleben, Jura und Politik, wie auch die Wirtschaft, autonom selbst verwalten sollten. Hiermit versuchte er eine wirksame Alternative zu schaffen zu dem (auch heute noch bestehenden) vollkommen archaischen, zentral verwalteten System des Einheitsstaates. Er sah die Zukunft in einem von Menschen geschaffenen Organismus, wo Verantwortliche aus den drei eigenständigen Bereichen Wirtschaft, Recht und Politik, und Geistesleben, ohne übergeordnete Instanz zusammenarbeiten konnten. Er versuchte damit eine Parallele zu ziehen zum dreifältigen System Mensch.

Die Vermächtnisse eines Idealisten

Nach Rudolf Steiners Tod im Jahr 1925 breiteten sich seine Lehren und die Nachwirkungen seiner Vorträge und Vorstellungen weiter aus. Sicher wäre es nicht dazu gekommen, hätte Steiner seinen Kritikern von einst nachgegeben. In dieser Entschiedenheit lag wohl Steiners große Vorbildfunktion, die seine Verehrer anscheinend so sehr motivieren sollte, dass direkt nach seinem Tod der Neubau eines zweiten Goethenaums begann. Um die hundert Menschen wirkten an der Errichtung des neuen Bauwerkes mit. Doch es wurden noch mehr, die sich beim Bau einbringen wollten.

Durch diesen Enthusiasmus gefördert entstanden ab 1939 insgesamt sieben anthroposophische Schulen in Deutschland und weitere in der Schweiz, in England, in Ungarn, in Norwegen und in den Vereinigten Staaten. Zwar verboten die Nazis im Dritten Reich alle Anthroposophischen Schulen, doch bald nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie wieder eröffnet. Seit damals gewann auch die Waldorfpädagogik Steiners weiter an Bedeutung. Bis ins Jahr 2000 entstanden überall auf der Welt mehr als 700 Waldorfschulen.

Gedanken werden Dinge

Rudolf Steiner war ein Verfechter der Vorstellung, dass jeder menschliche Gedanke eine spirituelle Kraft sei. Der Grund dass das hier noch einmal hervorgehoben werden soll ist einfach: denn was einer heute denkt wird seine Realität von morgen. In jedem Gedanken liegt eine Triebkraft, durch die sogar auch die Weiterentwicklung der Gemeinschaft vorangetrieben werden kann. Steiner sah in dieser recht einfachen Feststellung eine Chance zur Fortsetzung seines Werks durch andere. Er wollte Menschen bei ihrer Befreiung helfen und sie damit letztendlich auch heilen. Dabei lag ihm viel daran zu betonen, wie wichtig Meditation und richtiges, kreatives Denken ist. Kreativität braucht Raum, damit sich darin Grundideen und Vorstellungen ausbreiten und auch künstlerisch entfalten können.

Zu Steiners Lebzeiten aber war es noch nicht wirklich möglich seine Herangehensweisen und Bestrebungen einem entsprechenden Publikum dauerhaft zu vermitteln. Es bestand eben noch nicht das dazu nötige Bewusstsein, dass sich anscheinend erst nach seinem Tod zu dem entfalten konnte, was es heute ist. Als er im Rahmen seiner neu gegründeten Anthroposophischen Gesellschaft jedoch erste Schüler gewinnen konnte, sollten unter jenen dann doch auch manche den Weg zu einer praktischen Anwendung theosophischer Weisheit finden. Das gelang Steiner zuerst durch die Einführung der schönen Künste in die Praxis seiner modernen Anthroposophie. An sich aber blieb das eine Wissenschaft, die aus seinem Talent für die Beobachtung der Welt und des Menschen entstand. Diese Wissenschaft ging hervor aus der Erforschung vom inneren Wesen der Dinge – sowohl auf esoterischer Betrachtungen des Diesseits, wie auch des Jenseits: eine innere Erforschung der wahren Gründe für die Vorgänge im Menschen, auf der Erde und in der Ganzheit des gesamten Kosmos.

Rudolf Steiner legte die Wegmarken für eine ganzheitliche Arbeit am Menschen und an der Gesellschaft. Er schuf neue Möglichkeiten, sich in der Welt auf allen Ebenen der Existenz fortzubewegen und sich dabei gleichzeitig auf eine Weise zu entwickeln, die insbesondere dem Nutzen der Gemeinschaft zugute kommen sollte.

 

Die Ermunternde Kunst spiritueller Dichtung des Angelus Silesius

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Für ein Neues Bewusstsein

Angelus Silesius - ewigeweisheit.de

Im Jahr 1657 erschien in Wien ein Werk, dass man wohl zu den eindrucksvollsten Dichtungen des 17. Jahrhunderts rechnen kann: Der Cherubinische Wandersmann. Alle Liebhaber spiritueller Sinnsprüche und theologischer Geheimlehren, dürften in den darin enthaltenen Versen wirklich Erfreuliches finden. Eine Perle der neuzeitlichen Erbauungsliteratur.

Der Verfasser war in der Tat ein christlicher Weiser, dem es gelang seine Gedanken in eine so edle Form zu bringen, dass sie den Leser nicht nur belehrt, sondern ihn wahrscheinlich sogar erheiternd berührt.

Wie selig ist der Mensch, der alle seine Zeit
Mit anders nichts verbringt als mit der Ewigkeit.
Der jung und alt allein betrachtet und beschaut
Der Weisheit Schloss, das Gott, sein Vater, hat gebaut.
Der sich auf seinen Stab, das ewige Wort, aufstützt,
Und nicht wie mancher Thor in fremdem Sande setzt.
Der nicht nach Haus und Hof, nach Gold und Silber sieht,
Noch feines Lebens Zeit zu zählen sich bemüht.
Ihn wird das blinde Glück nicht hin und her traktieren,
Noch etwa eitler Durst zu fremdem Wasser führen.
Er weiß von keinem Zank, er liebt nicht Krämerei,
Er trachtet nicht danach, dass er gesehen sei.

Gegen das Dogma protestantischer Scholastik

Hinter »Angelus Silesius«, der latinisierten Fassung für den »Schlesischen Boten«, steht der Sohn eines polnischen Adligen protestantischen Glaubens: Johannes Scheffler (1624-1677). Während des Dreißigjährigen Krieges kam er im schlesischen Breslau zur Welt, wo er in einer Zeit großer Unsicherheit aufwuchs. Seine Eltern verstarben bereits, als Silesius noch ein Jugendlicher war. Damals zogen plündernde und mordende Heere durch Europa. Einen Großteil der Überlebenden in Schlesien, tötete schließlich die Pest. Es war auch eine Zeit, wo sich Aberglaube, Magie und Hexerei verbreiteten.

Im 17. Jahrhundert schienen recht wirklichkeitsfremde Tendenzen in der lutherischen Orthodoxie, den christlichen Glauben im Protestantismus immer mehr erstarren zu lassen. So wurde Vernunft zum echten Dogma im Protestantismus. Das aber veranlasste Silesius im Jahr 1653 zum Katholizismus zu konvertieren. Acht Jahre später ließ sich Silesius sogar zum katholischen Priester weihen. Von da an war er ein erbitterter Gegner der Anhänger Luthers. Für ihn waren sie Vasallen Luzifers und, so wörtlich, »Anbeter einer Sau«. Wegen ihrer angeblichen Vergehen gegen Gott, empfand er die Bedrohung des christlichen Abendlandes durch die Osmanen, als Gottes sträfliche Antwort auf ihre Abwendung vom rechten Glauben.

Der Cherubinische Wandersmann

Trotz dass, wie etwa bei Meister Eckhart, die Katholische Kirche große Vorbehalte gegenüber Mystikerinnen und Mystikern hatte, stand sie in dieser Zeit, der Mystik aufgeschlossener gegenüber als die reformierte Kirche der Lutheraner. Es scheint damit, als hätten die Sinnsprüche des Angelus Silesius nicht nur Duldung erfahren, sondern auch Gefallen.

Der Cherubinische Wandersmann aber war nicht etwa systematisch geordnet, wie andere christliche Schriften seiner Zeit. Es scheint als hätte ihr Verfasser das auch so beabsichtigt. Denn manche Aussagen darin finden sich teils hier und dort, wiederholen sich auch in geringer Variation. Silesius wusste, dass sie auf diese Weise besser wirkten. Manchmal auch gibt der Autor in einem Absatz die Lösung zu einem aufgegebenen Rätsel.

Das ewige Ja und Nein.

Gott spricht nur immer Ja, der Teufel saget Nein;
Drum kann er auch mit Gott nicht Ja und Eines sein.

- Cherubinischer Wandersmann 2:4

Natürlich muss man den theologischen Hintergrund kennen, um das in diesen Zeilen verborgene Rätsel zu lösen, was nicht ganz einfach sein dürfte. Doch das »Ja« das hier zweimal auftaucht, damit wohl spielte Silesius auf einen der hebräischen Namen für Gott an: Jah.

Ein Seufzer sagt Alles.

Wenn meine Seele seufzt und Ach und Oh schreit hin,
So rufet sie in sich ihr End und Anbeginn.

- Cherubinischer Wandersmann 2:64

Es ist gewiss nicht gewöhnlich, das Silesius seinen Texten eine, sagen wir, »heilige Scherzhaftigkeit« verlieh. Denn mit dem »Ach und Oh« das er hier schreibt, meint er natürlich jenes biblische Alpha und Omega. In diesem Sinne aber sind diese wenigen Zeilen so aussagekräftig, dass es sich sicherlich lohnt noch etwas darüber nachzusinnen.

A B ist schon genug.

Die Heiden plappern viel; wer geistlich weiß zu beten,
Der kann mit A und B getrost für Gott hintreten.

- Cherubinischer Wandersmann 2:77

Mit A und B ist hier der hebräische »Abba« gemeint – der Vater.

Ist die Lösung schon in Klammern eingefügt:

Iss Butter, iss mein Kind, und Honig (Gott) dabei,
Damit du lernst, wie Bös' und Gut zu scheiden sei.

- Cherubinischer Wandersmann 2:205

Wie auch bei anderen bekannten Mystikern, waren auch die Verse des Angelus Silesius keine Erzeugnisse aus reinen Vermutungen oder angesammeltem Wissen. Wie vor ihm bei Jakob Böhme, flackerte auch in Silesius immer wieder ein flammender Funke göttlicher Inspiration.

Das ich etliche Schriften Jakob Böhme gelesen, […] ist wahr und ich danke Gott dafür, denn sie sind große Ursache gewesen, dass ich zur Erkenntnis der Wahrheit kam.

In seinem Cherubinischen Wandersmann orientierte er sich gewiss an seinem Vorbild Jacob Böhme. Ihn verehrte er er als wirklichen Meister. Er scheint als tauche Silesius immer wieder in die Gedankenwelt Böhmes ein.

Erst später wandte er sich von Böhme immer mehr ab und kam zurück zu den christlichen Mystikern des Mittelalters, darunter etwa der dominikanische Mystiker Johannes Tauler.

Titelkupfer einer Ausgabe des Cherubinischen Wandersmanns (1675) - ewigeweisheit.de

Titelkupfer einer Ausgabe des Cherubinischen Wandersmanns, Buchdruckerei Ignatij Schubarthi (1675).

Geflügelte Diener Gottes

Was den eigenartigen Titel »Cherubinischer Wandersmann« anbelangt, so weist Silesius gewissermaßen hin auf seine Vorgänger der Mystik, speziell auf Meister Eckhart, doch auch auf den Mystiker Dionysius Areopagita († 1. Jhd. n. Chr.), den der Apostel Paulus einst in Athen zum Christentum bekehrt hatte.

In der ihm zugeschriebenen »Himmlischen Hierarchie« (De caelesti hierarchia) beschreibt Dionysius die Seraphim (von Gott erschaffene, ihm untergeordnete Engel) als Sinnbilder für das, was einem widerfährt, dessen Herz sich in göttlicher Liebe entzündet. Die Cherubim aber stehen für das Aufschwingen der Seele in die Sphären göttlicher Beschaulichkeit. Letzteres war das »spirituelle Feld«, woraus auch Silesius die Verse seines Cherubinischen Wandermanns empfing. In seinem Vorwort dazu schreibt er:

Glückselig magst du dich schätzen, wenn du dich beide lässest einnehmen, und noch bei Leibes Leben bald wie ein Seraphim von himmlischer Liebe brennest, bald wie ein Cherubim mit unverwandten Augen Gott anschauest; denn damit wirst du dein ewiges Leben in dieser Sterblichkeit, so viel es sein kann, anfangen und deinen Beruf oder Auserwählung zu derselben gewiss machen.

- Cherubinischer Wandersmann, aus dem Vorwort

Wer hier auf Niemand sieht, als nur auf Gott allein,
Wird dort ein Cherubim bei seinem Throne sein.

- Cherubinischer Wandersmann 2:184

Wo aber ist hier die thematische Verbindung zur Mystik?

Anscheinend vermochte Silesius ein »höheres Licht« zu schauen, worin er aus der Geisteswelt vermittelte Erkenntnisse gewann. Doch war das nicht etwa nur eine dem Ego zuträgliche Schmeichelei oder seine »Freiheit der Wahl«, sondern eine höhere Freiheit, die ihm ein geistiges Wirken vermittelte. Das heißt, jene Erkenntnis, die in die Tiefen der Weisheit führen soll, wird auf dem Wege geistiger Anschauung gewonnen, und nicht etwa in diskursivem, bewusst kontrolliertem Denken.

Von jenem Schauen erfahren wir etwa auch bei der Hildegard von Bingen, die vom »Lebendigen Licht« schrieb, durch das Gott in ihren Visionen zu ihr sprach. Der Mystiker schaut in jene Gefilde also nicht mit seinem physischen Auge, sondern einer Art spirituellem, innerem Auge, das Dionysius Areopagita auch in seinem Werk über die Himmlischen Gefilde beschreibt. Ebenso Silesius. Der schrieb:

Zwei Augen hat die Seele: eins schauet in die Zeit,
Das andere richtet sich hin in die Ewigkeit.

- Cherubinischer Wandersmann 3:228

Das überlichte Licht schaut man in diesem Leben
Nicht besser, als wenn man in's Dunkle sich begeben.

- Cherubinischer Wandersmann 4:23

Wer an den Füßen lahm und am Gesicht ist blind,
Der tue sich dann um, ob er Gott nirgends find't.

- Cherubinischer Wandersmann 1:57

Der nächste Weg zu Gott ist durch der Liebe Tür,
Der Weg der Wissenschaft bringt dich gar langsam für.

- Cherubinischer Wandersmann 5:320

Sicher aber geht dann durch dieses Tor der Liebe nur, der sich von den irdischen Dingen und Begierden zurückzieht, der auch sein eigenes egoistisches, verblendetes und durch die Schwerkraft angezogenes, körperliches Selbst, bereits aufgegeben hat.

Wo Gott ein Feuer ist, so ist mein Herz der Herd,
Auf welchem er das Holz der Eitelkeit verzehrt.

- Cherubinischer Wandersmann 1:66

Mensch, in das Paradies kommt man nicht unbewehrt;
Willst du hinein, du musst durch Feuer und durch Schwert.

- Cherubinischer Wandersmann 1:132

Du bist Babel (Babylon) selbst: gehst du nicht aus dir aus,
So bleibst du ewiglich des Teufels Polterhaus.

- Cherubinischer Wandersmann 1:226

Zwei Wörtlein lieb ich sehr: sie heißen Aus und Ein;
Aus Babel und aus mir, in Gott und Jesum ein.

- Cherubinischer Wandersmann 2:213

Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt,
die dich in dir mit dir so stark gefangen hält.

- Cherubinischer Wandersmann 2:85

Mein bester Freund, mein Leib, der ist mein ärgster Feind:
Er bindet und hält mich auf, wie gut er's immer meint,
Ich hass und lieb ihn auch, und wenn es kommt zum Scheiden,
So reiß ich mich von ihm mit Freuden und mit Leiden.

- Cherubinischer Wandersmann 4:79

Der Mensch, der seinen Geist nicht über sich erhebt,
Der ist nicht wert, dass er im Menschenstande lebt.

- Cherubinischer Wandersmann 2:22

Das größte Wunderding ist doch der Mensch allein:
Er kann, dich dem er's macht, Gott oder Teufel sein.

- Cherubinischer Wandersmann 4:70

Die Überwindung des Leibes

Wer sich aus dem ewigen Triebverlangen entwinden möchte, um sein Sehnen nur zum Geistigen hin aufzurichten, erreicht das durch allmähliche Befreiung aus aller Leiblichkeit. Der Körper ist Instrument der Seele, die Seele aber Instrument einer noch höherer Instanz, die in ihr als heiliger Gottesfunken flackert. Wie eben alle Gelehrten und Weisen der höheren Geistigkeit und religiös-mystischen Spiritualität, so weißt auch Silesius darauf hin, dass das Leibliche ab einem gewissen Entwicklungsgrad überwunden werden sollte.

Wie soll sich die Seele aber dabei aus dem Leib erheben und aufschwingen, um zu Erkennen?
Und was ist damit gemeint, wenn es heißt, dass jemand, der nach obigem Bestreben trachtet, sich in Gott versenken und verlieren soll?

Diese Fragen beantwortet Silesius auf ganz ausgesprochene Weise:

Gott ist ein Wunderding: Er ist das, was er will,
Und will das, was er ist, ohne jedes Maß und Ziel.

- Cherubinischer Wandersmann 1:40

Je mehr du Gott erkennst, je mehr wirst du bekennen,
Dass du je weniger ihn, was er ist, kannst nennen.

- Cherubinischer Wandersmann 5:41

Denkst Du den Namen Gottes zu sprechen in der Zeit?
Du sprichst ihn noch nicht aus in einer Ewigkeit.

- Cherubinischer Wandersmann 2:51

Gott ist ein lauterer Blitz und auch ein dunkles Nicht,
Das keine Kreatur erschaut mit ihrem Licht.

- Cherubinischer Wandersmann 2:146

Gott ist unendlich hoch – Mensch, glaube dies behende!
Er selbst findet ewiglich nicht seiner Gottheit Ende.

- Cherubinischer Wandersmann 1:41

Durch Weisheit ist Gott tief, breit durch Barmherzigkeit,
Durch Allmacht ist er hoch, lang durch die Ewigkeit.

- Cherubinischer Wandersmann 4:35

Gott ist da nichts als gut. Verdammnis, Tod und Pein,
Und was man böse nennt, muss, Mensch, in dir nur sein.

- Cherubinischer Wandersmann 1:129

Du fragst, wie lange Gott gewesen sei, um Bericht:
Ach schweig, es ist so lang, er weiß es selber nicht.

- Cherubinischer Wandersmann 3:180

Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht;
Wer es nicht selber wird, der sieht es ewig nicht.

- Cherubinischer Wandersmann 1:72

Nichts dauert ohne Genuss: Gott muss sich selbst genießen,
Sein Wesen würde sonst wie Gras verdorren müssen.

- Cherubinischer Wandersmann 5:75

Gott kann sich nicht entziehen, er wirket für und für:
Fühlst du nicht seine Kraft, so gib die Schuld nur dir.

- Cherubinischer Wandersmann 5:73

Der christliche Gott aber ist mehr als »der Eine«. Man definiert ihn ja in seiner dreifältigen Relation zu Welt und Mensch.

Gott Vater ist der Punkt; aus ihm fließt Gott der Sohn,
Die Linie, Gott der Geist, ist beider Fläch' und Kron'.

- Cherubinischer Wandersmann 4:62

Gott Vater ist der Brunnen, der Quell der ist der Sohn,
Der heilige Geist der ist der Strom, so fließt davon.

- Cherubinischer Wandersmann 5:123

Es ist kein Vor und Nach; was morgen soll geschehen,
Hat Gott von Ewigkeit schon wesentlich gesehen.

- Cherubinischer Wandersmann 2:182

Weil in Gott kein Vor oder Nach ist, und in diesem Sinne entsprechend Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos sind, drum lässt sich auch keine Zeit bestimmen wo Gott die Welt erschaffen hat. Sie war von Ewigkeit her (als Idee) in ihm. Und so lässt sich sagen, dass Gott die Welt noch immer erschaffe, denn seine Schöpfung ist erst vollbracht am Ende der Zeit. Stellt sich aber die Frage:
Wann endet Zeit, wenn Gott ewig ist?

Dort in der Ewigkeit geschieht alles zugleich,
Es ist kein Vor und Nach, wie hier im Zeitenreich.

- Cherubinischer Wandersmann 5:146

Gott schafft die Welt immer noch; kommt dir das fremde für?
So wisse: Es ist bei ihm kein Vor noch Nach wie hier.

- Cherubinischer Wandersmann 4:165

Abwendung vom Guten – Hinwendung zum Tod

Silesius, wie auch viele vor oder nach ihm, nennen die Abwendung von Gott Sünde. Nur der Mensch kann sie begehen. Zwar wird Gott immer wieder auch den falsch handelnden oder sogar sündigen Menschen aufsuchen, doch er kann ihn nur erretten, wenn der Mensch bereit ist sich helfen zu lassen. Er muss sein »falsches Handeln« erkennen. Errettung ist nur durch »Mitwirken des Sünders« möglich. Wenn er wirklich will, in Erkenntnis der Welt, Gott, doch vor Allem seines Selbst. Unser gutes Handeln nämlich hilft sowohl dem Ich wie auch dem Du. Denn unser Tun und Handeln kann sich ganz und gar auf Gott ausrichten, so dass ein edler Geist durch uns hindurch wirkt – zum Wohle aller.

Das Gute kommt aus Gott; drum ist's auch sein allein;
Das Böse entsteht aus dir – das lass du deine sein.

- Cherubinischer Wandersmann 5:230

Die Sünde ist anders nichts, als dass ein Mensch von Gott
Sein Angesicht abwendet und kehret sich zum Tod.

- Cherubinischer Wandersmann 4:69

Der Sonne tut's nicht weh, wenn du von ihr dich kehrst:
Also auch Gotte nicht, wenn du in Abgrund fährst.

- Cherubinischer Wandersmann 5:56

Ein Fünklein aus dem Feuer, ein Tropfen aus dem Meer:
Was bist du doch, o Mensch, ohne deine Wiederkehr?

- Cherubinischer Wandersmann 5:369

Zwei müssen es vollziehen: Ich kann's nicht ohne Gott,
Und Gott nicht ohne mich, dass ich entgeh' dem Tod.

- Cherubinischer Wandersmann 5:48

Des Menschen größter Schatz ist guter Will auf Erden;
Ist alles gleich verloren, durch ihn kann's wieder werden.

- Cherubinischer Wandersmann 5:62

Du sprichst: das höllische Feuer wird nie verlöscht gesehen –
Und sieh, der Büßer löscht's mit einer Augenträn'!

- Cherubinischer Wandersmann 4:100

Wer sich nun also zum Guten kehrt, der wird notwendigerweise eine Neugeburt erfahren, eine Auferstehung. Als Christ darf man da ruhig glauben, dass der Heiland in der Menschenseele selbst neu geboren wird. Nur aber durch eine erneute Geburt, kann die Menschenwerdung Christi den Gläubigen erlösen.

Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren,
Und nicht in dir: du bleibst doch ewiglich verloren.

Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgerichtet, erlösen.

Ich sag, es hilft dir nicht, dass Christus auferstanden,
Wo du noch liegen bleibst in Sünde und in Todesbanden.

- Cherubinischer Wandersmann 1:61ff

Du musst Maria sein und Gott aus dir gebären,
Soll er dir ewiglich die Seligkeit gewähren.

- Cherubinischer Wandersmann 1:23

Ach Freude! Gott wird Mensch und ist auch schon geboren.
Wo da? In mir: Er hat zur Mutter mich erkoren.

Wie geht das vor sich? Maria ist die Seel',
Das Kripplein mein Herz, der Leib der ist die Höhl',

Die neue Gerechtigkeit sind Windeln und sind Binden,
Der Josef Gottesfurcht die Kräfte des Gemüts

Sind Engel, die sich freuen, die Klarheit ist ihr Blitz,
Die keuschen Sinne sind die Hirten, die ihn finden.

- Cherubinischer Wandersmann 3:238ff

Vernunft versus Glauben

Die Verse des Johannes Scheffler alias Angelus Silesius sollten all jene erreichen, die sich dem Christentum entfremdet haben. Er schrieb sie eben in einer Zeit des Wandels, dämmerte doch bereits damals jenes Zeitalter der Vernunft, das was man heute die »Aufklärung« nennt.

Man musste, um dies zu erreichen, seinen Leser zumindest verwundern, ja manchmal gar zu Missverständnissen Anlass geben. Denn nur so konnte seinerzeit jenes geistige Empfinden wieder geschärft werden, von dem sich die Menschen in den Jahrhunderten nach der Zeit der Kreuzzüge, anscheinend von Christus und vom Gottesglauben entfernt hatten.

Angelus Silesius schrieb dazu im Vorwort zur zweiten Auflage seines Cherubinischen Wandersmanns:

Weil folgende Reime seltsame Paradoxa oder widersinnige Reden, wie auch sehr hohe und nicht jedermann bekannte Schlüsse von der geheimen Gottheit in sich halten, ferner von der Vereinigung mit Gott und dem göttlichem Wesen, welchem man wegen der kurzen Verfassung leicht einen verdammlichen Sinn oder böse Meinung könnte andichten, ist also vonnöten dich deshalb zuvor zu erinnern. Und hierbei ist einmal und für allemal zu wissen, dass des Urhebers Meinung nirgends sei, dass die menschliche Seele ihre Beschaffenheit solle oder könne verlieren, und durch die Vergötterung in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen könne verwandelt werden, welches in alle Einigkeit nicht sein kann. Denn obwohl Gott allmächtig ist, kann er doch dieses nicht machen (und wenn er es könnte, wäre er nicht Gott), dass eine Kreatur wesentlich und natürlich Gott sei.

Silesius weißt also darauf hin, dass seine Reime durchaus »seltsame Paradoxa« enthalten, die eventuell der eine oder andere als widersinnig empfindet. Es ist eben nur schwer möglich die geheimen Zusammenhänge im Reich des Göttlichen in kurzen Versen so wiederzugeben, dass sie jeder ihrem inneren Sinn nach versteht.

Beim »Besprechen von Geheimnissen« lauern eben immer Missverständnisse, die, selbst wenn sie dann mal beigelegt sind, dennoch einen negativen Nachgeschmack hinterlassen. Fragt sich also, wieso man überhaupt über Geheimnisse sprechen soll. Vielleicht eben sind manche Bücher nicht für jeden geeignet. Heute aber, da jedem eigentlich alle Literatur zugänglich ist, lässt sich das nicht mehr vermeiden. Ratsam jedoch ist, dem eigenen Urteil immer Geduld voranzustellen.

Angelus Silesius ging es darum zu zeigen, dass Mensch und Gott nicht getrennt, sondern letzterer in ihm selbst enthalten ist, was auch bewusst gemacht werden kann. Da spricht man dann von der »Unio Mystica«, der Vereinigung von Gott und Mensch. Die engen Grenzen des Ich, werden dabei überschritten, das Ich verschmilzt mit dem Absoluten, dem Ganzen.

Ich bin nicht außer Gott, und Gott nicht außer mir,
Ich bin sein Glanz und Licht und er ist meine Zier.

- Cherubinischer Wandersmann 1:106

Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.

Gott ist in mir das Feuer und ich in ihm der Schein;
Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?

- Cherubinischer Wandersmann 1:10f

Gott ist noch mehr in mir, als wenn das ganze Meer
In einem kleinen Schwamm ganz und beisammen wär.

- Cherubinischer Wandersmann 4:156

Wenn eine würdige Seele zu einer solch nahen Vereinigung mit Gott gelangt, ist sie von ihm ganz und gar durchdrungen, mit ihm eins. Könnte man dann die Seele sehen, so Silesius, würde man an ihr nichts anderes erkennen als Gott selbst, vom Glanz seiner Herrlichkeit absorbiert (eine Vorstellung die etwa auch dem buddhistischen Nirvana ähnelt, dem Erlöschen und Austreten der Seele aus dem Samsara, dem Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburten).

Hiermit aber sahen sich die Skeptiker unter den Lesern des Cherubinischen Wandersmannes mit einer wichtigen Frage konfrontiert: Wenn sich die Seele ab einem gewissen Grade in Gott selbst auflöst, gibt es für sie auf dieser Stufe kein Gebet mehr, kein Verlangen mehr nach ewigen Heil. Auch der Glaube an Gott ist dann nicht mehr vonnöten, da die Seele von da ab in Gott ruht, in vollkommener, himmlischer Seligkeit.

Die Schwärmer unter den christlichen Frommen dürften sich mit solch angenommenen Voraussetzungen recht unwohl fühlen. Doch das solche oder andere ihn vielleicht missverstehen, liegt wohl auch daran, dass Silesius Werk in Reimen verfasst ist. Hätte er Prosa geschrieben, wäre seine Ausdrucksweise sicher vorsichtiger, klarer und unzweideutiger ausgefallen. Nur dann hätte er wohl eher Rechenschaft ablegen müssen vor jenen, »die verstanden haben«, als vor denen unter den ungebildeten Träumern.


 

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Visionen eines deutschen Propheten

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Für ein Neues Bewusstsein

Jakob Böhme - ewigeweisheit.de

Zu den größten Mystikern der Neuzeit zählt sicherlich Jakob Böhme. In seinem Werk verbanden sich Prophetie, Vision und eine bis dahin nicht dagewesene Theosophie und Metaphysik. Die Einflüsse der mystischen Betrachtungen aus seinen Visionen sind auch heute noch über die Grenzen Deutschlands hinaus in den Kreisen spirituell Gesinnter gegenwärtig.

Im Ausland nannte man ihn den »Philosophus Teutonicus«. Doch er war ein einfacher Mann, der bekanntlich in Görlitz eine Schusterei unterhielt. Karl Marx sagte einmal über ihn:

Der Schuster Jakob Böhme war ein großer Philosoph. Manche Philosophen von Ruf sind nur große Schuster.

Doch auch wenn Böhme ein recht unscheinbarer Mensch gewesen sein mag, war er doch von großer Geistesmacht erfüllt. Seine Philosophie bestand vor allem in einer »Göttlichen Weisheit«, war eine Theosophie, also etwas, dass weniger aus dem Weltgeist, als eher aus einem Geist des Göttlichen, durch Erkenntnis erlangt werden will. Böhme erlebte die göttliche Offenbarung der Bibel intuitiv, als Vision. Doch ebenso feinfühlig war seine Empfindung für Ereignisse in der Natur.

Das Böhme heute Theosophen, Rosenkreuzer und Philosophen verehren, bedeutet gar nicht, dass das immer so war. Zu seinen Lebzeiten durfte er mit sowas kaum rechnen. Er hatte einen großen Schülerkreis, doch es gab auch Menschen, die seine Lehren als Irrglauben verwerfen wollten und sich ganz und gar gegen sein weiteres Wirken stellten.

Kein Mystiker kommt eben schon fertig auf die Welt. Und was heißt das? Jeder muss seine vornehmen Fähigkeiten eben auch auf weltlicher Ebene begründen lernen. Jakob Böhmes Schriften aber sollten tatsächlich in die Geschichte eingehen. Er war einer der außergewöhnlichsten Weisen der europäischen Geistesgeschichte. Niemals hatte er ein Studium an einer Universität genossen oder gar eine theologische oder wissenschaftliche Ausbildung erhalten. Auf spirituell suchende Menschen, üben seine religiös-esoterischen Schriften eine inspirierende Wirkung aus, ganz unabhängig welche Bildung sie genossen haben oder welcher religiösen Weltanschauung sie folgen. Seit mehr als vier Jahrhunderten hat sich daran nichts geändert. Wer darum meint, dass seine Schriften nur auf Laien Einfluss ausübten irrt! Unter seinen Lesern befanden sich auch einflussreiche Philosophen, darunter etwa so Größen wie Leibniz, Hegel, Schelling, Novalis oder Ernst Bloch. Georg Wilhelm Friedrich Hegel galt Jakob Böhme gar als erster deutscher Philosoph.

Böhmes philosophische Einschätzungen basierten allein auf Glauben und Gottesfurcht. Es muss eine ungewöhnliche Hellsicht gewesen sein, oder nennen wir es, sein »Visionsvermögen«, dass ihn zu dem befähigte, was er in seiner relativ kurzen Lebenszeit zu Papier gebracht hatte.

Wer Jakob Böhmes Schriften liest merkt aber bald, dass ihnen etwas an Form abgeht. Manchmal bewegt man sich beim Lesen der Werke Böhmes, wie durch ein Labyrinth. Nach und nach aber fällt einem auf, dass sich durch den Text doch ein roter Faden zieht, dessen Ende geknüpft zu sein scheint an die Wirkungen höchster Erkenntnis.

Dennoch nimmt Jakob Böhme als Religionsphilosoph eine Sonderrolle ein, da er nicht etwa aus einer Weisheitstradition heraus schrieb und lehrte, sondern alles aus seinem visionären Eingedenken kam. Was er dabei fand, sollte ihn zu einem der einflussreichsten Gestalten der frühen europäischen Neuzeit machen.

Ein praktisches Christentum

Auch wenn Jakob Böhme schon als junger Mann die Heilige Schrift studierte und ein disziplinierter Kirchengänger war, gewann er seine weisen Einsichten doch in außergewöhnlichen Gottesvisionen.

Das reguläre evangelische Christentum, in seiner rein wörtlichen und intellektuellen Form, muss ihm dabei wie erstarrt erschienen sein. Drum versuchte er ein praktischeres Christentum zu entwickeln, das sich über die reine Textkunde des Bibellesens erhob. Doch niemals strebte er an, eine neue christliche Sekte zu gründen. Zeit seines Lebens blieb er Lutheranischer Christ. Eine neue Glaubensgemeinschaft zu gründen war etwas, das ihm ganz und gar nicht entsprach. Und trotzdem: aus Böhme schien aber etwas hervorzudrängen, dass seine Zeitgenossen an ihm wahrnahmen. Er schien tatsächlich tief erfüllt von einem göttlichen Geist, von dem geleitet er seine Schriften zu Papier brachte.

Denn in ihm leben, weben und sind wir

- Apostelgeschichte 17:28

was die Zeilen des großen Angelus Silesius bestätigen:

Im Wasser lebt der Fisch, die Pflanzen in der Erden,
Der Vogel in der Luft, die Sonn im Firmament.
Der Salamander muss im Feuer erhalten werden:
Und Gottes Herz ist Jakob Böhme's Element.

Herz-Symbol Böhmes - ewigeweisheit.de

Das Böhme'sche Herz: Dieses Symbol enthält in seiner Mitte ein weißes Dreieck, worin sich 1 + 2 + 3 + 4 = 10 Positionen zur sogenannten »Tetraktys« formen. Darin lassen sich verschiedene Zeichen unterbringen. In diesem Fall sind es die Buchstaben des Heiligen Namen JHVH, hebräisch יהוה (das sogenannte »Tetragrammaton«).

Da nun in der Mystik Jakob Böhmes das alchemistische Feuer eine zentrale Rolle spielt (siehe unten), fügte er das Schin, hebräisch ש, in diesen hebräischen Namen ein: das geheime Symbol für das Feuer in der Kabbala. Dieser Buchstabe eingefügt, in der Mitte zwischen den vier Buchstaben des Tetragrammaton יהוה, ergibt den hebräischen Namen יהשוה Jehoschua (hebräisch für »JHVH ist Hilfe«), die hebräische Fassung des latinisierten Namen »Jesus«. Den Kreis umringen die Buchstaben des Namen »Christus« und in den Flammen lassen sich außerdem die Namen »Iesus« (lateinische Schreibweise von »Jesus«) und »Immanuel« (hebräisch für »Gott ist mit uns«) entziffern, wobei die Endsilbe dieses Namens, »El«, ein anderes hebräisches Wort ist für »Gott« und im unteren Bereich dieses Symbol bewusst alleinstehend platziert ist. So entsteht also aus der Vierheit des wichtigsten Namen יהוה im jüdischen Glauben, mit dem geheimen Zeichen für das Feuer, ש (Schin), ein fünfbuchstabiger, hebräischer Name, der in diesem Symbol Böhmes, mit den anderen Namen  ein mystisches Emblem bildet: »Immanuel Jesus Christus«.

Der Teutonische Prophet aus Görlitz

Jakob Böhme kam 1575 in Alt-Seidenberg zur Welt, einem kleinen Ort nahe der Stadt Görlitz in der Oberlausitz. Seine Eltern waren Bauern aus ganz einfachen Verhältnissen. Der junge Böhme erhielt darum nur eine einfache religiöse Schulbildung, wo er auch Lesen und Schreiben lernte.

Als kleiner Junge musste er als Hirte arbeiten und war ein stilles, ein introvertiertes Kind mit einem leicht verträumten Blick. Doch schon als junger Mensch besaß er die Fähigkeit zur Vision, die er selbst jedoch als natürlich-real empfand.

Eine Geschichte erzählt über ihn, wie er einst Vieh hütete, zusammen mit anderen Hirtenknaben. Doch er entfernte sich von der Gesellschaft der anderen Jungen und bestieg die Landskrone, einen kleinen Berg in der Nähe seines Heimatortes. Es war Mittag als er dort ein Eingangstor aus vier roten Steinen in den Felsen entdeckte. Er ging hinein und fand dort ein Gefäß, worin sich wirklich reines Gold befand. Nicht aber griff er danach, sondern rannte vor lauter Panik davon, als wäre das, was er dort vorfand, nichts als Teufelswerk. Was er aber damals gesehen hatte blieb ihm als tiefer Eindruck in Erinnerung. In Begleitung seiner Freunde suchte er den Ort erneut auf, doch er war verschwunden. Hatte er das alles nur am helllichten Tag geträumt, in einem Wachtraum oder war er als er das erlebte nicht ganz bei sich?

Es schien, als wäre ganz tief in seiner Seele damals etwas wachgerüttelt worden, was er sonst nicht erfahren hätte. Etwas wurde sozusagen »psychisch aus ihm herausgelöst«. Der junge Böhme war eben jemand, der dazu befähigt war tiefer in die Versenkungen seiner Seelenwelt hinabzusteigen.

In seinen späteren Lehrjahren zum Schuster, hatte er eine weitere überirdische Erscheinung: da kam ein Mann, der ihm Schuhe abkaufen wollte. Doch da er als Lehrling zum Verkauf noch keine Befugnis besaß, ging er auf die Frage erst nach langem Zögern ein. Der Interessent wandte sich erst ab, doch rief dann plötzlich mit lauter Stimme:

Jakob, du bist klein, aber du wirst groß und gar ein anderer Mensch und Mann werden, dass sich die Welt über dir verwundern wird. Darum sei fromm, fürchte Gott und ehre sein Wort. Insbesondere ließ gerne in der Heiligen Schrift, darin du Trost und Unterweisung hast, denn du wirst viel Armut, Not und Verfolgung erleiden müssen, denn du bist Gott lieb und er ist dir gnädig.

Nach diesem Erlebnis wurde Böhme nur noch unsicherer und ernster. Sein ganzes Leben richtete er danach auf Moral, Gebet und Meditation. Er neigte dazu auch andere zu christlicher Frömmigkeit zu ermahnen, wozu natürlich auch Besucher der Schusterei seiner Lehrjahre gehörten. Als ihn aber sein Meister dabei erlebte, ermahnte er ihn »keinen Hauspropheten« zu brauchen. Das nächste Mal das er ihn dabei ertappte warf er ihn raus.

Darauf begab sich der junge Böhme als Geselle auf Wanderschaft. In jener Zeit bemerkte er an den Menschen die er da traf, dass sie mit ihrem Glauben in Konflikt standen, wo sich doch die verschiedenen Parteien der Evangelischen Kirche in den Haaren lagen. Es kam ihm vor, als befände sich die noch junge christliche Konfession in einer Art Babylon, wo jeder seiner Überzeugung nach in fremder Sprache die anderen beeindrucken und bekehren wollte.

Es war das aber auch die Zeit wo er viel in der Bibel las, aber auch astrologische Schriften studierte. Böhme war aber immer ein sehr frommer Mensch, der viel betete und über die erfahrenen Gottesworte meditierte. Einmal geriet er dabei sieben Tage lang in eine tiefe Ekstase, als er gerade Handarbeit ausführte, wo ihm sein spiritueller Meister wie aus dem Nichts begegnete. Da schien er aufzusteigen, seinen »Seelen-Sabbath« erfahrend, in einer Phase spiritueller Entrückung. Wie von göttlichem Licht umfangen, sah er sich selbst in einer Welt größter Stille und Freude. Doch es war ein rein innerliches Erleben, denn um ihn blieb alles so wie es war. Danach aber fühlte er sich wie von den Toten erwacht.

Solche Erlebnisse, die er seit seiner Kindheit hatte, gewährten ihm Einblicke in eine Welt, wie sie vor ihm wohl nur die Propheten der Bibel erlebt hatten.

Morgenröte im Aufgang

1594 kehrte Jakob Böhme zurück nach Görlitz. Ab 1599 eröffnete er dort eine Schusterei und heiratete im selben Jahr die Tochter eines Fleischers, die ihm zwischen 1600 und 1606 vier Söhne gebar. In dieser Zeit erlebte Böhme weitere mystische Visionen. Doch er schwieg darüber. Er wollte sie für sich behalten, um erst zu verstehen, was er dabei eigentlich erfuhr.

Als er eines Tages in seiner Schusterei saß, fiel sein Blick auf einen polierten Zinnbecher der vor ihm auf seinem Arbeitstisch stand. Die Sonnenstrahlen, die sich darin reflektierten, erzeugten eine wundersame Lichterscheinung, die seine Wahrnehmung derart absorbierte, dass er wieder in eine Art ekstatischen Zustand verfiel. Was er da erlebte war einzigartig, denn er fühlte sich wie aus dieser, in eine andere Realität entrückt, worin sich ihm die tiefsten Geheimnisse der Dinge offenbarten und er die ihnen innewohnenden Prinzipien erkannte.

Diese Erfahrung war so eindrucksvoll, dass er nicht länger darüber nachdenken wollte. Vielmehr suchte er Ablenkung und begab sich ins Grüne. Er wollte nicht so recht wahrhaben, was er da erlebt hatte und redete sich ein, dass diese Vision auf einer Einbildung basiert haben müsse. Nur gelang ihm das nicht, denn als er dort im Grünen stand, vermochte er auf einmal ins Innerste der Dinge zu schauen, die um ihn herum zu sehen waren. Alle Pflanzen und Gräser dort, waren in Harmonie damit, was er wie von innen heraus in seiner Vision vernommen hatte. Doch er wusste genau, dass er darüber mit niemandem sprechen konnte. So dankte er Gott für diese Erfahrung und behielt sie im Geheimen für sich.

Ein spirituelles Tagebuch

In den folgenden Jahren arbeitete Böhme als Schuster in seiner Schuhbank, wie man damals die Schustereien nannte. Er ging gewissenhaft seiner Arbeit nach und hatte mit allen Menschen einen guten Umgang.

Im Jahr 1610 erlebte er erneut etwas, dass er nicht durch seine alltägliche Erfahrung erklären konnte. An die prophetisch-visionären Eindrücke, die er als Junge vernahm, erschienen ihm da als recht chaotische und nur bruchstückhafte Vision. Er empfand sie nur als Momentaufnahmen von etwas viel Größerem. Jetzt aber sah er vor seinem inneren Auge ein ganz deutliches Bild. Er vernahm darin die Wirkungen eines Teils von etwas viel Höherem, empfand das in vollkommener Klarheit, als Element einer allumfassenden Ganzheit.

Was er da erlebt hatte schrieb er auf. Doch es war nicht seine Absicht diese Schriften zu veröffentlichen, da er sich als Schuster einem Dasein als Literat nicht gewachsen fühlte. So blieb das was er schrieb ähnlich einem Tagebuch, ein Notizheft, um sich an die gemachten Erfahrungen besser erinnern zu können. Denn es kam vor, dass ihm seine Visionen entglitten.

Jeden Morgen bevor er sich zur Arbeit begab, schrieb er darum auf, was er gesehen und erlebt hatte. Die Zeilen, die aus dieser Schreibtätigkeit entstanden, wurden zu seinem Erstlingswerk: Die »Morgenröte im Aufgang«, der man später den lateinischen Titel Aurora hinzugefügte. Den ursprünglichen Titel gab er dieser Schriftensammlung wohl auch wegen der Tageszeit, in der er sie verfasst hatte.

Für einen einfachen Schuhmacher, der keinerlei akademische Vorkenntnisse besaß, war dieses Werk eine erstaunliche Leistung. Doch wie er meinte, schrieb er die Texte nicht allein. Wie ein heftiger Schauer kamen ihm Erkenntnisse und was er dabei zu Papier brachte, schien wie in einem Fluss aus seiner Hand, recht ungeordnet auf dem Papier (jeder der sich schon mit Böhmes Aurora befasste, vermag das wohl auch nachzuvollziehen).

In der Aurora kommen die Lehren der Alchemisten und Theosophen zur Sprache. Was genau er darin aber veröffentlichte, gab er nur seinen engsten Freunden zu lesen. Viele Ärzte und Adlige waren unter Böhmes Freunden. Wegen der Tragweite, der darin getroffenen Aussagen über seine Erlebnisse, schienen sich die darin enthaltenen Texte, fast schon danach zu sehnen, von einer größeren Leserschaft gelesen zu werden. So kam es tatsächlich dazu, das ohne Böhmes Wissen, ein adeliger Bekannter unter seinen Freunden, tatsächlich Abschriften von seiner Aurora verbreitete.

Böhmes Werk las auch ein Schüler des berühmten Paracelsus. Es war der Arzt und Alchemist Balthasar Walther (1558-1631), der Leiter eines »Geheimen chymischen Laboratoriums« in Dresden. Walther war ein viel bereister Mann, der nach Syrien, Arabien und Ägypten gereist war, um dort nach den wahren Quellen der alten Kabbala und Magie zu forschen. Was er aber in Jakob Böhmes Aurora fand, erkannte er als tiefste Weisheit und jenseits dessen, wovon er bisher erfahren hatte.

Wegen seiner umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit aber, verkaufte er seine Schuhmacherei schon 14 Jahre nach ihrer Eröffnung – ein Zeitraum der uns heute echt lange vorkommt, doch in damaliger Zeit empfanden die Menschen das anders. Von da an auf jeden Fall lebte er von der Unterstützung seiner Freunde. Damit aber kam er immer wieder in große finanzielle Schwierigkeiten. Schließlich hatte er seine Kinder zu ernähren und ein Wohnhaus abzubezahlen, dass er 1599 in Görlitz gekauft hatte.

Jakob-Böhme-Denkmal Görlitz - ewigeweisheit.de

Jakob-Böhme-Denkmal im Görlitzer Park des Friedens (Foto: Ausschnitt aus dem Original von Südstädter; Quelle: Wikimedia; Lizenz CC BY-SA 3.0).

Aufbegehren eines Görlitzer Pfarrers

Die Kopien der Aurora, die sein Freund Carl von Endern anfertigen ließ, verbreiteten sich schnell. Eine davon fiel in die Hände des Görlitzer Oberpfarrers Gregorius Richter (1560-1624). Manchen erschien der Charakter dieses Kirchenmannes wie der eines aufgeblasenen Besserwissers.

Was da nun aber Jakob Böhme geschaffen hatte, war diesem Pfarrer Richter einfach nicht geläufig und vermutlich fehlte ihm das nötige Erkenntnisvermögen, um die Aurora überhaupt zu verstehen. Sicher aber wusste er von Böhmes Bewunderern. Doch er, als Pastor primarius, wollte keinen neben sich haben und empfand Böhme nur als gefährlichen Widersacher, der ihm als Pfarrer nur Konkurrenz machen könnte.

In einer seiner Sonntagspredigten beschuldigte er Jakob Böhme, sich zu brüsten als neuer Prophet – was dieser aber niemals tat. Doch in Wirklichkeit hielten ihn einige seiner Bewunderer tatsächlich für so einen. An jenem Tag jedoch war Böhme selbst unter den Kirchenbesuchern. Nach der Predigt wartete er auf Gregorius Richter am Eingang der Kirche, um von ihm freundlich in Erfahrung zu bringen, worin sein Vergehen eigentlich lag. Doch Richter drohte ihn verhaften zu lassen, wenn er sich nicht sofort aus seiner Gegenwart entferne. Am nächsten Morgen erhielt er vom Amtsgericht der Stadt Görlitz eine Ausweisung aus der Stadt, die aber kurz darauf wieder zurückgezogen wurde. Man verbot Jakob Böhme von da an aber, die weitere Veröffentlichung des Buches Aurora. Auch seine schriftstellerischen Tätigkeiten durfte er nicht weiter ausüben.

Anders als von Richter erhofft, kam aber durch dieses Ereignis die Aurora Böhmes erst noch größere Aufmerksamkeit und verbreitete sich schneller, als sich der Oberpfarrer in seinen schlimmsten Alpträumen auszumalen vermochte. Es sprach sich herum, dass dort in Görlitz ein wahres Genie zu Hause sei, dass man aufsuchen solle. Und so wollten bald möglichst viele unter der damaligen, deutschen Bildungsbürgerschicht wie auch aus Kreisen des Adels, den Meister Jakob Böhme persönlich treffen.

 

Über fünf Jahre befolgte Jakob Böhme das Diktat der Amtsrichter. In dieser Zeit schrieb er nur für sich. Es blieb ihm aber unbegreiflich, dass er nun nicht dem Gebot seiner göttlichen Vision folgend schrieb, sondern dem Zwang der Kirche gehorchen musste.

Drei Göttliche Prinzipien

Nach langer Zeit des Schweigens überredeten ihn im Jahr 1618 Freunde dazu, erneut seiner Berufung nachzugehen und was ihm in seinen Visionen erschien auch aufzuschreiben. Doch in seinem Wirken als Schriftsteller, blieb Böhme stets eine eigene, individuelle Erscheinung in der Geschichte der Mystik. Zwar schienen viele philosophische Strömungen in seinem Werk zusammenzulaufen, doch sie verschmolzen gleichsam im alchemistischen Ofen seines inneren, esoterischen Empfindens. Insbesondere die Zahl Drei nahm in seiner mystischen Philosophie eine zentrale Rolle ein. 1619 erschien in diesem Kontext sein zweites Werk: De tribus principii – »Die Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens«.

Für Jakob Böhme bildete das Universum seinem Wesen nach drei Welten. Aus ihnen entstand alles Sein. Die transzendente Einheit Gottes aber wies ihm den Weg zu seinem Selbstausdruck in der Welt.

Gott ist von Ewigkeit Alles alleine; sein Wesen teilet sich in drei ewige Unterschiede. Einer ist die Feuer-Welt; der Andere die Finstere Welt; und der dritte die Licht-Welt. Und ist doch nur Ein Wesen in einander, aber keines ist das Andere.

[…]

Das rechte Leben stehet im Feuer; dort ist der Angel (die Befestigung) zu Licht und Finsternis. Der Angel ist die Begierde: womit sich die füllet, dessen Feuer ist die Begierde, und dessen Licht scheinet aus dem Feuer; dasselbige Licht ist der Gestalt oder desselben Lebens Sehen, und das eingeführte Wesen in die Begierde ist des Feuers Holz, daraus das Feuer brennet, es sei herbe oder sanft, und das ist auch sein Himmel-oder-Höllen-Reich.

Das menschliche Leben ist der Angel zwischen Licht und Finsternis: welchem es sich aneignet, in demselben brennet es. Gibt es sich in die Begierde der Essenz, so brennt's in der Angst, im Finsternis-Feuer.

- Aus Jakob Böhmes »Sechs Mystischen Punkten«, Punkt 2: »Von der Gnadenwahl, vom Guten und Bösen«

Gewiss ist das jene Trinität, von der auch in den Lehren der Alchemie die Rede ist. Diese Geheimwissenschaft aber verwendet andere Namen für diese Dreiheit, nämlich dem feurig-geistigen Sulphur, dem flüchtigen Mercurius und dem manifestierten Sal. Was aber der daraus bereitete »Weiße Stein« den Alchemisten galt, war für Jakob Böhme jene universale Dreifaltigkeit der göttlichen und sinnlich-wahrnehmbaren Schöpfung, worin wir als Menschen leben und handeln.

Mit der Welt des Feuers bezeichnete Böhme den unbegrenzten Willen Gottes, den er während seiner Schöpfung konzentrierte auf die natürliche Welt, als Inspiration zu werden. Was auch immer werden soll, braucht Feuer. Und aus diesem Urfeuer der göttlichen Schöpfung entstand ein Paar von Gegensätzen:

  • Eine finstere Welt der Konflikte, der Übel, was man als die ewige Natur des Materiellen bezeichnen könnte, und
  • eine lichtvolle Welt, erfüllt von Weisheit und Liebe. Das ist der ewige Geist, der Nous, wie ihn Platon nannte.

Die dunkle Welt ist das Widerspenstige im Leben, alles was den Gegensatz zum Göttlichen bildet – die Welt des Unverbesserlichen, kurz: die Probleme – das was uns in unserem Leben Kopfzerbrechen bereitet. Die Reiche des Lichts aber bildet die Welt des Guten. Es leuchtet aus dem Herzen Gottes, durch sein Wort, dem Logos, der sich jedoch vom feurigen Prinzip seines Willens unterscheidet.

Fest steht: die Finsternis bleibt die Voraussetzung für das Licht, denn alles was in der Welt entsteht, benötigt einen Gegensatz, durch den es sich ja überhaupt erst als kontrastierendes Abbild manifestieren kann. Gewissermaßen ließe sich dieses Axiom auch in der Geschichte von Böhmes Wirken sehen, als prophetischer Schriftsteller. Auch andere Autoren die mit ihren Veröffentlichungen in Konflikt mit der etablierten Geisteselite gerieten, hatten mit den selben Herausforderungen zu kämpfen. Erst nämlich durch die Problematik, die sich aus diesen widerstrebenden, verneinenden Kräften ergab, fand eine neue Lehre das notwendige Licht, um sich aus dem Dunkel überkommener Sichtweisen zu erheben.

Das erkannte Böhme sehr wohl. Für ihn war die äußere, alltägliche Welt sowohl gut und böse zugleich, sowohl grauenhaft wie entzückend, worin Liebe und Zorn gemeinsam bestehen. Doch das nur als die Bestandteile eines selben Ursprungs, die Böhme eben durch seine Definition des Feuers beschreibt. Und in diesem Feuer streben das natürliche und das geistige Leben zum Licht. Ziel aber sollte dem Menschen sein, das Licht aus seinem feurigen Ursprung hervorzubringen, denn was sonst bleibt zurück vom Feuer, als nur Asche und schwarzer Ruß?

Hier sprach Jakob Böhme allegorisch vom »Blühen der Lilie«, die für ihn die Neugeburt des Christus symbolisierte. Wieso? Für Böhme befand sich das Universum scheinbar in einem riesigen alchemistischen Prozess, wo in einem allegorischen Kochtopf (Feuer), unablässig das Unedle (Finsternis) in lauteres Gold (Licht) destilliert wird. Und so wie sich dieser Veredelungsvorgang im Makrokosmos der Welt vollzieht, so auch im Mikrokosmos des Menschen. Auch der Mensch als Erscheinung seiner Spezies, befindet sich in einem Zustand des Werdens. Es ist darum gar nicht zu vermeiden, dass aus diesem Werden, sich aus dieser Veränderung zu etwas Neuem, durchaus Konflikte ergeben, wo sich eben Licht- und Finsterniskräfte empfindlich berühren. Übertragen auf das Leben eines Menschen, sind das die Probleme, die sich in unserem Dasein ergeben und bewältigt werden wollen.

Was die Hermetiker als das »Große Werk« anstreben, darauf soll auch der Mensch hinarbeiten. Der nämlich muss sein weltliches Leid ertragen lernen, um die in ihm wirkenden Gegensätze von Feuer und Licht zu überwinden.

Um dereinst zu den Himmlischen zu zählen, muss sich ein Mensch gegen die finsteren Anteile des Feuers wehren, um dabei das Licht daraus zu erlösen, was natürlich nicht immer einfach ist. Das weiß jeder, der schon ein paar Jahre auf unserer Erde wandelt. Da der Mensch aber alle drei Aspekte der dreifaltigen Welt in sich trägt – Feuer, Licht und Finsternis –, ist, wenn er bereit ist diesen unausweichlichen Kampf mit seinen Problemen auszutragen, ein Sieg über seine Leiden durchaus gewiss.

[...] wenn einer einen rechten Menschen stehen sieht, mag er sagen: Hier sehe ich drei Welten stehen […]

- Aus Jakob Böhmes »Von sechs theosophischen Punkten«, Erster Punkt, 2. Kapitel

Das menschliche Leben ist der Angel (die Befestigung) zwischen Licht und Finsternis: welchem es sich aneignet, in demselben brennt es. Begibt es sich in die Begierde der Essenz, so brennt's in der Angst, im Finsternis-Feuer.

- Aus Jakob Böhmes »Sechs Mystischen Punkten«, Punkt 2: »Von der Gnadenwahl, vom Guten und Bösen«

Unzählige Abenteuer vermag ein Mensch in jenem Urfeuer zu erleben. Seine Flammen schlagen eben aus den Tiefen der Hölle bis in die höchsten Höhen aller Himmel. Feuer ist wie das Leben: Kummer, Mühen und Konflikte ereignen sich unausweichlich. Da sich die Flamme dieses Feuers jedoch zur dunklen wie zur lichten Seite hin ausbreitet, kann man wählen zwischen:

  • dem finsteren Egozentrismus der Sünde oder
  • einem selbstlosen Dasein auf dem lichtvollen Weg zu göttlicher Vervollkommnung.

Alle spirituellen Traditionen lehren uns den Strudel der Egoismen versiegen zu lassen. Man muss die Energie eben so einsetzten, damit was vollbracht wurde, auch zu zu Liebe führt. Dunkle Teile in der Welt und in den Menschen lassen sich so zu Licht transmutieren (symbolisch also zu Gold). Und dabei wird die Furche zwischen den Dingen in der Natur und des Geistes geschlossen.

Böhmes gesamtes Schriftwerk dreht sich allein darum, danach zu streben das Licht Gottes in einem selbst zu entzünden, als eine allumfassende, alles durchdringenden Realität. Wir sind eben das, was wir aus unserem Leben machen.

Himmel und Hölle sind überall

Alles was zählt, ist sich zu entscheiden, zwischen dem Weg zu göttlicher Liebe oder einem Weg hin zum Untergang (wobei letztere Entscheidung eigentlich keine ist, da jemand aus reiner Unwissenheit und Ignoranz, ganz unbewusst auf solche Abwege gerät). Wer ununterbrochen, lebenshungrig und voller Ungeduld, an der Grenze zwischen kosmischem und menschlichem Leben schlittert, der wird niemals das »Rad des Schicksals« verlassen können. Er verfehlt das alchemistische Werk, zielen seine Begierden doch nur auf den dunklen Teil des Urfeuers.

Böhme schreibt, dass so jemand einen Zustand der turba erzeugt, eines »lärmenden Getümmels«, das nirgendwo sonst zu hören ist, als aus den Tiefen der Hölle. Drum dürfte die Aufforderung plausibel erscheinen, wenn es heißt, man solle sich dem hellen Teil des Urfeuers zuwenden, um darin die Impulse göttlichen Lichts zu empfangen – einem Licht, dass all-ein-sam in der Stille der Ewigkeit brennt.

Geduld, Mut, Liebe und Hingabe lassen den Suchenden allmählich erkennen, dass auch seine Seele Teil einer göttlichen Wirklichkeit ist. All die Heiligen und Mystiker bewiesen durch ihre Biografien, dass dies auch tatsächlich als entsprechende Wahrheit vernommen werden kann.

Christ zu sein bedeutete für Jakob Böhme aber nicht, allein »nur an Gott zu glauben«. Es war für ihn ein lebendiger Vorgang echter Arbeit, den nicht etwa Christus am Kreuz der Menschheit abnahm, sondern in seiner Symbolik einen Hinweis auf eben jenes alchemistische Werk einer persönlichen Veredelung gab, in der sich das eigene Dasein in dieser Welt, auf einen Weg führen lässt, hin zur Erlösung und der Ankunft unter den Himmlischen.

Das wahre Christentum war für Böhme also nicht nur Lippenbekenntnis. Es war für ihn ein inneres Erfahren der Manifestationen dessen, was die Evangelien in ihren Lehren für die Menschen vorbereitet hatten.

Eine Frage der Auslegung

Was Jakob Böhme wohl sicherlich beabsichtigt hatte, war gewiss nicht bloß seine Schriften zu lesen oder nur daraus zu zitieren, als vielmehr sein Werk, mit einem gewissen Grad selbst erwogener Freiheit, auf individuelle Weise wiederzugeben. Doch genau da liegt auch der Widerspruch: denn wie soll man die Kernaussagen Jakob Böhmes vermitteln, wenn sie individuelle Auslegungen einfärben? Das lässt sich nicht vermeiden, doch ist wohl ebenso gut. Denn je mehr Eindrücke durch verschiedene Interpretationen beim Dritten entstehen, desto wahrscheinlicher zeichnet sich ein tatsächliches Bild dessen ab, was in diesem Falle Jakob Böhme durch sein Schriftwerk der Nachwelt überbringen wollte.

Es wäre also falsch, von einer Auslegung ausgehend zu sagen, dass ihr an Objektivität mangelt. Nur jeder kann für sich selbst eine Sichtweise entwickeln. Denn wenn er verstehen will was er liest, bei Böhme, aber auch anderswo, ist er gezwungen es nach seinem eigenen Ermessen und Verstehen wiederzugeben, ganz im Sinne des Apostels Paulus, wenn er sagte:

Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet.

- 1. Thessalonicher 5:20f

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Ein Lebemeister und Lehrmeister der Spiritualität: Meister Eckhart

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Für ein Neues Bewusstsein

Meister Eckhart - ewigeweisheit.de

Man nannte ihn das Genie der deutschen Mystik: Meister Eckhart von Hochheim. Er erfüllte tatsächlich seine Rolle im Leben, der er in seinen berühmten Reden der Unterweisung auch entspricht. Wer zum ersten Mal mit ihm in Berührung kommt, wird schnell Feuer fangen. Kein Wunder, stillte er doch die Bedürfnisse seiner Zeitgenossen, die sich nach Lebensweisheit und Erkenntnis sehnten.

Zu Meister Eckharts Lebzeiten, befand sich Deutschland in einer Zeit des Umbruchs. Die Kirche bedrohten sektiererische Bestrebungen. Vielerorts riefen die Menschen nach Reformen. Eckharts Zeitgenossen waren den reinen Dogmen- und Moralpredigten der Kirche, längst überdrüssig. Das alte Glaubenssystem der Kirche galt im Spätmittelalter als überholt. Eher wünschte man sich eine vielmehr unmittelbare religiöse Erfahrung des Gotteswortes – etwas, dass sich auch im alltäglichen Umgang mit sich selbst, den Anderen und der Welt, direkt und trefflich anwenden ließe.

In dieser Zeit erfuhr auch die deutsche Mystik eine neue Blüte. Breite Schichten des Volkes sehnten sich nach göttlichem Heil, nach einem »Innewerden Gottes in der eigenen Brust«, im Erlebnis der Unio Mystica – der spirituellen Einswerdung, wo sich, in einer »Mystischen Hochzeit«, die menschliche Seele gleichsam mit Gott vermähle.

Besonders Frauen der höheren Gesellschaftsschicht, besaßen eine regelrechte Sucht nach religiös-mystischer Unterweisung und spiritueller Vision. Ihr fast unstillbarer Bildungshunger, ließ dominikanische Frauenklöster darum wie Pilze aus dem Boden schießen.

Die bezaubernde Mystik eines beinahe Unbekannten

Wenn Meister Eckhart dieses Begehren der Menschen, aber so gekonnt zu stillen vermochte, wer dann war dieser sagenhafte Mann?

Dazu existieren heute nur wenig äußere Daten, noch sind Bilder von ihm bekannt (das im Internet am weitesten verbreitete Bild, das angeblich Meister Eckhart in schwarzer Robe, Mütze und weißer Lilie haltend darstellt, ist in Wirklichkeit ein Gemälde von Giovanni Bellini, auf dem man Teodoro von Urbino sieht). Sein Leben lässt sich darum nur mit dürftigen Strichen zeichnen. Wenn man über sein äußeres Leben erfahren will, ist man darum auf nur spärliche Notizen angewiesen.

Eckhart kam um 1260 in der Nähe von Gotha in Thüringen, als Sohn des Rittergeschlechts von Hochheim zur Welt. Schon früh trat er dem Erfurter dominikanischen Predigerorden bei. Bald schon erkannten die Mitglieder seine außergewöhnliche Begabung zur Rede. Und so entsandte man ihn um 1300 schließlich an die Universität Paris – in jene Stadt, die einst die geistige Metropole des damaligen Abendlandes war.

Schon 1303 kehrte Eckhart mit einem Magister-Titel nach Erfurt zurück, wo man ihn nun zum »Meister« wählte – einem Titel, mit dem man ihn seither ansprach. In den Folgejahren wurde Meister Eckhart mit hohen Ämtern betraut, die in den kommenden beiden Jahrzehnten seine Verantwortlichkeiten über die Geografie Böhmens, bis in den Elsaß hin ausdehnten.

Mit den Schriften, die Meister Eckhart hinterlassen hat, gelingt es ihm, ganz deutlich das Verhältnis von Denken, Sein und Leben zu bestimmen. Fragen nach dem, was nun Wirklichkeit sei, beantwortete Eckhart damit, dass das Sein keine besondere Weise benötige, um zu existieren. Das galt für ihn auch für das Leben im Allgemeinen. Es mag manchen sicherlich wie eine Unterstellung oder gar als Widerspruch erscheinen, doch ich fragte mich, ob wohl auch die französischen Existenzialisten Eckharts Schriften lasen? Selbst wenn sich ihre Vertreter als Atheisten bezeichneten, klingt bei ihnen eine ähnliche Selbstverständlichkeit an, die schon Jahrhunderte zuvor, Meister Eckhart für das Leben eines Menschen voraussetzte.

Auch wenn er heute zu den wohl am meisten zitierten »christlichen Mystikern« zählt, lässt sich nicht vermeiden, den Begriff »Mystik« an sich, sogar von Meister Eckhart her abzuleiten - war er doch nicht etwa irgendein Mystiker gewesen, sondern selbst das (deutsche) Original.

Zentraler Sinn seines Werkes, war die Wahrheit des Evangeliums hervorzutreiben und in diesem Sinne, seinen Mitmenschen praktisch fruchtbar zu machen. Das bedeutet, dass Eckhart die christliche Mystik aus den Formen der Aristokratie herausführte, die ja noch etwa bei Bernhard von Clairvaux (1090–1153) so hoch gepriesen wurde. Eckhart hingegen richtete seine Predigten und Traktate an jedermann, bot jedem an der dazu bereit war, geglaubte Wahrheit in sich Wirklichkeit werden zu lassen.

Ein Freigeist

Es schien das, fast schon eine Grunderwartung der Menschen in Deutschland gewesen zu sein, denn nicht zufällig rumorte es im dortigen Christentum gewaltig. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts, wimmelte es in Deutschland von »ketzerischen« Bewegungen und Sekten. Was als Religion empfunden wurde, war nicht mehr allein das, was die Prediger von den Kirchenkanzeln riefen. Religion wurde als etwas erkannt, das vielmehr in jedem Menschen als Christentum lebendig ist. In dieser Zeit entstanden etwa die Lehren von einem inneren Himmel, der im ewigen Leben in der Zeit, aus einem reinen, wesenseigenen Gott heraus existiert.

In diesem Zusammenhang stand auch das Werk Meister Eckharts. Man könnte sogar sagen, dass er in dieser Zeit zum geistigen Brennpunkt wurde, wo alle Strahlen diesen neuen, mystischen, doch von der Kirche als häretisch eingestuften, christlichen Strömungen, in seinem Wirken zusammenliefen.

Es war auch die Zeit, wo in mehreren europäischen Ländern die Glaubensgruppe der »Brüder und Schwestern vom freien Geiste« eine pantheistische Theologie verbreitete. Grundlage ihrer theologischen Ideale war, dass der Mensch eben nicht von Gott isoliert im Exil auf Erden lebte, sondern man wusste, dass Gott in allen Dingen der Welt entdeckt werden kann, und damit Gott und Kosmos auch identisch sind.

Diese Glaubensgruppe bezog ihren Namen aus dem Bibelwort:

Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit

- 2. Korinther 3:17

Allerdings kann man bei den Brüdern und Schwestern vom freien Geiste, nicht von einer einheitlich organisierten Sekte ausgehen. Eher war es ein lockerer Verband rechtgläubiger Menschen, die vielmehr versuchte, die Individualisierung der Beziehung von Mensch zu Gott in ihren Lehren zu intensivieren.

Welche Rolle aber spielte dann noch die katholische Kirche? Diese Fragen dürften sich im 14. Jahrhundert wohl etliche deutsche Geistliche gestellt haben. Darum scheint es wohl kein Zufall gewesen zu sein, dass sich solche Gruppierungen wie die Brüder und Schwestern vom freien Geiste, der Verfolgung ausgesetzt sahen. Schon ab dem 15. Jahrhundert war diese spirituelle Bewegung wie vom Erdboden verschwunden.

Im Fadenkreuz der Inquisition

Die Katholische Kirche verdächtigte natürlich auch Meister Eckhart wegen »häretischer Überzeugungen«. Doch er selbst bestritt immer jede Nähe zu unkirchlichen Häresien. Das man ihn verdächtigte war wohl insbesondere dem Umstand geschuldet, dass seine Lehren immer tiefer ins gläubige Volk drangen. Erst beobachtete man ihn aus dem Verborgenen, bis sich die Kirchenoberhäupter in ihrer Feindseligkeit öffentlich gegen ihn wandten.

Er wusste allerdings ganz genau, dass er keinem Forum als nur der Pariser Universität und dem Papst zur Rechenschaft verpflichtet war. Trotzdem erklärte sich Meister Eckhart dazu bereit, Rede und Antwort zu stehen. Er wusste ganz genau, und sprach das auch an, dass man ihn wohl kaum zu seiner Verteidigung einberufen hätte, wenn sein Ruf beim Volk nicht so gut gewesen wäre. Es war ihm natürlich klar, dass er damit ganz kühn ansprach, was der katholische Klerus stets berechnend vermied. Fast schon wahnwitzig, doch eben darum, wenn offiziell auch aus fadenscheinig anderen Gründen, verdüsterte ihm die Heilige Inquisition seinen Lebensabend.

Der Erzbischof von Köln, Heinrich von Virneburg, der auch der Verfolgung der Brüder und Schwestern vom freien Geiste mit energischer Hingabe nachging, eröffnete gegen Meister Eckhart im Jahre 1326 ein Inquisitionsverfahren. Der Grund der Anklage lautete: »Verbreitung glaubensgefährlicher Lehren in deutschsprachigen Predigten vor dem Volke«.

Ehe also Eckharts Saaten aufgehen konnten und im Volk Früchte tragen, wurden sie von der Kirche auf diese Weise niedergetreten. Solch übles Bestreben, scheint bis heute in unserem Geistesleben nachzuwirken. Denn was den Menschen eine direkte, innere Gotterfahrung näherbringt und sie mit wahrer Lebensweisheit sättigen würde, scheint in der verweltlichten Form des Christentums immer tiefer zu versickern. Dumm nur, wenn verweltlichter Glaube oder sogar Atheismus, das Christentum gleichsetzen, mit diesen alten Verfehlungen der Inquisition.

Doch vielleicht gerade deshalb, geht ein Suchen durch unsere Zeit, wo immer mehr Menschen das reine Vernunftdenken einfach nicht mehr reicht. Man versucht sich wieder an tiefere Quellen anzuschließen - etwas, dass die katholische Kirche anscheinend schon lange nicht mehr bedienen kann, da sie nach wie vor ihre Rolle, nur als moralische Anstalt erfüllt. Von der Vermittlertätigkeit eines wahren, mystischen Gotterfahrens, scheint sie sich damit aber immer weiter zu entfernen.

Von der Betrachtung der Wirklichkeit

Fast siebenhundert Jahre nach Eckharts Tod, bleibt sein Werk noch immer eine Quelle wahrer Weisheit. Was sich verändert hat natürlich, ist das äußere Weltbild. Denn die Menschen seinerzeit sahen sich noch im Mittelpunkt der Welt, wo himmlische Körper in ätherischen Schalen, eine Erde im Zentrum umkreisten, umgeben von einem herrlichen, ewig reinen Feuerhimmel.

Letztendlich aber spielen die Unterschiede der Vorstellungsweisen vom kosmischen Weltbild, für den Einzelnen eine wohl eher nebensächliche Rolle, insbesondere dann, wenn es um Lebensfragen geht. Engel und Teufel und all die himmlischen Heerscharen sind eben »nur« symbolische Größen und Mittel der Veranschaulichung. Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch tatsächlich existieren.

Wie sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen neuerer Zeit entnehmen lässt, dehnen sich die Größenordnungen des Kosmos weit über die menschliche Auffassungsgabe aus. Vielleicht war das den Alten bereits bewusst, wenn sie etwa sagten:

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.

- Exodus 20:4

Da Eckharts Gedanken im Grunde aber ganz auf die Ewigkeit ausgerichtet waren, galt ihm alles Gleichnishafte als vergänglich. Alle Wirklichkeit der Natur und Geschichte befand sich für Meister Eckhart in der höheren Wirklichkeit der Seele aufgelöst. Es war ein ausgesprochen mächtiges Lebensgefühl, dass sich jenseits aller Dinglichkeit bewegt. Nur in Demut darum, bewährte sich für ihn die Göttlichkeit, da erst durch sie sich zeigt, dass sich im Endlichen das Ewige und im Sterblichen das Unbegrenzte regt.

Philosoph der Christus-Religion

Sein religiöses Erleben versuchte Eckhart auszugleichen mit weltlichen Erfahrungen. Er brachte sie in seinen Schriften so zusammen, dass sie dem Leser eine einheitliche Schau widerspiegelten: im Himmlischen und Weltlichen, nicht getrennt voneinander existierend, sollte sie der Einzelne in sich selbst finden und darin auch erkennen können. Er war eben nicht allein nur ein Mann der Religion sondern auch ein Philosoph des Christentums. Weniger sollte man ihn aber als Seher wahrnehmen, als vielmehr einen Meister der Begriffsformung. Sein intellektuelles Werkzeug war das der klassischen Scholastiker, wo platonisch-aristotelische Begriffe zu einer Einheit verschmolzen und woraus die christliche Dogmatik entstand.

Es wäre jedoch zu einfach, Meister Eckharts Werk auf dieser Stufe zu belassen. Im Unterschied zu seinen spirituellen Vorgängern nämlich, verwendete er auch die monistische Seinslehre des Arabers Avicenna (Ibn Sina) und die Emanationslehre des Plotinus. Darin geht die Welt hervor, aus einem stufenweisen Fall des höchsten seienden Einen. Dabei ist es gar nicht notwendig, besonders viele neue Begriffe und philosophische Vorstellungen zu erfinden oder einzuführen. Eher kommt es auf die Fähigkeit an, diese so zu vereinfachen, dass sie einem tatsächlich im Leben helfen – was Meister Eckhart in seinem Werk allemal gelang.

Je älter die Grundkonzepte sind, derer sich ein Philosoph in seinen Ableitungen bedient, um so besser. Denn selbst jene Wirklichkeitsempfindungen, die sich auf die Gegenwart beziehen, können durchaus durch Hilfe älterer Begriffe so beschrieben werden, dass sie die Sichtweise auf das Beschriebene sogar noch konzentrieren und auf diese Weise verfeinern. Alles was Meister Eckhart in seinem Werk vollbrachte, war, einer transzendenten Geisteswelt einen neuen Mittelpunkt zu verleihen – und damit einen neuen Sinn.

Wege in den einigen Urgrund

Willst Du den Kern haben, so musst du die Schale zerbrechen.

In diesem simplen, doch aussagekräftigen Zitat, bezieht sich Meister Eckhart auf das Denken. Für ihn war es wie eine Schale, die sich zwischen uns und unsere eigentliche Wirklichkeit drängt. Die Begriffe in unserem Denken verwenden wir als »zugerichtete« Wörter, den eigentlichen Sinn der dahinter liegenden Wahrheit aber, umschließen sie wie ein Gefäß. Das begriffliche Denken ist etwas, wie der Name des Wortes schon sagt: wir begreifen, erfassen etwas, wie ein Gefäß das wir berühren, anfassen, etwas nach dem wir greifen.

Auf das Gefäß aber kommt es nicht an. Einzig der Inhalt zählt und auf ihn muss jeder in seinem Leben eigene Antworten finden. Erst damit kann er die Grundlagen schaffen, um seine Persönlichkeit zu dem zu formen, was seiner Lebensaufgabe entspricht.

Das genau war auch Meister Eckharts Ziel. Er versuchte in seinen Predigten »Religion« zu lehren und zwar ihrem wortwörtlichen Sinne entsprechend: als Rückverbindung unseres so weitläufigen Weltbewusstseins, an den ewigen Urgrund der Einigkeit allen Seins. Dieser »Ewigkeitsgrund« aber darf nirgends sonst gesucht werden, als im Kern unseres eigenen Wesens. Für Meister Eckhart bildet er die schöpferische Einheit, aus der die ganze Individualität des sinnlichen und geistigen Daseins stammt.

Wenn Religion also meint, zu jenem Urgrund zurückzuführen, begibt man sich als religiöser Mensch (andere nennen das heute vielleicht »spirituell«), auf die Suche nach einem Weg dorthin. Es ist ein Weg aus der Zerstreutheit all der vielen Willens(ab)gründe, zurück in die eigentliche Wesenseinheit des Lebens. Nur in ihr kann man zu wahrem Menschsein erwachen.

Für Eckhart sieht sich der Mensch im Ich getrennt von anderen Seelendingen oder von anderen »Ichen«. Wer sich diesem Drang aber dereinst zu entziehen vermag, der wird auch zur Stille seines ungeteilten Wesens zurückfinden – etwas, worin echter Segen liegt. Erst aber wenn alles Wünschen und Sehnen, alles Wissen- und Sehenwollen verschwunden sind, wird dieser einige Urgrund als wahrer Kern unseres Wesens erlebt.

Was dieser einige Urgrund ist, lässt sich letztendlich nicht beschreiben, ist die Beschreibung einer Sache doch immer weniger, als das Beschriebene selbst. Was dieser Urgrund aber sein könnte, das ließe sich höchstens herleiten aus dem, was er nicht ist. Denn als Einheit, kann er nicht das sein, was unsere Seelen als die Welt des Daseins empfinden. Sie nämlich ist die Vielfalt und Mannigfaltigkeit, aller gezeitigten Dinge, die voneinander unterschieden und daher immer getrennt existieren. Wenn jener einige Urgrund aber all das nicht ist, so ist er wohl ein grenzenloses, unbeschränktes, zeitloses und darum ewiges Sein. Was aber räumlich und zeitlich begrenzt ist, ist letztendlich auch dem Leid unterworfen. Das unbegrenzt Ewige aber kann darum nur als vollkommene Seligkeit erfahren werden.

Sobald wir uns durch solche Beschreibungen ein Bild von dem machen, was wir hier als den einigen Urgrund allen Seins bezeichnen: haben wir uns da nicht bereits aus ihm herausbewegt? Doch auch das würde seinen Zweck erfüllen. Schließlich ereignet sich mit diesem Ausgang, ja die Befreiung einer Daseinsform. Und so etwas ließe sich durchaus auch als Wiedergeburt deuten.

Der einige Urgrund, von dem oben die Rede war, kann hierdurch als Quell unseres Daseins erfahren werden, im Wunsch ihn zu erkennen können wir uns ihm nähern, indem wir auf unser Lebensziel zuschreiten. Sobald wir dann diesen Urgrund in uns, als unsere letztendliche Wirklichkeit finden, haben wir das Sein seiner Wirklichkeit, als Grund der Welt gefunden und erfahren. Sein ist Eins.

Zwischen Wagemut und Genialität

So wie der Leser das vielleicht als recht wagemutige Behauptungen empfinden könnte, so muss es auch schon den Zuhörern Meister Eckharts Predigten ergangen sein. Der deutsche Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues (1401-1464) hielt Eckhart darum »nicht für jedes Gemüt zuträglich«. Der Meister aber war sich immer der Kühnheit seiner Worte bewusst. Niemand brauchte ihm sagen, dass er in den Köpfen des gemeinen Volkes allenfalls Verwirrung stiftete. Und jene Wahrheiten über die Meister Eckhart schrieb und predigte, schienen höchstens einige kongenialen Geister erfassen zu können.

Könntet ihr mit meinem Herzen erkennen, so verstündet ihr wohl, was ich sage; denn es ist wahr, und die Wahrheit spricht es selbst. […]

Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.

- Aus Predigt 2, Predigt 32

Diese Wahrheit brach schon fast aus seinem Inneren hervor. Nicht aber war sie vielfältig, wie man meinen könnte. Wer das riesige Schriftwerk Meister Eckharts kennt, weiß, das er immer wieder aus einem zentralen Kerngedanken, alle übrigen Sinnzusammenhänge entwickelte, die als Worte, wie aus seiner Seele geboren wurden. Wer diesen Grundgedanken in Meister Eckharts Lehre nicht erkannte, fand sich wohl leicht verstrickt, in einem schier unentwirrbaren Durcheinander von Unklarheiten. In Wirklichkeit aber sah Eckhart, durch seinen tiefen Blick in die Geheimnisse des Göttlichen, alle Vielfalt im all-einigen, unendlichen Sein aufgehoben und zur Einheit zusammengefasst.

Im Wesenskern der menschlichen Seele und dem göttlichen Seinsgrund, erkannte er eine Gleichartigkeit, worin Gott und Mensch einander verbunden sind – wenn auch auf unbeschreibliche, unerfassbare Weise. In jenem Kern fließen Menschsein und Gottsein zusammen. Und so wie sich vom wesentlichen Urgrund, dem Wesenskern allen Seins, eine Ausbreitung der Existenzen ergibt, so wiederum ergibt sich aus ihnen eine einzigartige Mannigfaltigkeit unzähliger Daseinskerne. Sie gleichen Saatkorn und Frucht zugleich, sind Urbilder der werdenden und der entstandenen Dinge. Diese Dinge aber existieren nicht etwa voneinander abgetrennt, sondern bilden gemeinsam ein System. Auch darin bestätigt sich das einige Sein, seine Einheitsnatur.

Die Vielheit aller Wesen sammelt sich somit als Einheit im Universum der geschaffenen Welt, in der sich all die unzähligen Urbilder in der Einheit einer ewigen Welt wiederfinden.

Sein als reines Erkennen

Nicht davon bin ich selig, dass Gott gut ist. Ich will auch niemals danach begehren, dass Gott mich selig mache mit seiner Gutheit, denn das vermöchte er gar nicht zu tun. Davon allein bin ich selig, dass Gott vernünftig ist und ich dies erkenne. Ein Meister sagt: Gottes Vernunft ist es, woran des Engels Sein gänzlich hängt. […] Des Engels Sein hängt daran, dass ihm die göttliche Vernunft gegenwärtig ist, worin er sich erkennt. […] Wenn wir Gott im Sein nehmen, so nehmen wir ihn in seinem Vorhof (des Tempels), denn das Sein ist sein Vorhof, in dem er wohnt. Wo ist er denn aber in seinem Tempel, in dem er als heilig erglänzt?

- Aus Predigt 10

Meister Eckhart bestimmte hieraus zugleich die Zuordnung des Wesen Gottes und des Menschen. Das Sein in Gott, ist reines Erkennen. Und so ruft dieser eine Gott durch sein Erkennen die Dinge ins Sein. Logischer Schluss wäre damit ja, dass je nach Erkenntnisvermögen, etwas oder jemand, entsprechend viel von Gott, vom Einen und vom Einssein mit Gott besitzen würde.

Im absoluten Erkennen ist damit die Einheit Gottes erfasst, aus dem das Sein ausströmt. Was dieses Erkennen erkennt, ist sein eigenes Sein, was es in seinem Spiegelbild erschaut. Darin erkennt das absolute göttliche »Vernunft-Sein« die Urbilder der Schöpfung – das, was der griechische Philosoph Platon die »Ideen« nannte.

Doch bei alle dem, war für Meister Eckhart Gott nicht ein jenseitiges Ideal einer alles bewegenden, tragenden und schöpfenden Weltsubstanz. Vielmehr waren alle Dinge für ihn Gott, aus denen er sich aber auch wieder, bis zum ausdehnungslosen Punkte, jederzeit zurück- und zusammenziehen kann, so dass Gott eben nicht mehr das ist, als was er darin gegenwärtig war. Damit verwendete Eckhart den Gottesbegriff stellvertretend für das eine und reine Sein, worin sich ein ewiger Vorgang von Werden und Entwerden vollzieht. »Gott« ist damit nicht mehr, als ein Name, der allein der religiös-philosophischen Anschauung seines Seins dient.

Dieser eine, ewige Weltprozess aber, bleibt immer nur die eine Seite des »Einen Seins«. Es gibt damit notwendiger Weise auch eine andere Seite. Das ist die ewige Stille, die Eckhart die »Gottheit« nannte – ein in sich ruhendes, kosmisches Potential, aus dem Gott wirkend hervortritt und in dessen Stille »Er« sich auch wieder zurückzieht. Aus der »gottgebärenden Gottheit« geht »Gott« also hervor und fließt auch wieder in sie ein.

So wie aus Gott die Dinge entstehen und aus ihrem Sein wieder in ihn zurückkehren, so wird auch Gott selbst und vergeht wieder, durchläuft eine Entwicklung und hat damit seine Geschichte. Die »Gottheit« hingegen, verharrt in ungetrübter Stille. Darin ist alles eins und daraus werden alle Entwicklungsbewegungen stetig neu hervorgebracht. Der Name »Gottheit« steht damit also für die schöpferische Einheit die den (be)wirkenden, schöpferischen Gott gebiert und in die er sich wieder zurückzieht.

Das Leben, das darum lebt, dass es lebt

Solche feinen Unterschiede, im sprachlichen Kontext zu schaffen, gelang Meister Eckhart anscheinend zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen. Nicht ohne Grund nennt man ihn daher den Begründer der deutschen Prosa. Es war wohl die Klarheit und Einfachheit seiner Sprache, die ihm ermöglichte, solche doch ganz einleuchtenden Schemata zu finden, woraus sich das Göttliche erklären ließ.

Eckharts Theologie war immer experimentell und auch spekulativ. Seine Weisheitslehren aber sind aktuell geblieben und auch heute noch für seine Leser erlebbar. Wer sich daher um eine weltoffene christliche Spiritualität bemüht, ist bei Meister Eckhart an der richtigen Adresse. Er wird ihn begeistern und wird ihn verwirren – doch weder langweilt, noch enttäuscht er den Leser. Der deutsche Mystiker Johannes Tauler (1300-1361) schrieb über ihn:

Er sprach nach der Ewigkeit und ihr nehmt es nach der Zeit

Diese »Zeitigung des Ewigen« erlebt jeder Mensch, immer wieder in seinem Leben. Zuerst zeigt er, sich selbst gegenüber, Bereitschaft, sich von Gewesenem zu lösen. Das setzt aber eine temporäre Abgeschiedenheit voraus, die aber keinen Zwang darstellen darf, sondern einen freiwilligen Rückzug, voll Gelassenheit und Annehmen des Seins, wie es eben gerade ist.

Nicht zu vermeiden ist der Schmerz, denn jeden Wachstumsprozess begleiten bekanntlich individuelle Leiden. Und zwar so lange, bis von allem Unbrauchbaren abgelassen wurde, alte Verkrustungen abgeworfen und aus den Schalen alter Ängste entledigt, ein Mensch das Wesentliche im eigenen Leben erhält. Erst dann kann er in ein neues Leben »geboren werden«, durch eine Transformation, wo er vom Dunkel zurück ins Licht schreitet. Dann erlangt er eine Fruchtbarkeit, aus der Neues hervorgeht und sich die Wirkungen des Handelns auf erwünschte Art und auch zum Wohle anderer manifestieren: Voraussetzung für jeden Erfolg im Leben.

Niemals aber behauptete Meister Eckhart, seine Schriften und predigten könnten jedem Sucher tatsächlich den Weg zu Gott weisen – weniger noch wolle er das!

Es gibt keine Anleitung zur Erkenntnis, zur Erleuchtung und weniger noch zum Gottfinden. Vielmehr lag ihm daran, den Zuhörern und Lesern seiner Predigten und Traktate, zum Durchbruch zu verhelfen, das heißt, jemandem, der einen langen Weg der Selbstfindung hinter sich hat, zur Entscheidung zu verhelfen. Es lag ihm aber daran, die Menschen aus dem Starrsinn ihres Alltagsbewusstseins hinauszustoßen.

Meister Eckhart wollte das Wesentliche im Menschen in eine Welt des freien Geistes entbinden, auf das jemand zu einem tätig-nützlichen Diener der Gemeinschaft werde.

Das alles war, in unbeirrbarer, leidenschaftlicher Entschlossenheit, Meister Eckharts beständiges Bemühen.

 


 

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Die deutsche Prophetin vom Rupertsberg

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Für ein Neues Bewusstsein

Hildegard von Bingen - ewigeweisheit.de

Den mystischen Schriften der Hildegard von Bingen wird nachgesagt, das Herz ihrer Leser zu erheben. Man erfahre darin vom geheimen Wesen der Natur, über die Schöpfung und das wahre Wesen Gottes. Sie war eine Universalgelehrte und Seherin, Autorin, Komponistin und Mystikerin, die auf ihre Zeitgenossen großen Einfluss ausübte. Besonders wegen ihrer Heilkunde, ist die Hildegard auch heute noch vielen Menschen bekannt.

1098 wurde die Heilige Hildegard von Bingen in eine wohlhabende Familie geboren und wuchs auf in einem Landgut in der Nähe des rheinhessischen Alzey. Schon als Kind empfing sie Visionen und vernahm in sich, himmlischen Gesang. Doch diese Gesichte und Auditionen, gingen einher mit Schwächeanfällen und Krankheit. Mit niemandem ihrer Familie aber sprach sie darüber. Was sie sah, verheimlichte sie, soweit sie konnte.

Dementsprechend führt Gott, wenn er seinen Geist im Dienst von Prophetie, Weisheit oder Wundern in einen Menschen schickt, dessen Fleisch häufig aber nicht durch Schmerzen bindet, dann wendet es sich leicht weltlichem Wandel zu.

- Aus der Vita

In ihren Audiovisionen wurde sie durch die Krankheiten, die ihr Gott sandte, zur Veröffentlichung der empfangenen Offenbarungen quasi gezwungen, wie Hildegard schrieb. Ihre »Schmerzen« dabei, dienten Gott als Instrument, um Hildegard vor Überheblichkeit zu bewahren. Denn das Durchleiden von Schmerzen und Krankheit, wahrt die nötige Demut, um die göttliche Schau zu vernehmen.

Gott wollte das arme Geschöpf, durch das er diese Schrift ausgegeben, mit dem Öle seiner Barmherzigkeit salben. Denn vom Tag ihrer Geburt ist sie in ein Netz von Schmerzen und Krankheiten verstrickt. Es gefiel jedoch dem Herrn noch nicht, dass sie aufgelöst werde, weil sie durch die Höhle ihrer Vernunft noch manche Geheimnisse schaut. Diese Schauung griff derartig ihre Gesundheit an, dass sie öfter vor Erschöpfung zusammenbrach. Darum ist sie auch in physischen Dingen wie ein Kind. Sie ist abhängig von der Inspiration des Heiligen Geistes, ist seine bestellte Dienerin.

- Aus dem Liber divinorum operum

Je feiner und zarter sich eben ein menschlicher Organismus zusammensetzt, um so leichter und intensiver kann er übernatürliche Anregungen empfangen. Nicht zufällig erfahren wir in der Geschichte der christlichen Mystik davon, dass fast alle auserwählten Seelen, die zu einer außergewöhnlich hohen Empfänglichkeit befähigt waren, schon durch ihre natürlichen, physiologischen Anlagen, dem leisesten Hauch übernatürlicher Einwirkung entsprachen. So konnten sie eben als Heilige, als Propheten Gottes, ihre Zeitgenossen und deren Nachfahren, von den empfangenen Weisheiten kosten lassen.

Das Hildegards Visionen und Auditionen, nichts Angedichtetes gewesen sein können, das belegt ihr außergewöhnliches Werk. Schließlich war sie ja nicht nur Verfasserin heiliger Texte und Gedichte, sondern komponierte einen bis dato nicht gewesenen Kirchengesang. Außerdem erfand sie eine komplett neue Heilkunde. Außergewöhnlich dabei ist, dass sie ihr riesiges Werk schuf, ohne jemals eine umfassende Bildung erfahren zu haben. Weder war sie früh geübt in der Schreibkunst, noch hatte sie eine Ausbildung als Komponistin wahrgenommen.

Wie man aus den Schriften des Zisterziensers Bernhards von Clairvaux erfährt, mit dem sie brieflichen und persönlichen Kontakt pflegte, grenzten Hildegards Begabungen recht an Wunder. Ein Hinweis auf ihre tatsächlich magere literarische Bildung ist, dass in ihren Schriften einfach Zitate fehlen, was wohl belegt, dass sie nie viel gelesen hat. Ihr Wissen ging also eigentlich nicht über das hinaus, was ihre Umgebung wusste. Was sie aber wusste, das erwarb sie in ihren Unterredungen und im Umgang mit den vielen gebildeten Theologen denen sie begegnet war.

Hildegards Erziehung

Bereits im Alter von acht Jahren, übergaben Hildebert und Mechthild von Bingen, ihre Tochter zur religiösen Erziehung an ihre Erzieherin Jutta von Spondheim (1092-1136). Mit zwölf Jahren bezog Hildegard das Benediktinerkloster Disibodenberg, bei Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz). Das Kloster war benannt nach dem irischen Einsiedlermönch, dem Heiligen Disibod, über den Hildegard später eine Biografie verfasste.

Der Heilige Disibod errichtete einst eine Mönchsklause, am Zusammenfluss von Nahe und Glan, auf dem Grund eines alten römischen Jupiter-Tempels. Dort sollte dereinst die 16-jährige Hildegard zur Nonne geweiht werden.

Nach dem Tod ihrer Meisterin Jutta von Spondheim wählten die Nonnen der Frauenklause des benediktinischen Klosters Disibodenberg, die Hildegard von Bingen zu ihrer neuen Meisterin. Doch es schien nicht alleine eine Abstimmung gewesen zu sein, als vielmehr eine göttliche Auserwählung, heißt es doch, dass die Lichtfunken ihres hohen Geistes, ein mystisches Zwielicht über ihre Gestalt ausgoss. Darin erkannten ihre Klosterschwestern den Segen Gottes, der auf der Hildegard ruhte.

Gotterleuchtung

Hildegards ausgeprägten visionären Fähigkeiten, entzündeten ihr Inneres mit dem Licht eines höheren Geistes. Die Menschen ihres Umfelds nahmen das auch wahr. Immer wieder schien sie in ein geheimnisvolles Ringen verstrickt, mit dem Geist Gottes. Weniger aber waren ihre mystischen Gesichte Kämpfe, als eher ein von innen her drängendes Vermächtnis, einer eigentlich noch höheren Aufgabe. Auf kurz oder lang nämlich, sollte in ihrem Wirken sich etwas entfalten, was schon ewig auf sein Erblühen wartete.

Als sie selbst noch ihrer Meisterin Jutta von Spondheim diente, hielt sie ihre visionäre Begabung zurück, vollkommen bescheiden und in ängstlicher Bemühung. Doch nun selbst zur neuen Meisterin ernannt, ereignete sich etwas, wodurch ihr anscheinend Prophetenrecht erteilt wurde. Im Alter von 42 Jahren, auf der Höhe ihres Lebens, erschien ihr ein himmlisches Licht, woraus eine Stimme zu ihr sprach:

Oh du gebrechliches Geschöpf, Staub von Staub, Asche von Asche, sprich und schreibe nicht nach menschlicher Rede, nicht nach menschlicher Einsicht, nicht nach menschlicher Darstellungsweise, sondern so, wie du es in Gott vernimmst, so wie der Schäler die Worte des Lehrers wiedergibt.

- Aus Scivias

Das Licht, das sie in diesem Moment durchflutete, glich einer Flammenzunge, die zwar nicht brannte, sie aber wärmte, wie die Strahlen der Sonne, die im Frühling die Natur zum Leben erweckt. In dieser Vision verspürte sie ihr Inneres erhellen, in einer solch wunderbaren Klarheit, dass sich ihr darin die höchsten Mysterien des Himmlischen offenbarten. Nicht etwa war das, was sie darin sah eine traumartige Einbildung und auch kein Produkt ihrer Phantasie, sondern ein seelischer Vorgang, der sich unabhängig von Gedanken und Sinneswahrnehmung vollzog.

In einem Brief an den Mönch Wibert von Gembloux (1125-1213), schrieb Hildegard über diese Erfahrung Folgendes:

Wie der Spiegel, der alles reflektiert, in einen Rahmen gefasst wird, so hat Gott die menschliche Vernunft in den Rahmen des Körpers eingeschlossen. Durch sie schaut der Mensch die Geheimnisse Gottes wie in einem Spiegel […] Von meiner Kindheit bis zu dieser Stunde, da ich über siebzig Jahre zähle, gewahre ich ununterbrochen jenes Licht in meinem Innersten. In diesem Licht erhebt sich meine Seele auf Gottes Geheiß zur Höhe des Himmels, in die Lüfte und zu den Wolken, zu den entferntesten Orten und ihren Bewohnern. Ich sehe alles bis ins Kleinste. Aber ich vernehme es nicht durch die fünf Sinne meines Körpers, ich erreiche es nicht durch intensive Gedankenarbeit, sondern alles steht klar vor meinem Geiste. Meine Augen sind offen, keine Ekstase umfängt mich. Ich schaue es Tag und Nacht, wachend und träumend, aber oft todkrank und sterbensmatt.

Das Licht, welches ich erblicke, ist an keinen Raum gebunden. Aber es ist heller als die Wolke, welche die Sonne trägt. Es hat weder Länge noch Breite noch Tiefe. Ich nenne es den 'Schatten des lebendigen Lichtes'. Wie Sonne, Mond und Sterne sich im Wasser spiegeln, so spiegelt sich in ihm Schrift und Wort, Tun und Lassen der Menschen. Was ich in diesem Lichte schaue, verstehe ich sofort und behalte es lange Zeit. Was ich aber nicht in diesem Lichte erkenne, bleibt mir fremd, da ich keine gelehrte Bildung besitze. Was ich in diesem Lichte sehe, höre oder schreibe, bringe ich in formlosen lateinischen Worten vor, so wie ich sie in der Vision vernehme. Ich schreibe nicht wie die Philosophen, meine Worte erklingen nicht wie die menschliche Stimme. Sie gleichen stattdessen einer zuckenden Flamme, einer Wolke die in klarer Luft schwebt.

Die Gestalt des Lichtes, umfasse ich so wenig, als ich die Sonnenkugel mit meiner Hand umspannen kann. Manchmal, jedoch nicht häufig, sehe ich in der Lichtwolke ein anderes helleres Licht, dass ich das 'lebendige Licht' nenne. Wann und wie ich es sehe, vermag ich nicht zu beschreiben. Aber wenn ich es schaue, dann entschwindet mir jede Trauer und jede Not. Dann fühle ich mich wieder jung und vergesse, dass ich eine alte Frau bin.

- Aus den Schriften der Hildegard von Bingen, herausgegeben von Jean-Baptiste Pitra

Von der Nonnenklause zum eigenen Kloster

Wegen Hildegards ungewöhnlichem Charisma, drängten immer mehr neue, adlige Jungfrauen in die Nonnenklause auf dem Disibodenberg. Von Jahr zu Jahr wurde die Unterkunft enger. Auch Umbauten und Erweiterungen der Klostergehöfte durch die Benediktiner, sollten nicht mehr ausreichen. Nur ärmlich erschien das Frauenklösterlein neben den Wohnstätten der Mönche.

Die Heilige Hildegard war aber von weit größerer Bedeutung, mehr als nur die Spitze eines Anhangs auf dem Kloster Disibodenberg. So beratschlagten die Nonnen über eine Verlegung des Klosters. Schließlich leuchtete der Hildegard in einer Vision, der Ort ihrer zukünftigen Heimat auf. Ehe aber die Meisterin ihren geistlichen Töchtern den Ort offenbarte, traf sie eine schwere Krankheit. Sie verlor ihr Augenlicht und verfiel in einen Zustand der Lähmung! Kaum aber hatte sie den Schwestern ihre Vision verkündet, konnte sie wieder sehen und die Lähmungserscheinungen lösten sich allmählich auf. Als Ort war ihr der Rupertsberg verheißen worden, an der Flussmündung der Nahe in den Rhein.

Hier sollte die Gründung ihres Frauenklosters Gestalt annehmen. Nach Hildegards Vorstellungen, wurde das Kloster dort gemäß eines Idealplans gebaut. Wegen seiner besonderen Bauweise, seiner Arbeits- und Wohnräume und dem fließenden Wasser, das dort zur Verfügung stand, war das Kloster Rupertsberg weit über seine Grenzen hinaus bekannt.

Klosterruine Rupertsberg - ewigeweisheit.de

Klosterruine Rupertsberg - Gemälde von Carl Woog

Politik einer Asketin

Grundsätzlich kann man in Hildegards Nachwirken erkennen, dass sie nicht allein durch ihr Sendungsbewusstsein die Geschicke der Kirche beeinflusste, sondern auch durch ihre gekonnte Selbstinszenierung – wie sonst auch hätten Kleriker, Bischöfe und sogar Päpste über sie gesprochen?

Doch auch wenn sie ihre persönlichen, spirituellen Erfahrungen von Gott empfing, bezog sie diese keineswegs nur auf sich selbst, noch behielt sie sie einfach nur für sich. Eher fühlte sie sich, ihrer Empfindung nach dazu berufen, ihre Mission an andere Menschen zu übermitteln und sie damit zu einem besseren Leben zu führen.

Doch wie auch ihr Zeitgenosse Bernhard von Clairvaux, ermahnte sie im 10. Jahrhundert den Klerus Verantwortung zu übernehmen, beim Kampf gegen die Sekte der Katharer. Auch hier wird deutlich, wie lang der Schatten der katholischen Kirche, seine Furchen in die damalige gnostische Bewegung Südfrankreichs riss. War es die Angst vor einem Machtverlust, dass die katholischen Kleriker dazu brachte, die in Europa so rasch wachsende katharische Bewegung ausrotten zu wollen? Oder waren hier noch subtilere Einflüsse zu Gange?

Die asketische Lebensweise der Katharer, die eigentlich dem Mönch- und Nonnentum sehr ähnelte, unterschied sich jedoch, durch einen Glauben wo Körper und Geist synonym begriffen wurden, als Manifestationen des Bösen zum Einen und des Göttlichen zum Anderen. So interpretierte man im Katharerglauben, oberflächlich betrachtet, als Böses auch die Schöpfung des menschlichen Leibes. In einem Dualismus dieser katharischen Theologie, wurzelte darum eine Ablehnung der Ehe und damit natürlich der Fortpflanzung. Die »Weltflucht der Katharer« stand entgegen dem Glauben, dass Jesu Christi in fleischlicher Menschwerdung, als Sohn Gottes auf Erden erschien.

Da die Katharer aber in so kurzer Zeit erheblichen Einfluss in Europa gewannen, wurden sie zur echten Gefahr für die Kirche. Es wurden also Gegenmaßnahmen eingeleitet und man bat die Hildegard von Bingen um Rat. Man verlangte von ihr sogar, den häretischen Katharismus auf ihren Predigtreisen anzuprangern, leugneten die Katharer doch die wichtigsten Dogmen des katholischen Christentums. Im 11. und 12. Jahrhundert schien sich in der damaligen, alten Welt, eine wesentliche Neuordnung zu vollziehen. Wer als Christ eine neue spirituelle Strömung in den Lauf der christlichen Geschichte einführen wollte, was für Hildegard von Bingen ja zutraf, der sah sich anscheinend gezwungen, allen anderen Glaubensbewegungen Einhalt zu gebieten, um die Ekklesia, die christliche Gemeinschaft, nach eigenen Vorstellungen zu formen und einen ganz eindeutigen Weg zu Gott zur Verfügung zu stellen.

Schwierig aus heutiger Sicht einzuordnen, was diese alten Vorstellungen von rechtem und unrechtem Gottesglauben prägte. Im Hochmittelalter wussten nur die Eingeweihten von anderen Völkern und Kulturen. So stand es einfach außer Frage, welche Lehren sich aus Weisheiten ziehen ließen, die einst jenseits der Grenzen des damals bekannten Morgenlands entstanden waren. Man wusste nicht von einer persischen Hochkultur, die damals der europäischen bei Weitem überlegen war.

Das war die Zeit, wo eben genau wegen des hohen Selbstbildes christlicher Heiliger, wie Hildegard von Bingen oder Bernhard von Clairvaux, man überhaupt erst jene Brücken baute, über die neues Wissen aus dem Orient nach Europa kommen und das hiesige Geistesdenken beflügeln sollte. Was in dieser Zeit des Übergangs jedoch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, mit diesem Bestreben einher ging, das steht auf einem anderen Blatt. Denn es ist klar, dass diese Vorgänge grausames Blutvergießen begleitete: die Kreuzzüge. In Westeuropa hinterließ das, aus heutiger Sicht betrachtet, bei immer mehr Menschen darum nichts als nur Zweifel oder sogar Abscheu, gegenüber der Institution Katholische Kirche.

Mystische Schriften

Es bleibt aber unbestritten, dass in den monastischen Schriften der Heiligen Hildegard, sich wahre Weisheit finden lässt. Ganz und gar noch unabhängig von orientalischem Einfluss, entfachten sie eine regelrechte Euphorie, im Kreise ihres Wirkens.

Im Alter von 43 Jahren, begann Hildegards literarisches Schaffen. Worüber sie schrieb, waren die in ihren Visionen empfangenen mystischen Erfahrungen. In Offenbarungen habe Gott sie beauftragt, ihre durch Vision und Audition empfangenen Eingebungen aufzuschreiben.

Voller Furcht und zitternd vor gespannter Aufmerksamkeit, blickte ich gebannt auf ein himmlisches Gesicht. Da sah ich plötzlich einen überhellen Glanz aus dem mir eine Stimme vom Himmel zurief: 'Du hinfälliger Mensch, du Asche, du Fäulnis von Fäulnis, sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst. Doch weil du furchtsam bis zum Reden, in deiner Einfalt die Offenbarung nicht auslegen kannst, und zu ungelehrt bist zum Schreiben, rede und schreibe darüber nicht nach Menschenart, nicht aus verstandesmäßiger menschlicher Erfindung heraus, oder in eigenwilliger menschlicher Gestaltung, sondern so, wie du es in himmlischen Wirklichkeiten in den Wundertaten Gottes siehst und hörst.'

- Aus Scivias

Die Heilige Hildegard war sehr bescheiden, verwies sie doch selbst immer wieder auf ihre fehlende Bildung und ihre schwächliche körperliche Konstitution. Ihre Weiblichkeit erschien ihr als Grund, sich stets selbst demütig erniedrigen zu wollen. Nur so nämlich glaubte sie dem allmächtigen Gott empfänglich dienen zu können.

Ihre visionären Offenbarungen, zeigten sich der Hildegard als »lebendiges Licht« (lat. lux uiuens), woraus ihr einer zurief – für sie, die Stimme Gottes. Was sie da vernahm schrieb sie nieder, woraus ihr erstes Werk entstand: »Sci vias Domini«, kurz »Scivias« – das Buch der Visionen. Sie verfasste es als Zeugnis ihrer von Gott eingegebenen Visionen, der den Gläubigen als geistlicher Wegweiser dienen sollte.

Aus dem offenen Himmel fuhr blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand. Es verbrannte nicht, war aber heiß, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen. Und plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung […]

- Aus Scivias

Da die Heilige Hildegard nun aber keine höhere Bildung besaß und ein, wollen wir sagen, »einfaches Gemüt«, schien sie diese »himmlische Stimme«, eben gerade deshalb auch auserwählt zu haben. Denn als Wort Gottes, konnte es sich nur in seiner vollen Reinheit offenbaren. Eine umfassende Bildung zu besitzen, geht wohl immer einher mit einer gewissen Voreingenommenheit, die einer »Prophetin«, wie man die Heilige Hildegard nennt, wohl eher geschadet hätte.

Das »feurige Licht«, über das Hildegard im Buch Scivias schreibt, ließ sie anschließend die vernommene Offenbarung verstehen, ohne dass sie sich das Verständnis hätte erschließen müssen, wie etwa durch die Bearbeitung der Texte. Der Sinn Gottes, hinter der »fleischlichen Sichtbarkeit« der Dinge, wurde von ihr durch »Hören und Sehen« erfasst. Ohne Auslegung der Verse der Heiligen Schrift, vermochte sie deren Bedeutung intuitiv zu erfassen.

In ihren Auditionen und Visionen aber, war sie stets bei klarem Verstand, das heißt, sie empfing die Offenbarungen nicht während eines »Anfalls«, in Trance oder in Ohnmacht. Was sie während ihrer »Gesichte« vernahm, erfolgte nicht in Form einer geistigen Entrückung. Sie fühlte sich vielmehr wachbewusst, ganz in den Dienst Gottes gestellt. Als sein Instrument, gab sie eben nur seine Offenbarungen prophetisch wieder.

Mutterschaft aus dem Geiste und dem Wasser - ewigeweisheit.de

Aus dem Scivias-Codex (um 1165): Mutterschaft aus dem Geiste und dem Wasser.

Adam und Eva als Wesen vollkommener Liebe

Im Mittelalter verstand man die Welt als Realität eines Mikrokosmos und Makrokosmos. In dieser Welt lebte der Mensch mit Leib und Seele, und stand in Verantwortung gegenüber der Gemeine, der Natur und dem was an Gottes Gnade ihm zu Gute kam.

Hildegard galten Adam und Eva als Wesen, die in vollkommenster Liebe füreinander und gleichberechtigt zusammenlebten und sich auf diese Weise auch vereinigten, ohne sich dabei durch rein körperliche Begierden zu »beschmutzen«. Vielmehr ging es ihnen um ihre Lebensentfaltung, die durch den andersgeschlechtlichen Partner überhaupt erst ermöglicht wurde. Denn als Mann und Frau, bildeten sie als erste Menschen, das Werk Gottes auf Erden. So hatte im Paradies ein Ideal geschlechtlichen Zusammenseins geherrscht.

Mann und Frau sind auf eine solche Weise miteinander vermischt, dass einer das Werk des anderen ist. Ohne die Frau könnte der Mann nicht Mann heißen, ohne Mann könnte die Frau nicht Frau genannt werden.

- Aus dem Liber divinorum operum

Doch schließlich wurde Eva durch den Teufel betrogen und damit von ihr die Sünde empfangen. Adam hatte ihr wie ein kleiner Junge vertraut und ebenfalls vom verbotenen Apfel gekostet. Damit war die Sünde auch auf die Fortpflanzung der ersten Menschen übergegangen. Hier sah Hildegard die grundsätzliche Last, die damit dem Menschengeschlecht aufgebürdet wurde.

So wie die Schlange des Teufels, die Eva verführte vom Baum der Erkenntnis zu schmausen, so war der Mensch von da an stets darauf aus nach Gründen zu suchen, seine Geilheit und sexuelle Lust anzuschirren. Denn der Teufel verleitete sie zur Befriedigung dieser Begierden. So waren Mann und Frau nicht mehr in vollkommener Liebe (Minne) verbunden, sondern brachen die Ehe und vereinigten sich geschlechtlich, nur zur reiner Lustausübung.

Doch darf der Mann vor den Jahren seiner Manneskraft seinen Samen nicht in unnützer Ausschweifung vergeuden. Es ist nämlich eine vom Teufel eingegebene Versuchung zur Sünde, wenn er in wollüstiger Begierde versucht, Samen auszustreuen, bevor dieser, Kraft seiner Glut und Hitze, in festerem Zustand vorhanden sein kann.

- Aus Scivias

Von Generation zu Generation und von Mensch zu Mensch, wurde diese »sündhafte Beschmutzung« weitergegeben.

Wer nun aber durch das Wort Christi seine reinigende Kraft empfange, dem böte sich Aussicht auf Reinigung von den Befleckungen des paradiesischen Sündenfalls und damit die Erlangung der Jungfräulichkeit all jener, die ihr Fleisch gereinigt haben. Denn durch Mariens jungfräuliche Empfängnis des göttlichen Wortes, statt durch männlichen Samen, war das Fleisch ihres Kindes unbefleckt und ebenso jungfräulich.

Emanzipation des Weiblichen

Augustinus von Hippo (354-430), lateinischer Kirchenlehrer der Spätantike, beschränkte die Möglichkeit weiblicher Selbstverwirklichung auf die Jungfräulichkeit, die Ehe und die Witwenschaft. In Mutter Maria sah Augustinus zwar die Vollendung des frommen Frauentypus, doch erscheint sie nie als eigenständige Persönlichkeit. Stets erfüllt sie das Leitbild einer dienenden Ehefrau und Mutter, was sie immer nur in Beziehung zu einem männlichen Partner befolgte: als jungfräuliche Gebärerin Jesu und untergeordnete Gattin Josefs. Weibliche Sexualität aber, war für Augustinus immer an die Sünde Evas geknüpft. Man warf ihm darum später vor, mitverantwortlich zu sein, für die Jahrhunderte anhaltende männliche Dominanz im christlichen Kulturkreis.

Auch wenn Hildegard von Bingen unter dem Einfluss der Moralvorstellungen des Augustinus stand, schien sie seiner eher frauenfeindlichen Tendenz entgegengewirkt zu haben. Sie rückte den weiblichen Körper in ein positiveres Licht, indem sie Evas Weiblichkeit in ein völlig neues Verhältnis zur Jungfräulichkeit Mariens stellte.

Hildegard sprach nicht Eva die Schuld dafür zu, dass das menschliche Fleisch durch den Sündenfall beschmutzt worden sei. Es war des Teufels List, durch die Eva betrogen, gegenüber Gott in Ungehorsam fiel. Sie stellte Maria und Eva nicht mehr einander entgegen, sondern sah Eva als in Maria enthalten, waren doch beide Urtypus der Mutterschaft: Eva als Mutter des Menschengeschlechts und Maria als Mutter des Erlösers des Menschengeschlechts.

Ein makelloser Spiegel Gottes

Für Hildegard wurde Eva von Gott erschaffen, als Spiegelgestalt, in der das gesamte Menschengeschlecht bereits latent vorhanden war. In Eva wurde es bereits vorbereitend versammelt. Dieses Attribut des göttlichen Spiegels, deutet ihre göttliche Zugewandtheit an. Inbegriff dieser Symbolik natürlich ist die Maria, als Spiegel der Jungfräulichkeit, für das göttliche Licht empfänglich.

Hildegard knüpfte nun an die Vorstellung der Empfänglichkeit Evas (irdisch) und Marias (himmlisch) eine dritte Form der Empfängnisbereitschaft: die Ekklesia – die Gemeinde der Gläubigen. Wenn sich nämlich die Menschen, als ebenso gereinigter Spiegel und in christlicher Gemeinschaft, als scheinbarer Mutterschoß dem Heiligen Geist hin öffnen, ließe sich ebenso in ihnen das Werk Gottes verwirklichen.

In ihrer Scivias stellte Hildegard die Ekklesia darum als riesengroße Frauengestalt dar. Doch weder hatte diese Beine noch Füße. Sie stand auf ihrem Rumpf vor dem Angesicht Gottes:

Ihr Leib war wie ein Netz von vielen Öffnungen durchbohrt, durch die eine große Menge Menschen ausgingen und eingingen. […] Und die Gestalt breitete ihren Glanz aus wie ein Gewand und sprach: 'Ich muss empfangen und gebären.'

- Aus dem Scivias

Durch die Taufe werden die Mitglieder der Gemeinschaft der Kirchengemeinde gereinigt und so auf die Jungfräulichkeit der Ekklesia vorbereitet. Die Aussage »Ich muss empfangen und gebären« verweist auf die Verbundenheit der Ekklesia zur Mutter Erde, wo die Kirche als lebendige Erde, fruchtbar und trächtig neue Gläubige hervorbringen kann.

Dafür stand bei Hildegard als Symbol der Mond. Denn sein Licht existiert nur durch das Licht der Sonne, für die im christlichen Glauben, die Erscheinung Christi steht. Seit uralter Zeit war der symbolische Mond daher Inbegriff des Vermittlers zwischen Himmlisch-Göttlichem (Sonne) und Irdisch-Weltlichem (Erde), da er das Licht von der Sonne empfangend, an die Erde weitergibt. Diese kosmischen Prinzipien, lassen sich ebenso übertragen auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, Adam und Eva, Christus und Kirche. So wie der Mond das Wasser der Erde lenkt, galt Hildegard die Kirche als Wasserspenderin und Mutter allen spirituellen Lebens, Mittlerin zwischen dem Licht Gottes und dem Individuum.

Das Wesen der Sonne nun, ist zu stark für den Einzelnen, denn wer sie direkt anblickt wird geblendet. Doch der Mond, als Spiegel und Mittler des Lichts der Sonne, kann betrachtet und »genossen« werden. Auf diese Weise mildere auch die Kirche die gleißenden Strahlen des Göttlichen, wenn sie diese als jungfräuliche Braut aufnimmt und zu den Gläubigen bringt. Durch den Ritus der Taufe nun, wird damit auch der Kirche, die Kraft des Gebärens gleichnishaft verliehen. Als geistige Mutter nämlich, verbindet sie sich mit Eva und Maria, als ihre symbolische Nachfahrin.

Die wahre Dreiheit in der wahren Einheit - ewigeweisheit.de

Aus dem Scivias-Codex (um 1165): Die wahre Dreiheit in der wahren Einheit.

Flüssiges Licht

Das Titelbild dieses Essays (siehe ganz oben) ist eine Miniatur aus dem »Liber divinorum operum« – Hildegards visionärer Schriftsammlung, »Buch der göttlichen Werke«. Darin sieht man in der Mitte Hildegard in der Situation des Empfangens einer Audiovision. Das von oben kommende, »flüssige Licht«, wie sie es nannte, manifestierte sich als Bild ihrer Vision in ihrem Körper, dass sie dann auf einer Wachstafel in Händen niederschrieb.

Neben ihr befindet sich die Nonne Richardis von Stade, zu der Hildegard ein besonders inniges Verhältnis hatte. Sie war die Augenzeugin Hildegards visionärer Momente. Was Hildegard aber auf ihrer Wachstafel aufzeichnete, wurde von dem Mönch Volmar auf Pergament schriftlich festgehalten. Nicht aber war ihr der Mönch übergeordnet, oder ließ seine eigenen Erkenntnisse oder Gedanken in die Niederschrift mit einfließen. Hildegard blieb alleinige Autorin aller ihrer Werke. Sie war die Lehrerin Volmars, der als ihr Sekretär fungierte und ihr half, den Schriftkorpus ihrer Visionen niederzuschreiben. Die Miniaturen in den Schriften der Hildegard von Bingen, sollten an ihre Offenbarungen erinnern und dem Leser als Inspirationsquelle dienen.

In seiner Hildegard-Biografie, der Vita S. Hildegardis virginis (Leben der Heiligen Jungfrau Hildegard) schrieb Theoderich von Echternacht:

Großartig ist auch dies und bewundernswert, dass sie das, was sie im Geist gehört und gesehen hat, in derselben Bedeutung und mit denselben Worten besinnen und klaren Sinnes eigenhändig schrieb und mündlich mitteilte, wobei sie mit einem einzigen zuverlässigen Mann als eingeweihtem Mitarbeiter zufrieden war, der es wagte, um Dienst der Klarheit der grammatischen Struktur, von der er selbst nichts verstand, Kasus (grammatischer Fall), Tempora (grammatische Zeitform) und Genera (grammatische Geschlechter) in Ordnung bringen, ohne aber ihrer Bedeutung ihrem Verständnis etwas hinzuzufügen oder fortzunehmen.

»Wisse die Wege des Herrn«

Wie Hildegard in ihrem Scivias andeutet, drängte sie Gott in 26 Visionen zum Schreiben. Daraus wurde noch zu ihren Lebzeiten im Kloster Rupertsberg eine Handschrift hergestellt, die wohl zu den schönsten Kodizes des 12. Jahrhunderts gehört.

Beschreibungen ihrer Visionen über Gott, die Engel, den Urzustand der Welt, Fall und Erlösung des Menschen, die Seele in ihren Kämpfen, Kirche, Eucharistie, Antichrist und Weltende, »reihen sich wie Perlen verschiedener Größe auf den Rosenkranz des Scivias«. So formulierte es der christliche Historiker Johannes May, in seiner 1911 erschienenen Hildegard-Biografie.

Als Wegweiser, lässt der Scivias inhaltlich keine Widersprüche zu. Darum beanspruchte Hildegard für sich, dass ihre göttlichen Visionen, konkrete Wahrheiten sind. Nicht mehr schüchtern wie einst, sondern mit einer gewissen Autorität, sprach sie von ihren Visionen:

  • Der Sohn ruht im Herzen des Vaters.
  • Ihn schmücken die sieben Gaben des Heiligen Geistes.
  • Er verkörpert die menschliche Schönheit.
  • Die Empfängnis des Menschen gilt als Schuld.
  • Durch die fünf Wunden Christi sind die fünf Sinne des Menschen geheiligt.
  • Maria heißt Morgenröte, da sie das lichterfüllte Blut des Erlösers in ihrem Schoße barg.

Doch außer diesen konkreten Einzelheiten, die wohl insbesondere für ihre monastischen und klerikalen Mitbrüder und Mitschwestern von Bedeutung gewesen sein dürften, besaß der Scivias Bedeutung als Wegweiser. Das galt auch für viele ihrer anderen Zeitgenossen, denn schon früh wurden Hildegards Visionen aus dem Scivias durch Abschriften verbreitet.

Ihre Visionen empfing sie, wie zuvor beschrieben, durch Belehrungen des »Lebendigen Lichts«. Diese lichthaften, inneren Erscheinungen, hatten sie Zeit ihres Wirkens nicht verlassen.

Dann sah ich ein außergewöhnlich helles Licht und in dem Licht die Gestalt eines Menschen, der die Farben eines Saphir besaß, aus dem herrlich brennendes, rotes Feuer strahlte. Und das helle Licht durchflutete all das rote Feuer und das rote Feuer, durch all das helle Licht und das helle Licht, sah man zusammen in der Gestalt des Menschen, so dass sie ein Licht mit einer Macht und Stärke waren. Und da sprach wieder das Lebendige Licht zu mir.

- Aus Scivias

Dieses »Lebendige Licht« natürlich, signalisiert das Göttliche. Und wenn von einem farbig leuchtenden Saphir die Rede war, so ist das de facto eine Metapher für den gottgesandten Christus. Die Röte jenes Lichts, das von ihm ausgeht, steht für das Feuer des Heiligen Geistes, durch den Maria jungfräulich empfangen, den »Sohn Gottes« Jesus Christus gebar.

Die sich gegenseitig durchflutenden Lichter und das rote Feuer, die eins sind, stehen für die Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist in Gott, als Einheit vollkommener Majestät.

Im Scivias schreibt Hildegard, wie sich ihr der Sinn hinter dem Geheimnis Gottes offenbarte. Damit ein Mensch versteht, worin die Vollkommenheit Gottes bestehe, bleibt der Ursprung Gottes im Verborgenen, was allerding auch bedeutet, dass es darin an nichts mangelt. Damit lassen sich alle nur erdenklichen Ströme geistiger Kraft empfangen. Wäre Gott nämlich nicht vollkommen, wäre wohl auch alles Geschaffene umsonst. In diesem Ideal des göttlichen Werkes, erkannte Hildegard den Erschaffer allen Seins.

Nonne und Heilige

Weltliches und Himmlisches waren für Hildegard keine Gegensätze. Wohl eben darum wusste sie das lichthafte Wirken Gottes zu erkennen, in allem Lebendigen, im Kosmos, in der Natur und im Menschen. Darum wohl gelang ihr als Dichterin, Komponistin und eine der bedeutendsten Universalgelehrten des Hochmittelalters, vielen Menschen die heilsame Kraft des Göttlichen zuzuführen. Durch ihre Schriften und Prophezeiungen wurde Hildegard von Bingen eine der bekanntesten christlichen Persönlichkeiten der Neuzeit. Ihr Einfluss war immens, stand sie doch in Briefwechsel mit Päpsten und Königen. Immer aber galt ihre Sorge auch den einfache Menschen und den Armen, die zu ihr kamen und bei ihr Rat und Hilfe fanden.

Hildegard starb am 17. September 1179.

Am 10. Mai 2012 sprach sie Papst Benedikt XVI. heilig.

 

 

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Eine Chimäre in der Geschichte der Mystik: Bernhard von Clairvaux

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

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Für ein Neues Bewusstsein

Bernhard von Clairvaux - ewigeweisheit.de

Um sich ein Bild zu machen, von dem französischen Mystiker und Heiligen Bernhard von Clairvaux, muss man ihn im geschichtlichen Kontext des 12. Jahrhunderts sehen. Europa befand sich damals in einer Phase gewaltiger Umbrüche. Wer in jenen Tagen an der Spitze der theologischen Geistesschulen stand, dessen Denken reflektierte unweigerlich die Verstimmtheit seiner Zeit.

Bernhard von Clairvaux setzte als Mönch und Prediger wichtige Zeichen, die auf die Geschicke der abendländischen Kultur direkten Einfluss ausübten. Viele schicksalhafte Fügungen, über die wir aus den Chroniken dieser Zeit erfahren, schienen auf sonderbare Weise mit Bernhard und den ihm nahestehenden Personen verquickt gewesen zu sein.

Es war die Zeit, als Nachrichten nach Europa kamen, über die Blüte einer fremden Hochkultur im Morgenland. Mathematik, Philosophie, Physik, Metaphysik, Medizin, Architektur und die schönen Künste, erlebten dort gerade ihr Goldenes Zeitalter und waren dem abendländischen Geistesleben in vielen Dingen überlegen. In Europa aber schien man davon nur zu ahnen – vielleicht aber auch nichts wissen zu wollen, denn die christlichen Heiligtümer von einst, bewachten jetzt die Fürsten jener unbekannten Religion, wo man angeblich einen Götzen Namens Mahomet anbetete. Das gemeine Volk wusste nicht, dass das kein falscher Gott, sondern der Prophet einer noch jungen Religion war, des Islam – in dem Juden und Christen das »Volk des Buches« genannt werden und die, wie auch Muslime, die spirituellen Nachkommen des Propheten Abraham sind. Sehr wahrscheinlich jedoch wusste Bernhard von Clairvaux sehr wohl wie es um diese Religion stand.

Zwischen Geistlichem und Weltlichem

Bernhard war ein frommer Mönch mit außergewöhnlichen spirituellen Fähigkeiten. Immer aber beschäftigten ihn auch weltliche Belange. Unzählige Widersprüche zankten offenbar im Verborgenen seiner Persönlichkeit. Als eigentlicher Verkünder des Friedens, führte er nicht nur die Christen seiner Zeit näher an ihren Glauben, sondern außerdem tausende Ritter, die wenn nötig, auch im Namen ihres Herrn sterben würden.

Bernhard wurde 1090 als Sohn burgundischer Adeliger geboren. Als er mit 22 Jahren seiner Familie erklärte Mönch zu werden, erstarrte sie in Fassungslosigkeit. Doch es kam noch besser, denn mit ihm zogen vier seiner Brüder ins nahegelegene Zisterzienserkloster Cîteaux ein. Auch viele seiner Freunde folgten ihm 1112 dorthin nach und wurden ebenfalls Mönche. Bernhard verstand es seine Mitmenschen ihrem wahren Wesen nach zu erkennen, sie so zu sehen wie sie wirklich sind, mit all ihren Anfälligkeiten und Versuchungen. Das schienen seine Zeitgenossen an ihm zu lieben und sich darum auch für seine spirituellen Ideen zu begeistern.

1115 entsandte der Abt des Klosters Cîteaux, Stephen Harding (1060-1134), Bernhard im Gefolge 12 anderer Mönche, nach Vallée d'Absinthe. Dort sollte er ein neues Kloster gründen, dem Bernhard den Namen Claire Vallée gab, woraus schließlich »Clairvaux« wurde.

Als Abt dieses neu gegründeten Klosters, verfasste Bernhard dort seine inspirierenden Schriften. Man könnte sagen, dass die Geschichte der Christlichen Mystik mit diesem Abt von Clairvaux begann. Seine persönliche Anziehungskraft, wegen der ihm schon seine Geschwister und Freunde gefolgt waren, sollte noch über größere Kreise hinweg wirken. Denn um den begnadeten Prediger von Clairvaux zu hören, besuchten Menschen aus ganz Europa sein Kloster. Wegen seiner bemerkenswerten Kenntnis der Heiligen Schrift, die er so wundervoll zu predigen vermochte, nennt man ihn auch den Doctor Mellifluus – den »honigfließenden Lehrer«.

Bernhard war im Stande auch die innere Bedeutung der Heiligen Schrift zu enthüllen, ihr Flügel zu verleihen und zum Leben zu erwecken. Er konnte auch in Anderen, die seine Predigten hörten oder lasen, ein wirkliches Empfinden der Bibeltexte entfachen. Doch dies gelang ihm nur, da das der echte Ausdruck seiner persönlichen Empfindung war – etwas, dass er an mystischer Erfahrung selbst erlebt hatte.

Im Mittelpunkt abendländischer Geisteskultur

Die Klöster Clairvaux und Cîteaux gediehen im 12. Jahrhundert zu einem spirituellen Zentrum, in dem die geistigen Kräfte des abendländischen Zeitalters zusammenliefen. Von hier aus prägte Bernhard von Clairvaux in seinem Wirken, ein halbes Jahrhundert europäischer Geschichte.

Sein gewaltiger Einfluss reichte in die Ränge des Vatikan und die Politik seiner Zeit. Er war Mentor von Päpsten und diente den Fürsten seines Landes als Berater. Aus dem Kreise seiner Familie stammte auch der Adlige Hugo von Payens (1070-1136) – der dann der erste Großmeister des Ordens der Templer sein sollte – für den Bernhard noch eine sehr wichtige Rolle spielte.

Die große Wirkung seiner spirituellen Betätigung, hinterlies ihre Spuren in den Gemütern ganz Europas. Dereinst sollte sogar der Papst ihn bitten, die Bildung eines der einflussreichsten Ritterorden der Geschichte voran zu treiben: Der Orden der Tempelritter. Seine Lobreden auf diesen christlichen Ritterorden und das Regelwerk das er für seine Mitglieder erschuf, sollte bald zum Ideal der abendländischen Aristokratie werden. Unter Bernhards Einfluss, gewannen die Templer immer mehr Mitglieder. Durch seine Predigt-Reisen rekrutierte er überall in Europa junge Adlige, die sich diesem neuartigen ritterlichen Mönchsorden anschlossen. Doch dazu später mehr.

Mystik des Heiligen Bernhard

Wenn man sich heute an Bernhard von Clairvaux erinnert, denkt man nicht zuerst an seine Kreuzzugspredigten, als eher an seine Spiritualität.

Bernhards Begabung als Mystiker war bemerkenswert. In 120 Predigten, die auch schriftlich niedergelegt wurden, schuf er einen Schriftkorpus, mit dem er die Angehörigen seines Ordens in das christliche Mysterium einweihte. Den wichtigster Teil seines Werkes bildet wohl das De Diligendo Deo – Über die Gottesliebe – und die Sermones super Cantica Canticorum – die Predigten über das Hohelied Salomos.

Seine Spiritualität stellte allerdings auch einen Gegenpol zur wissenschaftlichen Rationalität dar, die in der scholastischen Theologie, zu seiner Zeit viel Zustimmung fand.

Der Glaube der Frommen vertraut, er diskutiert nicht.

- Bernhard von Clairvaux

Statt das Wesen Gottes in einer Dialektik zu entzweien, versuchte Bernhard seinen Schülern das zu vermitteln, was man die Unio Mystica nennt, die mystische Liebesvereinigung der menschlichen Seele mit Gott. Dies gelang ihm in der sogenannten Brautmystik, die er aus den Versen des Hohelied Salomos entwickelte.

Für Bernhard bildete die menschliche Seele ein Ebenbild zu Gott. Dadurch war sie – und somit auch jeder Mensch – zur Unio Mystica mit Gott befähigt. Dank dieses angeborenen Seelenadels, bestand für jeden Menschen Zuversicht, durch seine Gottesliebe, den Wunsch nach Erlösung aus weltlichem Schmerz, letztendlich sich auch selbst erfüllen zu können.

Doch nicht jedem war diese hohe Form der Spiritualität zugänglich. Die in seinen Predigten verwendeten Gleichnisse, konnten darum den meisten seiner Zuhörer, nur eine erste Ahnung vom esoterischen Gehalt seiner Lehre vermitteln.

Hochzeit von Christus und der Kirche – ewigeweisheit.de

Die Mystische Hochzeit zwischen dem Christus und den Menschen der Gemeinde. Aus einem Buch des Herzogs von Berry (15. Jahrhundert).

Menschliche Seele - Göttliche Braut

In der wundervollen, liebeslyrischen Sprache des Hohelieds Salomos, erlebt der Leser einen erotischen Wechselgesang, wo es um die leidenschaftliche Hingabe eines Liebespaares geht: der jungen Königin von Saba und dem König Salomo. Der heilige Bernhard fand im Hohelied eine höhere Erzählebene, auf der er die ultimative Liebe zwischen Gott und seinem auserwählten Volk erfährt, was er letztendlich übertrug auf die Liebe zwischen Christus und seiner bräutlichen Kirchengemeinde.

Diese sogenannte Brautmystik, ist jedoch keineswegs nur allegorisch zu verstehen, sondern meint das betont körperbezogene Erleben des Lesers, während seiner Meditation über die Zeilen des Hohelieds. Es befähigt den Betenden, die darin verdichtete Weisheit in seinem Verstand so aufzunehmen, dass sie sich mit seinem emotionalen Empfinden auch tatsächlich begreifen lässt. Denn Bernhard galt Theologie nicht etwa nur als abstrakter Versuch die Wahrheit zu finden. Eher versuchte er durch seine Predigten tatsächlich seine Zuhörer auf einen spirituellen Pfad zu führen, wobei er durch seine mystische Sprache, in den Seelen aller Anwesenden, eine Liebe zu entfachen vermochte die ihnen gar das Empfinden einer heiligen Kommunion mit Gott vermittelte.

Inmitten seines Gebets träumt er (der Betende) von Gott. Was er da sieht ist (zwar nur) eine schummrige Spiegelung, kein Traumbild Auge in Auge. Doch selbst wenn es nur eine vage Ahnung ist, und kein echtes Sehen, vernimmt er den flüchtigen Anblick einer funkelnden Pracht vollkommenster Vorzüglichkeit, wobei er in Liebe entflammt und spricht: 'Von Herzen begehre ich dein des Nachts; dazu mit meinem Geist in mir wache ich früh zu dir (Jesaja 26:9).'

Eine Liebe wie diese ist voller Leidenschaft. Es ist eine Liebe, die die Freundin des Bräutigams wird, Liebe, die die treu ergebene und kluge Dienerin inspiriert, die der Herr für seine Familie (die Gemeinde der Kirche) bestimmt. […]

Letztendlich ist Gott selbst Liebe, und nichts Erschaffene kann befriedigen, den in Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen, außer dem, nur ein Gott der Liebe ist, der alleinig über allem Geschaffenen steht.

- Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied) 18:6

Wie die erotische Kraft eines sehnsüchtig Liebenden, schirrte er in Anderen eine Fähigkeit an, die sie zur spirituellen Reflexion führte. Immer schon war die erotische Allegorie ein Mittel der Initiation durch das Wort, was etwa auch im Buch Genesis erfolgte, wo spirituelles Erkennen und der Akt körperlicher Liebe, als synonyme Ausdrücke verwendet werden (Genesis 4:1).

Lectio Divina: Gebet in Meditation

Einer der rituellen Bestandteile des täglichen Klosterlebens ist die meditative Gebetspraxis. Mönche lesen dabei aufmerksam bestimmte Abschnitte aus der Bibel, worüber sie dann meditieren. Hierzu wählt ein Mönch einen bestimmten Vers aus der Heiligen Schrift, zum Beispiel einen Psalm, den er beständig wiederholt und leise vor sich hinmurmelt. Während dieses Lesens vernimmt der Betende das Wort Gottes, über das er dabei meditierend nachsinnt und aus dem gelesenen Bibelvers eine Antwort auf diese Anrede Gottes erhält.

Die Aufgabe der Mönche besteht nun darin, während ihrer geflüsterten Bibellektüre, dem Klang ihrer Stimme nachzuspüren. Damit machen sie aus der Heiligen Schrift etwas Lebendiges. In der Kontemplation über das biblische Wort, bewegt sich die Seele des Meditierenden dabei in geistigen Dialog mit Gott.

In dieser intensiven Beschäftigung mit den Versen der Heiligen Schrift, werden sich die Mönche der tieferen Bedeutung des Wortes gewahr. Allmählich beginnt der Betende, der im Bibelwort enthaltenen Weisheit voll bewusst zu werden, fängt an, eine Art Süße aus dem Text herauszulesen. Er beginnt sozusagen zu schmecken, was er in der Heiligen Schrift liest, löst er in seiner Lektüre der Zeilen doch ein Mysterium.

Zu lesen, bedeutet auch einer Spur zu folgen. Einer Spur folgt auch der Winzer beim Lesen der Trauben vom Rebstock. Auch die Bienen in den Weinbergen folgen ihren Spuren, wenn sie die Blüten beehren. Ihre Lust ist es deren Nektar auszulösen, während sie sie bestäubt, damit in Zukunft auch die Nachkommen ihres Volkes wieder blüten aufsuchen werden.

Ein »Honigsammler« war auch der Heilige Bernhard, der den Spuren der Wörter der Heiligen Schrift folgte. Immer wieder sucht er ihre Buchstaben auf, um die darin enthaltene Süße auszulesen.

So wie Speise dem Gaumen süß ist, so schmeckt der Gesang der Psalmen dem Herzen. Doch die Seele, die inniglich weise ist, darf nicht unterlassen, ihn (den Psalm) sozusagen mit den Zähnen der Einsicht zu zerkleinern, denn wenn sie ihn in einem Brocken herunterschlingt, würde der Gaumen um den köstlichen Wohlgeschmack betrogen werden, der süßer ist als Honig der aus der Wabe fließt. Drum lasst uns beim himmlischen Gastmahle mit den Aposteln Honigwaben darbringen, auf die Festtafel des Herrn. Denn so wie Honig aus der Wabe fließt, soll aus der Schrift Ehrerbietung fließen (Hohelied 4:10f). Sonst nämlich, wenn du die Schrift ohne die Würze des Geistes hinunterschlingst, bleiben da nur Buchstaben toter Schrift zurück.

- Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied) 7:5

Vom Schweigen über die Geheimnisse

Dem Heiligen Bernhard war bewusst, dass er in seinen Interpretationen gewiss Zurückhaltung wahren musste. Denn nicht jeder war mit dem angemessenen Bewusstsein ausgestattet, so großen spirituellen Themen wie der Heiligen Hochzeit, überhaupt gewachsen zu sein. Er wusste, dass das im Hohelied Salomos beschriebene Mysterium, durchaus vor Missverständnissen und Missdeutungen geschützt bleiben musste.

Bernhards in lateinischer Sprache verfassten Predigten über das Hohelied, waren nur jenen vorbehalten, die das nötige Bewusstsein besaßen, um seine Worte auch wirklich zu begreifen. Dazu gehörten wohl zuerst die Mönche des Klosters Clairvaux. Wen dann die Praxis der Lectio Divina, zu einem wahren spirituellen Leben befähigte, der brachte wohl auch die notwendige Verantwortung mit, die Bernhards Schriften ihren Lesern abverlangen.

Die Anweisungen, mit denen ich mich an euch wende, meine lieben Brüder, sollten sich von denen unterscheiden, die ich den Menschen in der Welt überliefere, zumindest die Art und Weise ist eine andere. Wer als Priester der Methode des Heiligen Paulus folgen will, gibt ihnen eher Milch zu trinken, als dass er ihnen feste Nahrung serviert (die sie nämlich nicht verdauen können) und serviert nahrhaftere Kost jenen, die spirituelle Erleuchtung erlangten: 'Und davon reden wir', so sprach er (der Heilige Paulus), 'auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen (1. Korinther 2:13).' Und wieder: 'Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen (1. Korinther 2:6)', in deren Gemeinschaft, davon bin ich überzeugt, man euch findet, es sei den, dass euere Studien der göttlichen Lehren nicht anhielten, euere Sinne verendet sind, und ihr Tag und Nacht im Sinnen über das Gesetz Gottes verbrachtet. Daher seid bereit dazu euch eher vom Brot zu nähren, als von der Milch. Salomon hat vortreffliches Brot für euch, dass gar köstlich ist. Es ist das Brot eines Buches, dass man das 'Hohelied' nennt. Lasst es uns brechen, wenn ich bitten darf, und so verkünden.

- Sermones super Cantica Canticorum (Predigten über das Hohelied) 1:1

Rosen vor die Säue – ewigeweisheit.de

Ausschnitt aus einem Gemälde Pieter Brueghel des Älteren: Die niederländischen Sprichwörter (1559). Hier wirft einer Rosen vor die Säue - verschwendet etwas Kostbares an Unwürdige.

Worauf sich Bernhard hier bezieht ist die Arkandisziplin: der Grundsatz, nur im Kreise Eingeweihter über Geheimnisse zu sprechen. Denn Esoterik darf nichts Profanes werden, nicht zu Allerweltlichem verkommen und

die Perlen nicht vor die Säue geworfen werden.

- Matthäus 7:6

Und doch kann der, der Geheimnisse durch Allegorien und Metaphern verkündet, sich einer möglichen Auskunft nicht ganz versagen. Doch was er weiß, sind die ihm gesetzten Grenzen, die ein Uneingeweihter nicht kennt. Der spricht was ihm sein Wunsch nach Wichtigkeit gebietet.

Auf der anderen Seite, ist die Wissbegierde der meisten Menschen doch eher oberflächlich. Ein Wissender sollte also zuerst versuchen, neugierige Fragen in ihrer Bedeutungslosigkeit zu entlarven. Denn je wissensdurstiger jemand auf esoterisches Wissen ist, desto mehr zeigt das seine spirituelle Unreife.

Jesus ließ die meisten Menschen über die Bedeutung seiner Gleichnisse im Unklaren. Nur im Kreise der Zwölf, machte er den Grund dafür bekannt:

Euch ist's gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Himmelreichs, diesen aber ist's nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht. Und an ihnen wird die Weissagung Jesajas erfüllt, die da sagt (Jesaja 6,9-10): 'Mit den Ohren werdet ihr hören und werdet nicht verstehen; und mit sehenden Augen werdet ihr sehen und werdet nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist verfettet, und mit ihren Ohren hören sie schwer, und ihre Augen haben sie geschlossen, auf dass sie nicht mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren, dass ich sie heile.' Aber selig sind eure Augen, dass sie sehen, und eure Ohren, dass sie hören.

- Matthäus 13:11-1

Es bedarf einer gewissen Seelenhygiene, die ein Mensch erst im Laufe seines Lebens entwickeln muss – vorausgesetzt, er befasste sich über lange Zeit damit, was seinem Seelenleben gut tut. Erst dann ist einer dazu befähigt, aus seinem esoterischen Wissen anderen mitzuteilen. Es kann einer eben nur so weit andere führen, wie er schon selbst fortgeschritten ist. Was darüber hinausgeht, ist gefährlich – besonders dann, wenn einer zur Masse spricht. Wer ohne die entsprechende Erfahrung über die Bedeutung der Geheimnisse spricht, setzt damit nicht unbedingt seine eigene, gewiss aber die Sicherheit anderer aufs Spiel.

Du könntest alle Geheimnisse kennen, du könntest die Größe der Erde kennen, die Höhen des Himmels und die Tiefen des Meeres: Doch wenn du dich selbst nicht kennst, würdest du jemandem gleichen, der ohne Fundamente eine Ruine, statt eines Gebäudes errichtete. Alles was du außerhalb deiner selbst aufrichtest, wird wie ein Staubhaufen sein, der dem Wind preisgegeben ist. Keiner ist also weise, der nicht über sich selbst Bescheid weiß. Ein Weiser wird in Weisheit über sich selbst informiert sein, und er trinkt auch als Erster aus der Quelle seiner eigenen Wasserfülle.

- De Consideratione (Über das Nachdenken) II:3:6

Das schrieb Bernhard circa 50 Jahre nach dem ersten Kreuzzug. Papst Urban II. jedoch schien solchen Nachdenkens zu entbehren, als er 1095 zum Ersten Kreuzzug aufrief. Denn was sich damit von Frankreich in Richtung Palästina aufmachte, war ein unorganisierter Mob, gemeinen, ungebildeten Volkes.
Bereits in Ostfrankreich kam es zu Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung. Solcher Art Pogrome zogen sich entlang der Kreuzfahrerroute bis in Heilige Land. Im syrischen Maarat an-Numan, sollte der Erste Kreuzzug seinen Höhepunkt an Grausamkeit annehmen, wo die barbarischen Kreuzfahrer in ihrer Hungersnot, sogenannte Ungläubige aufspießten und geröstet fraßen. Das berichtete der normannische Radulf von Caen (1080-1120) in seiner Kreuzfahrer-Chronik.

Ob der Heilige Bernhard von diesen Schreckenstaten wusste? Ignorierte er die Grausamkeiten und die unzähligen Menschen die auf dem Kreuzzug umkamen, auch die vielen Christen die aus Unwissenheit der Kreuzfahrer einen so erbärmlichen Tod fanden?

Abaelard und Heloise – ewigeweisheit.de

Abaelard und Heloise in einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert.

Wozu Bernhard außerdem fähig war

Die Äbtissin Heloise (1095-1164) vom französischen Frauenkloster Le Paraclet, könnte sehr wohl in Bernhards Werken und Wirken eine nicht unbedeutende Rolle eingenommen haben. Zu der nur fünf Jahre jüngeren Nonne, hatte Bernhard über lange Zeit Kontakt gepflegt und die beiden standen wohl auch in spirituellem Austausch.

Zwischen 1116-1118 traf Heloise den Mönch Pierre Abaelard (1079-1142). Er war zuerst ihr Lehrer, doch die beiden verliebten sich. Heloise wurde schwanger. Als Nonne aber war sie nun gezwungen ihr Kind im Geheimen zur Welt zu bringen. Abaelard wurde heftig bestraft. Viele Texte der Literatur des Hochmittelalters schrieben über diese verbotene, tragische Romanze.

In Briefen an Abaelard sprach Heloise interessanterweise auch das Hohelied Salomos an. Und da sie immer auch in Verbindung stand zu Bernhard von Clairvaux, liegt die Vermutung nahe, dass die Inspiration zu seinem Kommentar zum Hohelied, vielleicht auch mit ihr zu tun hatte. Dafür gibt es bisher keine genauen historischen Belege. Es bleibt also eine Vermutung. Bestätigt aber ist, dass Bernhard von der Liebesaffäre zwischen Heloise und Abaelard wusste. Doch nie sprach er darüber öffentlich.

Es scheint Bernhard aber gequält zu haben, von dieser Liebschaft zu wissen. Denn es war fast absurd, wie vehement er sich gegen die Lehren Peter Abaelards wandte. Der nämlich vertrat eine Philosophie der Vernunft, wo nicht-religiöse philosophische Techniken, zur Erklärung des Glaubensbegriffes zur Anwendung kamen. Das galt Bernhard als vollkommenes Absurdum. Denn jene mystische Liebe, die ein Gläubiger gegenüber Gott in der Unio Mystica erfährt, sei auch durch wissenschaftliches Hinterfragen nicht zu erklären. Abaelards Rationalismus und seine Mittel zur methodischen Wahrheitsfindung erschienen Bernhard darum einfach zwecklos. Für ihn war christlicher Glaube nur im Herzen zu erfahren. Bernhard glaubte, dass wer durch Verstandesdenken einen Beweis für die Existenz Gottes logisch herzuleiten gesuchte, nichts als nur den Teufel fand.

Bernhard erschien Abaelars Philosophie aber sogar als Angriff auf seinen christlichen Glauben. Und durch sein Drängen, verwarf die Katholische Kirche Abaelards Lehren sogar als Häresie, für die dieser vor dem Konzil von Sens (1141) der Ketzerei angeklagt wurde. Ein Gerücht behauptet, Bernhard hätte die Anwesenden trunken gemacht, um sie leichter zu ihrem Urteil gegen Abaelard zu bewegen. Schließlich verurteilte man Abaelard später zu einer Klosterhaft und ewigem Schweigen. Seine philosophischen Schriften wurden sogar öffentlich in Rom verbrannt!

Nach Abaelards Tod in 1142, führte Heloise als Äbtissin, noch für 20 Jahre das Kloster Paraclet. Trotz der Tragödie um Abaelard, hielt sie in dieser Zeit weiter Kontakt zu Bernhard von Clairvaux. Auf Heloisas Bitten hin wurde Abaelards Leichnam in ihr Kloster überführt, wo sie dann auf eigenen Wunsch, nach ihrem Tod neben Abaelard bestattet wurde.

Aufruf zum Zweiten Kreuzzug

Während all dieser Jahre schien das Heilige Land in sicherer Hand des dort residierenden christlichen Adels. Doch im Jahr 1144 wurde die Kreuzfahrerstadt Edessa erobert und fiel an die Türken. Der Emir Imad ad-Din Zengi (1087-1146) stürmte die Festungsstadt im Gefolge von 30.000 Soldaten. Er war der Legende nach ein Sohn der Markgräfin Ida von Österreich. Zengis Truppen mordeten alle Bewohner der Stadt in einem grausamen Gemetzel.

Die Nachricht von der Einnahme Edessas durch die Ungläubigen, zwang die Könige und Fürsten der anderen vier Kreuzfahrerstaaten (Königreich Jerusalem, Fürstentum Antiochia und die Grafschaft Tripolis) zum Handeln. Darum entsandte Prinz Raimund von Antiochien seinen Bischof Hugo von Jabala nach Rom, wo er 1145 Papst Eugen III. vom Fall Edessas berichtete. Einer der Anwesenden dabei war auch der deutsche Chronist Otto von Freising. Ihm erzählte Bischof Hugo in Gegenwart des Papstes, von einem nestorianischen Christen, der im fernen Osten als mächtiger Herrscher regiere: Priesterkönig Johannes von Indien. Er sollte ein Nachfahre eines der Heiligen drei Könige sein, der sich anscheinend mit einem riesigen Heer nach Jerusalem aufmachte, »vor nicht all zu langer Zeit« wie es hieß, um das Heilige Land vor der Hand der Ungläubigen zu erretten.

In diesem Jahr noch, rief Papst Eugen III. zum Zweiten Kreuzzug auf. Doch diesem Aufruf schienen nur wenige der europäischen Fürsten überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. Darum wandte er sich an Bernhard von Clairvaux, seinen einstigen Lehrer: Er sollte den Kreuzzug predigen. Das weltliche Gepränge am päpstlichen Hof und all die politischen Machenschaften des Vatikan waren Bernhard allerdings zutiefst zu wider. Es muss ihn dennoch gedrängt haben, seine geistlichen Nachkommen, vor einem aus der Ferne bedrohenden Unbekannten zu schützen – vor einem fremden Gottesglauben, von dem keiner ahnte, wofür er eigentlich stand. Und so wurde Bernhard von Clairvaux auf einmal zum Organ des Vatikan und zum Prediger eines weiteren Kreuzzugs berufen. Er sollte den Eifer einer neuen Ritterschaft anschirren, durch seine Predigten und die von ihm verordneten Ordensregeln.

Bernhard wandte sich mit seinen Predigten aber gezielt an den Adel, um eine Wiederholung eines neuen Volkskreuzzuges zu vermeiden. Auf den Ritter-Haudegen von einst, sollten nun Tugenden und christliche Pflichten angewendet werden, um aus diesen alten Kämpen des Ersten Kreuzzugs, nun wahre Edelleute zu machen. Vor allem aber, und das hatte es bisher nicht gegeben, sollte dieser neue Orden in sich Rittertum und Mönchtum vereinigen.

Aus den Kreisen der Aristokratie, rekrutierte Bernhard die Mitglieder dieses neuen geistlichen Ordens, der vermutlich von Mitgliedern seiner Familie 1118 in Jerusalem ins Leben gerufen wurde. Denn einer der neun Gründungsmitglieder war Andreas von Montbard (1103-1156), ein Onkel Bernhards.

Tempelritter – ewigeweisheit.de

Der Orden der Templer: Mönchsritterschaft der Katholischen Kirche.

Bernhard von Clairvaux: Mentor des Templerordens

Unter den Heimkehrern vom Ersten Kreuzzug befand sich der französische Adlige Hugo von Payens, den man in Frankreich als Helden feierte. Er sollte erster Großmeister einer Gruppe von Edelleuten sein, die sich als Wächter des Jerusalemer Tempelbergs, zu einem außergewöhnlichen Orden organisierten. Sie nannten sich die »Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem«.

Für diesen neu gegründeten Orden sollte Bernhard von Clairvaux schon bald eine ganz bedeutende Rolle spielen. Denn auf Bitten von Hugo von Payens, verfasste Bernhard seine berühmte Mahnrede an die Templer.

Es ist gut möglich, dass sich Bernhard und Hugo von Payens schon begegnet waren, als Bernhard noch ein Kind war. Denn sowohl die Gründungsmitglieder der Templer als auch Bernhard von Clairvaux, stammten aus den selben Kreisen des mittelalterlichen Adels in Frankreich.


Alles was Bernhard in seinem Leben tat, geschah immer aus vollem Herzen. Wenn er nun also den Zweiten Kreuzzug predigte, schwelgte er dabei in der selben christlichen Überzeugung, wie in seinen Predigten vor seinen Klostergenossen. Er meinte sogar, dass im Namen Christi zu töten, keine Sünde sei.

Vielleicht wäre ihm zuerst lieber gewesen, dass sich durch seine Predigten mehr Menschen einem christlichen Klosterleben verschrieben hätten, doch naheliegender schien ihm in dieser Zeit, jene Vereinigung von Mönch- und Rittertum, was er in seiner Mahnrede an den Orden der Templer addressierte:

Aber wenn beide Menschen (Mönch und Ritter) in einer Person, ein jeder sich kraftvoll mit dem Schwert umgürten […], wer würde einen solchen nicht aller Bewunderung für höchst würdig erachten, zumal es sich ja um Außergewöhnliches handelt? Ein solcher ist jedenfalls ein unerschrockener Ritter, allenthalben gefeit; er umgibt seinen Leib mit der Rüstung aus Eisen, seine Seele aber mit der des Glaubens. Da er nun durch beiderlei Waffen geschützt ist, fürchtet er weder Teufel noch Menschen. Nicht einmal vor dem Tode fürchtet sich der, der sich zu sterben sehnt. Denn was könnte der im Leben oder im Tode fürchten, dem Christus Leben und Sterben Gewinn ist? […] Schreitet also sicher voran, ihr Ritter, und vertreibt unerschrocken die Feinde des Kreuzes Christi in der Gewissheit, dass weder Tod noch Leben euch von der Liebe Gottes trennen kann, die sich in Christus Jesus offenbart. In jeder Gefahr wiederholt für euch das Wort: 'Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn (Römer 14:8)'

- Aus dem Buch an die Tempelritter von Bernhard an Clairvaux

Unter der Führung Bernhards von Clairvaux fand am 13. Januar 1129 die Synode von Troyes statt, bei der auch Hugo von Payens und Andreas von Montbard anwesend waren. Hierbei erhielt der Templerorden seine offizielle Anerkennung durch die Katholische Kirche und bekam feste Ordensregeln. Zu diesen Regeln lieferte Bernhard einen ganz wesentlichen Beitrag. In der damit verfassten Urkunde wurde auch explizit auf die Anwesenheit von Payens und Montbard hingewiesen.

Nach dem Aufruf zum Zweiten Kreuzzug durch Papst Eugen III. begann dann nach 1145 Bernhards kirchenpolitische Vermittlertätigkeit. Dank seiner Unterstützung bei der Rekrutierung neuer Mitglieder, wurde aus dem erst winzigen Templerorden von gerade mal neun Mitgliedern, in nur kurzer Zeit eine ganze Armee! Es dürfte darum kaum verwundern, dass das großes Gefallen fand – sowohl im Vatikan als auch im europäischen Adel.

Ein versiegeltes Geheimnis

Mit dem bisher Gesagten, scheint Bernhard weit mehr als nur Mönch gewesen zu sein. Fast könnte man ihn als Vorboten eines neuen Zeitalters bezeichnen. Dann aber war er sicher eine Doppelgestalt – ein Prophet sowohl des Lichts wie auch der Finsternis.

Diese chimärenhafte Erscheinung Bernhards und sein Einfluss auf den Templerorden, führte in zeitgenössischer Literatur auf eine Unmenge an Verschwörungstheorien. Doch zu solchen Vermutungen kommt ohnehin sehr schnell, wer von den vielen Querverbindungen zu Kirche, Adel und Mysteriengeschichte erfährt, die einem gemeinsam mit dem Namen »Templer« begegnen.

Das liegt wohl daran, dass der Einfluss der Templer über zwei Jahrhunderte eine ganz wesentliche Rolle spielte, in der spirituellen und politischen Entwicklung der damals bekannten Welt. Auch die vielen Widersprüche, für die der Templerorden steht, gab manchem Anlass viel über die Geheimnisse dieser Bruderschaft zu spekulieren.

Eines der wichtigsten Themen die einem bei der Recherche immer wieder begegnet, ist die Frage, ob die Kreuzzüge, neben ihrem offiziellen Grund, auch eine okkulte Bedeutung hatten. Weit verbreitet ist eine Annahme, dass diese »Arme Ritterschaft Christi« Ausgrabungen im Tempelberg durchführte, um nach etwas zu suchen, dass sich einst unter dem Salomonische Tempel befunden haben soll. Worum es sich dabei handelte ist nicht endgültig klar.

Wie uns aus den Büchern der hebräischen Bibel überliefert wurde, stand im Heiligtum des Salomonischen Tempels eine heilige Lade, worin sich besondere Gegenstände befanden. Sie soll die Israeliten einst mit großer Macht ausgestattet haben. Damit nämlich teilten sie das im Buch Exodus beschriebene Schilfmeer und ließen mit der Kraft die aus dieser Lade strömte, die Mauern von Jerichon einstürzen.

Von Jerusalem aus, so wollen es manche Schriftsteller, sollte die Lade dann von Hugo von Payens nach Chartres in Frankreich gebracht worden sein, wo sie im Fundament der dortigen, neu gebauten gotischen Kathedrale integriert wurde. Dazu sandte sie angeblich Bernhard von Clairvaux aus, um das heilige Reliquium aus dem Heiligen Land nach Frankreich zu bringen. Sicher aber sollten die Templer im Heiligen Land von den Muslimen überhaupt die Bildung erhalten, solch umfangreichen Unternehmens überhaupt fähig zu sein.

Das die Templer tatsächlich sehr mächtig waren, bleibt unbezweifelt. Schließlich gründet sich auf ihrem bargeldlosen Zahlungsverkehr das moderne Bankenwesen. Das machte sie zur reichsten Organisation der gesamten damals bekannten Welt. Ihr Einfluss und ihr Vermögen war so groß, dass manch Monarch ihren Besitz neidisch beäugte. Da sie außerdem im Geheimen Rituale praktizierten, die nicht dem Regelwerk der katholischen Kirche entsprach, sollte das jenen Neidern dienen, sie dereinst wegen ketzerischer Machenschaften zu überführen. In Wirklichkeit aber waren diese nur auf den Besitz der Templer aus.

Seltsam nun, dass dieser Order ja überhaupt nur entstand, da die Katholische Kirche ihren Gläubigen einen Pilgerweg ins heilige Land schaffen wollte, worauf sie von den Mitgliedern der Templer beschützt wurden.

Einer der Hauptgründe für spätere Ahndungen gegen den Orden, war ihre Verehrung für einen Kopf mir zwei Gesichtern: das Janushaupt. In diesem Symbol blicken zwei Gesichter sinnbildlich in die Vergangenheit und in die Zukunft. Daher auch der Name des Monats Januar, der ja mit dem neuen Jahr beginnt, wo um den Jahreswechsel, Menschen quasi gleichzeitig auf das vergangene und auf das neue Jahr schauen.

Das Janushaupt nannten die Templer anscheinend auch Baphomet – ein Name, mit dem heute eine ganz und gar zwielichtige, teuflische Gestalt assoziiert wird. Baphomet entspricht »dem Tier« aus der Offenbarung Johanni, einer Chimäre aus gehörntem Engel, Mensch, Ziege oder Steinbock. Anscheinend galt den Templern dieses Wesen, wie auch das Janushaupt, als esoterisches Symbol für den Dualismus aller Dinge in der Welt, die immer als gemeinsames Ganzes betrachtet werden sollten. Wohl nicht zufällig, ist der Ziegenfisch, den die moderne Astrologie den »Steinbock« nennt, jenes Tierkreiszeichen, durch das sich die Sonne eben genau durch den Jahreswechsel zwischen Ende Dezember und Anfang Januar bewegt.

Nun ist auch bekannt, dass sich mit weißer und schwarzer Magie auch König Salomon befasste – jener König und Prophet, dessen Hohelied ja auch den Bernhard von Clairvaux in seinen Predigten verzückte. Wie die »Arme Ritterschaft vom salomonischen Tempel«, war auch Salomon laut Bibelurkunde, der reichste Mann seiner Zeit. Darüber lesen wir in der Bibel, im Ersten Buch der Könige. Darin ist die Rede von Salomos Goldbesitz der durch eine eigenartige Zahl beziffert wird (1. Könige 10:14), auf die auch das Buch der Offenbarung des Johannes (Offenbarung 13:18) hinweist, wo sie sowohl die »Zahl eines Menschen«, wie auch die »Zahl eines Tieres« ist. Und dieses Tier eben scheint eigenartiger Weise, jenem, oben erwähnten Ziegenfisch verblüffend zu ähneln (Offenbarung 13:1).

Das solche Geheimnisse zu damaliger Zeit aber gegen die Templer verwendet wurden, wissen alle, die sich mit dem Ende dieser einstigen Mönchsritter befassen. Denn wie konnte es sein, dass ein Katholischer Ritterorden Christi, sich mit solchen Dingen beschäftigt? Nach außen hin waren sie die frommen Ritter Christi, doch im inneren Kreise vollzogen sie anscheinend genau das Gegenteil. Liegt hinter solchem Handeln ein höherer, okkulter Sinn?

Es scheint als wussten die Mitglieder des Templerordens ein Geheimnis in der Welt, dass den Gläubigen der weltlichen Christenheit nicht bekannt war. Sicher war es kein Zufall, wieso sich, schon in ihrer Erscheinung in der Geschichte, etwas abzeichnete, dass offensichtlich widersprüchlich war. Mindestens so widersprüchlich wie die Erscheinung Bernhards von Clairvaux – der als Abt die Liebe zu Gott predigte, dem Ritterorden der Templer aber überhaupt erst ermöglichte, so viele neue Mitglieder zu gewinnen, die auf einem neuen Kreuzzug im Namen Jesu Christi, vermeintlich Ungläubige im Heiligen Land töten sollten.

Anscheinend zeichnete sich der Templerorden aber eben genau durch solche Widersprüchlichkeiten aus. Denn um in den Orden aufgenommen zu werden, musste ein Ritter zuerst ein Armutsgelübde ablegen, doch schloss sich damit einem Orden an, der wegen seines immensen Reichtums berühmt war. Die Templer waren nach außen hin mit weltlichen Belangen beschäftigt, pflegten im Geheimen aber okkulte, diabolische Rituale. Sie waren zum einen asketische Mönche, zum anderen gehörten sie zu den gefürchtetsten Rittern ihrer Zeit.

Bernhard und auch die Tempelritter wussten anscheinend um Dinge, die dem Normalsterblichen nur schwer verdaulich sind. Nichteingeweihten bleiben sie bis heute ein Rätsel. Es wäre darum sehr unvorsichtig, vorschnell die Person des Bernhard von Clairvaux oder die Templer zu verurteilen – solange noch der eigene Wissenseifer, das Siegel Salomos verschlossen hält.

 

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Was bedeutet das Symbol von Rose und Kreuz?...

Autor und Mentor Selim Levent Oezkan - ewigeweisheit.de

von

Für ein Neues Bewusstsein

Rose und Kreuz sind die symbolischen Erkennungszeichen des Kabbalisten und Alchemisten Frater Christianus Rosencreutz (1378-1484). Er gilt als der höchste christlichen Eingeweihte und ist laut Legende, Begründer des mystischen Ordens der Rosenkreuzer. Der Titel "Rosenkreuzer" bezeichnet das esoterische Christentum.

Zwar war Christian Rosenkreuz nicht der Verfasser, wird aber in den drei wichtigsten, aus dem 17. Jhd. stammenden, rosenkreuzerischen Schriften erwähnt: im Rosenkreuzer-Manifest Fama Fraternitatis (1614), in der Confessio Fraternitatis (1615) und in der Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreuz (1616).

Damit wir aber unseren geliebten Vater Frater Christian Rosenkreuz nicht vergessen, ist der selbe nach vielen müheseligen Reisen und übel angelegten treuen Informationen, wiederum nach Deutschland gezogen, welches er herzlich lieb hatte, all da, ob wohl er mit seiner Kunst, besonders aber der transmutatione metallorum (Umwandlung der Metalle) wohl hätte können prahlen, ließ er ihm doch den Himmel und dessen Bürger, den Menschen viel höher angelegen sein

- Aus der Fama Fraternitatis

Die Legende sagt, Christian Rosenkreuz erfuhr von den esoterischen Weisheiten des Mittleren Ostens, der Türkei, Arabiens und aus dem alten Persien. Dort begegnete er großen Meistern, die wahrscheinlich Sufis waren, bestimmt auch zoroastrische Hohepriester. Seine Reisen unternahm er vielleicht Anfang des 15. Jhd. Als er nach Europa zurückkehrte, gründete er die Bruderschaft des Rosenkreuzes.

Christian Rosenkreuz ließ einen Tempel errichten, den er das Haus des Heiligen Geistes (Templum Sanctus Spiritus) nannte. 120 Jahre nach seinem Tod, soll ein Mitbruder des Rosenkreuzer-Ordens, dort den vollständig erhaltenen Leichnahm gefunden haben. Er befand sich in einem heptagonalen Raum, der von Christian Rosenkreuz selbst als Studienzimmer errichtet wurde.

In der Crypta des Sarkophags fand er einen geheimnisvoller Satz eingraviert:

Jesus mihi omnia, nequaquam vacuum, libertas evangelii, dei intacta gloria, legis jugum
Jesus bedeutet mir alles, niemals leer, die Freiheit des Evangeliums, die unberührte Herrlichkeit Gottes, Joch des Gesetzes

Das war wohl als Hinweis gemeint, dass der Erbauer des Raumes ein Christ gewesen war. Dieser Raum soll sich im Innern der Erde befinden, was gewiss auch an das Motto der Alchemisten erinnert:

Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem
Siehe in das Innere der geläuterten Erde, und du wirst den geheimen Stein finden, die wahre Medizin.

Johann Valentin Andrae – ewigeweisheit.de

Johann Valentin Andreae (1586-1654).

Symbol des Rosenkreuzes

Das Rosenkreuzertum ist wahrscheinlich älter als das Christentum und hatte seinen Ursprung womöglich schon im alten Ägypten.

Oft wird das Kreuz mit dem menschlichen Körper assoziiert. Die Rose steht für die persönliche Entfaltung eines höheren Bewusstseins. Meist aber stehen die Lehren des esoterischen Christentums im Vordergrund. Als wichtigste Schrift seien hier wohl zu nennen, die "Geheimen Figuren der Rosenkreuzer".

Ursprünglich zeigt dieses Symbol ein hölzernes, manchmal ein schwarzes oder auch ein goldenes Kreuz, an dem sich eine weiße oder eine rote Rose befindet. Dieses Symbol steht für die Lehren der esoterischen Traditionen des Westens, deren zentralen Grundsätze auf den Lehren des Christentum basieren.
Andere sagen, die Rose stehe für die Stille, während das Kreuz ein Symbol für die Erlösung ist. Diese Befreiung aus den irdischen Kreisläufen zu entrinnen, dem widmeten sich die Rosenkreuzer. Sie lehrten und lehren der Menschheit, die Liebe Gottes, wie auch die edle Gesinnung ihrer Bruderschaft.

Wieder anderen galt das Rosenkreuz als Symbol menschlicher Fortpflanzung, die aber nicht auf irdisch-materieller, sondern auf geistiger Ebene erfolgt: da ist die Rose weiblich, das Kreuz aber männlich. Und da Wiedergeburt der Schlüssel zur geistigen Existenz ist, führte das zum Symbolismus von Rose und Kreuz. Beide Symbole stehen zusammen für die Erlösung des Menschen durch die Vereinigung seiner niederen, zeitlich begrenzten Erscheinung und der höheren, ewigen Natur.

Robert Fludd: Dat Rosa Mel Apibus – ewigeweisheit.de

Dat Rosa Mel Apibus – Die Rose gibt den Bienen Honig. Zeichnung von Robert Fludd (1574-1637).

Ursprung des Geheimordens von Rose und Kreuz

Die Legende der Rosenkreuzer geht zurück auf den Theologen und Sozialreformator Johann Valentin Andreae (1586-1654). Aus seiner Feder stammte wohl auch die "Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz". Doch die darin gewiss angekündigte Reformation ist nicht tatsächlich als Programm zu verstehen.

Der eigentliche Geheimorden der Rosenkreuzer wurde aber bereits im 14. Jhd. gegründet, als ein Collegium mystischer Heiliger. Ursprünglich erwuchs der Geheimbund aus den esoterischen Traditionen des Westens. Für diese aus dem Verborgenen wirkenden Bruderschaft, steht der symbolische Name "Christian Rosenkreuz". Seine Erscheinung im Mittelalter, sollte eine neue Phase des Christentums einleiten. Schließlich entwickelten sich Kultur und Menschheit weiter - was für die Rosenkreuzer darum auch in der christlichen Religion zu einem Wechsel führen sollte. Zwar gibt es keine offensichtlichen Verbindungen zu Martin Luther oder Huldrych Zwingli, dennoch aber scheint dieser christliche Zeitgeist zur Reformation der Kirche, wenn auch indirekt, beigetragen zu haben.

Was meinet ihr nun, liebe Leute, und wie ist euch zumute, nachdem ihr nun versteht
und wisst, dass wir uns zu Christo rein und lauter bekennen, den Papst verdammen, der
wahren Philosophie zugetan sind, ein christlich Leben führen und zu unserer Gesellschaft
noch viele andere, denen eben dieses Licht von Gott auch erschienen, täglich berufen,
einladen und anbieten?

- Confessio Fraternitatis XIII

Es heißt, der Orden der Rosenkreuzer agierte seit Anfang der Renaissance aus dem Verborgenen. Unter ihnen waren einige Genies aus der westlichen Welt, von denen manche auch Verbindungen zu den Freimaurern pflegten. Jene edlen Geister waren Literaten, Kulturschaffende, Politiker, Religionsoberhäupter und bekannte Wissenschaftler.

Der berühmte Arzt Paracelsus (1493-1541), den man auch den "Luther der Medizin" nannte, bezeichnete die Rosenkreuzer als von Gott "verzückt" und so "begeistert" in den Himmel erhoben wurden, wo sich Christian Rosenkreuz angeblich bis zum heutigen Tag aufhält. Kein Irdischer wusste was aus ihm wurde - und doch sah man ihn auch auf Erden wandeln.

Ende des 18. Jhd. sagte der deutsche Mystiker Karl von Eckartshausen (1752-1803) folgendes, über die Adepten des Rosenkreuzes:

Diese kleine Gruppe Heiliger, sind Kinder des Lichts, die den Kräften der Finsternis entgegen stehen. Sie mögen keine Mystifizierung und Geheimnistuerei. Sie sind offen und direkt. Nichts haben sie zu schaffen mit Geheimgesellschaften und irgendwelchen äußeren Zeremonien. Sie haben einen spirituellen Tempel, worin Gott gegenwärtig ist.

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